Melt! Festival – „Ich bin immer wie ein Wahnsinniger über das Gelände gerannt, völlig rastlos von der Anreise bis zur Abreise“
Es ist sicherlich keine Übertreibung, das Melt!-Festival in Gräfenhainichen als Deutschlands tollstes Festival zu bezeichnen. Wobei ich dabei natürlich nicht ganz objektiv in meiner Einschätzung bin, gehörte ich selbst doch zehn Jahre lang zum Team hinter dem Festival. Das besondere am Melt! ist die natürliche Symbiose von Indie und Elektronischer Musik, die man sonst so nur noch auf dem Primavera Sound in Barcelona erfahren kann. Mit der Euphoriesierenden Folge, dass man in dem besonderen Ambiente eines ehemaligen Kohletagebau-Areals drei Tage und Nächte (fast) ohne Unterbrechungen verbrachte. Danach fuhr man erschöpft und doch energetisch aufgeladen wieder Heim und strich die Tage bis zum nächsten Melt!-Trip ab.
Stefan Lehmkuhl agierte von 2004 bis 2019 als Künstlerischer Leiter und Mitveranstalter des Melt!, seit diesem Jahr firmiert er „nur“ noch als Mitveranstalter – die Künstlerische Leitung hat er an Nina Nagele und Florian Czok weitergereicht.
Stefan, kannst du dich noch erinnern, wann du das erste Mal vom Melt! gehört hast?
Das muss so 2000 gewesen sein, als ich Termin-Redakteurs-Volontär beim Intro Magazin in Köln war. Ich habe die Termine für alle Festivals und Konzerte in eine HTML-Datenbank eingetippt – und da meldete sich auch jemand vom Melt!, um gelistet zu werden. Da habe ich das erstmalig auf Photos gesehen und dachte mir, dass das ja nett aussieht.
Wann bist du das erste Mal hingefahren?
Tatsächlich erst 2004 als ich das Festival zum ersten Mal mit veranstaltet habe. Ich hab das Festival nie gesehen ohne dass ich daran beteiligt gewesen wäre. Es gab aber Kollegen vom Festivalguide, die in den Jahren zuvor dort Stände gemacht haben, aber da war ich nie mit.
Das wusste ich ja gar nicht. ich dachte immer, dass dich die Vororterfahrung überzeugt hat, dass wir das machen und übernehmen müssten.
Nein, so war es tatsächlich nicht. Die Location habe ich mir natürlich angeschaut vor Ort, bevor wir entschieden haben mit einzusteigen. Aber das Festival im laufenden Betrieb habe ich vorher nie gesehen, nur Photos und Erste-Hand-Berichte.
Da du ja die treibende Kraft damals beim Einstieg von Intro beim Melt! warst, auf welcher Basis hast du das denn dann betrieben? Gelände plus köchelnden Publikum?
Ein bisschen so in der Art. Ich kannte den damaligen Mitveranstalter Jörg Friedrich nicht nur beruflich sondern auch privat – er war damals mit einer meiner besten Freundinnen liiert. Das war aber ein Zufall, dass das berufliche und private zusammen kamen.
Wir haben damals unsere Introducing Indoor-Festivals gemacht, mit wachsenden Erfolg kann man sagen: 2002, 2003. Das Magazin, das du ja damals verantwortet hast, wuchs damals ja auch noch. Mein Job war es über die Veranstaltungen Intro bekannter zu machen und das Magazin unter die Leute zu bringen. Wir waren mitten in der Konzeptionsphase die Introducing-Indoor-Festivals zu einem Open-Air zu verwandeln – das überschnitt sich mit einem Anruf von Jörg Friedrich, der mir mitteilte, dass er die Anzeige für 2003 stornieren muss, da das Melt! abgesagt wird. Dann habe ich mich nach den Hintergründen erkundigte und in dem Kontext davon erzählt, dass wir aktuell ein ähnliches Konzept umsetzen wollen.
Beim Melt! war ja damals das Besondere, dass es 2002 das erste Festival war, das Indie und Techno vermischte. Allerdings anders als wir dann: die hatten einen Tag Techno und einen Tag Bands – mit so typischen Intro Bands wie Blumfeld, Martin Bros und Zoot Woman. Eben so wie wir Intro als Genre-offenes Musikmagazin verstanden haben – das Magazin, in dem DJ Koze und Tocotronic gleichermaßen stattfanden. Also wollten wir das erste Festival veranstalten, dass die Genres ebenso vermischt. Das Melt! hat das schon ähnlich gemacht, aber eben nicht so konsequent durchmischt.
Durch die Absage des Melt!s für 2003 haben wir uns entschlossen unseren eigentlichen Location-Plan über den Haufen zu schmeißen und die Ideen auf das Melt! anzuwenden und da einzusteigen. Der Plan war gemeinsam mit dem Melt!-Gründern das Festival neu zu denken.
Als du dann das erste Mal auf dem Gelände gestanden hast, entsprach das deinen Erwartungen?
Das war der schlimmste Albtraum, den ich in meinem Leben erlebt habe. Dieser ganze Weg zum Festival hin war sehr holprig. Zunächst kam es gar nicht dazu, dass wir das Festival in der Konstellation durchgeführt haben, auf dem Weg dahin sind die Gründer wieder abgesprungen. Es war dann so, dass das Intro damals das Risiko allein übernommen hat. Wir haben zwar mit dem bisherigen Melt!-Team zusammengearbeitet, aber ein gemachtes Bett war das absolut nicht. Ich musste mich deswegen mit unwahrscheinlich vielen Sachen beschäftigen, die neu für mich waren – zum Glück kannte ich andere Veranstalter und die fähigen Leute aus dem Melt! Team, die ich fragen konnte. Das war ein sehr aufregender und aufreibender Weg.
Ich hatte ein Bild vom Melt! im Kopf, wie es sein sollte. Dafür war es auch gut, dass ich noch nie da war. Das habe ich immer als Vorteil empfunden. So konnte es unser eigenes Festival werden. Wir haben den Gründergeist adaptiert und weiter geführt.
Die früheren Veranstalter sind ja ausgestiegen wie du angesprochen hast, da sie auf dem Weg gesehen haben, dass das Festival nicht die Gewinnzone erreichen wird, um es mal dezent auszudrücken. Und so kam es dann ja auch: es dauerte 3 Jahre bis schwarze Zahlen geschrieben wurden. Denkst du denn, dass so eine Aufbaukurve von 5.000 auf 20.000 Zuschauer_innen unter den heutigen Bedingungen des Marktes noch möglich wär?
Ja, ich glaube das ist heute noch immer machbar. Das ist auch der normale Weg. Es war ein bisschen naiv von uns zu glauben, dass man sofort zumindest eine schwarze Null schreiben wird. Das Szenario, dass man Geld verlieren könnte, haben wir damals nicht mal besprochen. Ich hab ja seitdem einige weitere Festivals mit gestaltet und kommen und gehen gesehen – das Learning vom Melt!: wenn man ein Festival startet, holpert es die ersten Jahre. Erst dann wächst es generisch. Je nach den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, legt man fest, mit welcher Zuschauermenge man startet, ob mit 5.000 Leuten oder ob direkt – wie beispielsweise beim Lollapalooza – auf 50.000 abzielt, um von da weiter zu wachsen. Der Weg ist aber oft derselbe.
Ist die Kurve richtig beschrieben mit von 5 auf 8 auf 10 auf 15…?
Ja, es ging immer so in Dreierschritten höher – und irgendwann gab es dann mal einen großen Sprung.
Das geht ja einher mit mehr Bühnen, die dazu gekommen sind. Wie siehst du das rückblickend in Bezug auf die Stimmung auf dem Gelände? Was konnte da noch rausgekitzelt werden? Wie anders fühlte sich der Vibe dadurch an?
Jedes Jahr hat sich wie der natürliche nächste Schritt angefühlt. Es gab wenige Jahre, wo es sich so anfühlte, als ob es zu viel werden könnte. Wir haben das Gelände sanft der Nachfrage angepasst. Wir haben auch versucht, selbst das Gelände durch neue Akzente anders zu entdecken indem wir mehr aufgemacht haben, mehr gezeigt haben. Es sollte sich nicht zu voll anfühlen, durfte aber durch Erweiterung auch nicht zu leer wirken. Man hatte da eine Aufteilung der Leute im Kopf. Es sollte sich ja nicht alles auf eine Bühne konzentriert. Auch wenn es die Main Stage als Dorf-Treffpunkt für gewisse musikalische Highlights gab, hat es sich ja doch immer ganz gut auf die verschiedenen Bühnen verteilt.
Gehört das du den besonderen Talenten eines Festival Direktors und Festival Bookers, das man ein Gespür dafür hat, welche Bands miteinander gut colorieren. Denn es ist ja für die Flusserzählung eines Festivals enorm wichtig, dass nicht zwei Bühnen total leer sind, da alle zu der einen hin rennen.
Ja. Das ist der Unterschied zwischen einen kuratierten Lineup versus einem Wir-bringen-einen-Act-nach-dem-Anderen-Lineup. Ich habe mir immer den Gang des Besuchers vorgestellt, wie dieser sich von einer Bühne zur nächsten bewegt, in welcher Abfolge er Musik erlebt. Wie bei einer Playlist – zu welcher Uhrzeit und bei welchen Licht des Tages und bei welchen Setting will man das selber sehen. Gerade bei wachsenden Veranstaltungen ist es wichtig, dass der Festivalkurator sich auch Gedanken darüber macht, wie sich die Menschen bewegen. Das ist eine Safety-Sache. Wenn man nicht aufpasst und die Kapazitäten der Bühnen im Blick bewahrt, dann läuft man Gefahr, dass bestimmte zu voll oder auch zu leer sind und Menschen sich ungünstig begegnen. Man stellt die Leute vor zu schwere Entscheidungen.
Ich habe immer verschiedene Festivalcharaktere mit unterschiedlichen Musikgeschmäckern im Hinterkopf gehabt, die jeweils einen anderen Weg auf dem Gelände gehen und das Festival anders erleben.
Hast du dir denn den Wahnsinn gegeben und versucht alle Künstler_innen zumindest kurz zu sehen?
Tatsächlich ja. Ich bin immer wie ein Wahnsinniger über das Gelände gerannt, völlig rastlos von der Anreise bis zur Abreise. Ich wollte alles sehen – nicht nur die Bands, auch wie die Leute ankommen, wie sie aussehen, wann sie aufstehen, wann sie ins Bett gehen, wie sie auf die Bands reagieren. Ich konnte aber trotzdem nicht alles sehen, und wenn dann nur für fünf bis zehn Minuten.
Das ist ja eine Art Sozialstudie, wenn man all diese Details beobachtet. Was hast du über die Festivalbesucher_innen gelernt, und wie hat sich über die Jahre das Bild von den Besucher_innen verändert? Es haben da ja Generationswechsel stattgefunden.
Heute macht man das mit Markendiamanten und Zielgruppendefinitionen, auch bei uns in der Firma. Das haben wir damals ja alles gar nicht gemacht, das war Bauchgefühl: Was für Musik wollen wir selber?
Mit wir meine ich, dass damals ja beim Booking auch noch viel die Intro Redaktion oder andere Leute aus der Indie-Alternative-und-Techno-Blase, die einen spezifischen Musikgeschmack hatten, mitgewirkt haben. So konnten wir uns vorstellen, wie das ankommt. Das hat sich total verändert. Interessanterweise aber nicht der Altersdurchschnitt, der liegt immer noch so ungefähr bei 23 Jahren. Was heute für Festivals gar nicht so jung ist, sondern am oberen Rand. Aber die Besucher_innen sind gleich alt geblieben – das sind ja nicht die gleichen, die immer wieder gekommen sind, sondern andere, die davon gehört haben. Dadurch hat sich das Publikum gewandelt.
Ich habe neulich mal wieder ein paar alte Videos geguckt. Die ersten Ausgaben waren noch die sympathischen Indie-Typen, die man sowohl auf dem Immergut oder Haldern damals gesehen hätte, dann aber auch auf Technopartys in Berlin und Köln. Ein bisschen jünger und stylischer vielleicht … heute würde man sagen First Adapter, Opinion Leader, Leute, die sich wirklich für Musik und die ganze Kultur, die da dran hängt, interessieren. Das Publikum ist mit der Zeit hedonistischer geworden, mit dem Erstarken von dem elektronischen Puls des Festivals. Es hat ja immer so hin und her geschwungen von starken Indiejahren mit Bloc Party und Oasis und The Rapture, die damals riesig groß waren, zu den eher elektronischen Jahren.
Ich kann mich erinnern, dass wir irgendwann zusammen saßen und du geklagt hast, dass mittlerweile die englischen Bands aus der dritten Reihe auch schon 50.000€ kosten und das gar nicht mehr klar geht. Hat diese Marktüberhitzung dafür gesorgt, dass das Festival elektronischer wurde. DJs sind ja noch immer etwas billiger als Bands, gerade abseits der Spitzen.
Schwierig zu erinnern. Es war immer viel Bauchgefühl dabei und gar nicht so sehr der Masterplan. Der Elektronische Herzschlag – wie ich es nenne –, der war beim Melt! immer schon da. Zumindest 50% des Festivalerlebnis vor Ort hat man immer mit Club-Open-Air-Feeling verbracht, es war nicht so, dass man permanent nur Bands gesehen hat. Aber ja, sicherlich, die ganze Branche hat sich gewandelt, jetzt nicht nur was die Gagen angeht. Indie war irgendwann überhitzt, aber es kam auch gar nicht mehr so viel von dem typischen Melt! Indie-Sound nach, diese tanzbaren Bands mit krassen Livevibe wie…
… Phoenix, Rapture, LCD Soundsystem …
… Bloc Party, Maximo Park – das waren so Acts, die sich aus meinem persönlichen Musikgeschmack heraus sehr gut mit Techno und House vertrugen; sowohl vom Publikum her als auch vom Vibe. Also hätte man immer wieder die gleichen Bands holen müssen – zur doppelten Gage wie vorher.
Da haben wir dann lieber geguckt, was jetzt das Neue ist in die Richtung: HipHop, EDM – es gab ja ein Jahr, da gab es das Wort EDM noch nicht, aber da haben Calvin Harris, deadmau5 und Zedd gespielt. Heute würde man denken, das sei das Parookaville, damals hatten die noch keine Masken auf, hatten keine LED Wände und bekamen vierstellige Gagen. Es war ein Genre, das man halt auch mal ausprobiert hat und dann wieder abgesprungen ist als es plötzlich EDM hieß.
Ich erinnere mich noch: deadmau5 war ja nicht unumstritten damals. Wobei man sagen muss, dein Team und du seid konsequent geblieben, habt eine gewisse ästhetische Grenzlinie nicht aus Marktüberlegungen überschritten. Du hast den Zeitgeist gespürt, es aber nicht gemacht.
Ja, wir haben es bewusst nicht gemacht. Wenn wir es gemacht hätten, dann wären wir heute mit 30.000 Tickets im Vorfeld immer im Januar ausverkauft. Aber wir haben es bewusst weggelassen als es zu cheesig wurde.
Stichwort Budgets. Ist der Anteil dessen, was man von den Einnahmen in Künstler_innen-Gagen investieren muss größer geworden über die Jahre? Wie verhalten sich Ticketpreise und Gagenbudgets in Relation heute zueinander im Vergleich zu den Nullerjahren.
Es ist alles hoch gegangen. Weil alles seit 15 Jahren ohne Ausnahme immer teurer wird. Immer teurer werden aber vor allem mit Abstand die Artist-Kosten. Das ist der größte Kostenfaktor für jene Festivals, die über das Lineup announcen und auch Tickets über das Lineup verkaufen. Acts in den Größenordnungen, wie wir sie in den Anfangsjahren hatten, die konnte sich das Festival irgendwann nicht mehr leisten. Wenn ich mir heute angucke, was wir 2006, 2007, 2008 für die Bands bezahlt haben, dann ist das wesentlich weniger als die Hälfte dessen, was man heute bezahlen müsste.
Gibt es sowas wie Loyalität? Also Bands, die sich an frühere Auftritte erinnern und Angebote weiter unter ihrem aktuellen Marktwert aus Freundschaft zum Melt! und auch zu dir durchwinken?
Ja, auf jeden Fall. Dass das Festival einen super Ruf unter Musiker_innen genießt, ist immer die einzige Chance für uns gewesen, bestimmte Künstler_innen zu bekommen. Die Leute wollen da spielen, sie freuen sich auf die Konstellation der Künstler vor Ort. Viele Bands spielen so unendlich viele Festivals im Sommer, das Melt! ist eines das ein bisschen vom Vibe hängen bleibt. Wobei sich das auch geändert hat. Die erfolgreichen Bands und DJs erleben die Festivals heute auch anders, da sie so so viele Shows wie möglich an einem Wochenende spielen wollen, um soviel Umsatz wie möglich zu generieren. Da bleibt das Erlebnis einen Extratag zu bleiben oder eine Nacht mitzufeiern und im Backstage Leute zu treffen auf der Strecke. Die Festivalbranche ist so groß geworden, ein riesen Business. Von daher hat die Loyalität oft ihre Grenzen. Aber wir sind dankbar dafür, dass wir in der Agentenwelt und der Künstlerwelt zumindest immer noch in Erwägung gezogen werden, wenn wir mit unseren verhältnismäßig schlechten Angeboten im europäischen und weltweiten Vergleich um die Ecke kommen.
Was natürlich auch traurig für die Künstler_innen ist. Wenn man früher kaputt ins Hotel beim Primavera oder Melt! gekommen ist und dabei über diverse Künstler_innen stolperte, dann konnte man spüren wie sehr sie das sich treiben lassen genießen – eben nicht immer nur „Dienst nach Vorschrift“, sondern auch mal loszulassen, eben so wie die Existenz als Musiker_in ja eigentlich auch intendiert ist.
Glaubst du das wird sich durch Corona nun auch ändern? Insofern als dass der Markt abkühlt? Alle, mit denen ich aus dem Elektronischen Musik Bereich aktuell spreche, gehen davon aus, dass die Gagen drastisch runter gehen werden. Siehst du das auch für den Bandsektor? Oder ist das nur die Perspektive der kleinen Clubs, die einfach nicht mehr können werden? Diverse Festivals stehen doch auch mit dem Rücken zur Wand – und wenn man weiß, dass das Festival eventuell insolvent geht, kann selbst der härteste britische Booker, der außer Geldscheinen nichts sieht, nicht so die Gage hoch treiben wie früher.
Als Veranstalter, der Gagen insbesondere im größeren Künstler_innen-Bereich als zu hoch empfindet – das würde ein Agent anders sehen –, habe ich schon die Hoffnung, dass sich das ein bisschen nach unten korrigiert. Das ist auch momentan der Trend. Ich wünsch das explizit nicht den kleineren DJs und Künstler_innen, die nicht Gagen weit über 10.000€ bekommen, um die mach ich mir da eher Sorgen, und da würde ich auch als Veranstalter nicht sagen, dass die nun die Misere ausbaden müssen, denn die hat es ja genauso bescheuert getroffen wie alle anderen auch.
Mein Mitleid hält sich bei den ganz großen Gagenbereichen in Grenzen, da bei denen die Gagen eine Unverhältnismäßigkeit angenommen haben, die auch anderen Künstler_innen nicht mehr darstellbar war. Wenn sich da was ändert und es die Leute trifft, die sowieso nur ihr starkes 2020 im nächsten nachholen werden, dann ist das auch nötig, dass man sich gegenseitig unterstützt und Verständnis für die anderen hat. Denn jeder große Künstler, der in den kommenden Jahren etwas auf Gagen verzichtet, der hilft ja nicht nur den Veranstaltern sondern eben auch den kleineren Künstler_innen, die dann ihre Auftrittsplattformen nicht verlieren. Es muss am Ende des Tages im Budget auch Geld für die kleineren Acts übrig blieben, es darf nicht alles an die Superstars gehen.
Versucht man bei einem Festival wie dem Melt! oder auch dem Lollapalooza die Gagen für das kommende Jahr noch nachträglich trotz existierender Verträge nach unten zu korrigieren? Auf dem kleineren Level findet das ja statt.
Die Verträge bei uns waren ja für dieses Jahr und nicht für nächstes Jahr! Das handelt jeder Veranstalter anders, aber viele, die ich kenne und auch wir selbst, haben nicht einfach das Festival von diesem Jahr ins nächste verschoben – das geht auch gar nicht. Wir haben geschaut, welche Künstler_innen wir nächstes Jahr wieder buchen werden und haben da teilweise Angebote gemacht, die niedriger ausgefallen sind als in diesem Jahr.
Aber es gibt auch den anderen Fall, Acts, die aus ihrer Sicht sagen, dass sie nächstes Jahr mehr Geld haben wollen. Was ich auch verstehen kann, wenn Acts in diesem Jahr sehr früh Festivals bestätigt und danach einen großen Wachstumsschub bekommen haben – wenn sie also wussten, dass sie dieses Jahr das Festival für eine viel zu kleine Gage gespielt hätten. Das kommt schon mal vor, dass ein Veranstalter Glück hat und so früh bucht. Den Deal wiederholen die natürlich nicht im nächsten Jahr.
Und genauso haben wir einige Künstler_innen nicht wieder gebucht; andere wiederum sind nicht verfügbar. Man kann das nicht einfach so in das nächste Jahr schieben und so tun, als ob nicht passiert wäre.
Zumal wir auch gar nicht wissen, wie es kommendes Jahr weitergeht. Wir werden sicherlich höhere Kosten für Sanitärauflagen haben: Desinfektionsmittel und so. Es wird im nächsten Jahr für alle Beteiligten, auch für die Künstler_innen, erstmal darum gehen, zu hoffen, dass die Leute noch Geld haben und bereit sind dieses auszugeben für Festivals und Konzerte. Da will man es nicht übertreiben und die Preise erhöhen, um die Leute zu verschrecken. Es wird länger als ein Jahr dauern bis sich alle erholt haben.
Ich möchte nochmals kurz zum Thema Besucher_innen-Struktur zurück gehen. Kannst du einschätzen, wie hoch der Anteil der Stammbesucher_innen liegt? Also jener Personen, die immer wieder kommen. In den starken Intro-Jahren kam es mir immer so vor, als ob er sehr hoch sei – aber das kann natürlich auch ein Eindruck unserer speziellen Branchenblase gewesen sein, verstärkt durch die treue Köln-Community, die jedes Jahr angereist ist.
Seitdem wir Daten beim Ticketkauf erheben, haben wir Einblicke gewonnen. Früher war das für mich auch so, dass ich oft an Stammbesucher_innen gedacht habe und mich fragte, wie die sich zurecht finden, wenn man was ändert. Irgendwann musste ich feststellen, dass ich darauf viel zu viel Rücksicht genommen habe, denn im Schnitt kommen die Leute nicht viel öfter als einmal. Es gibt natürlich Leute, die zwei- oder auch fünfmal kommen, aber man kann im Schnitt nicht mal sagen, dass jede Besucher_in zweimal kommt. Das ist auch das, was ich über die Jahre gelernt habe, was ein gesundes Festival ausmacht: Wenn keine Leute mehr nachkommen, dann hat man irgendwann ein Generationswechselproblem. Dem ist nicht so, wenn die, die nicht mehr kommen anderen erzählen, dass es total super war und die dann hinfahren. Ich werd immer misstrauisch wenn bei einem Festival 50% oder mehr wiederkehrende Besucher_innen sind. Besser und gesünder ist es, wenn 80% neue Leute kommen.
Du hast deine Rolle beim Melt! zuletzt aktiv gewählt verändert. Du bist nicht ganz ausgestiegen, hast deine Rolle aber umdefiniert. Inwieweit und warum?
Es war mir immer wichtig, Leute im Booking-Team zu haben, die am Zeitgeist nah dran sind. Weil mir schon mit 35 aufgefallen ist, dass ich nicht für immer und ewig komplett in allen Genres am Puls der Zeit sein kann. Früher habe ich wirklich vieles gebucht, was ich vorher selbst gesehen habe im Club und auf Partys. Ich war sehr viel unterwegs. Mit dem Älterwerden habe ich reagiert und Leute dazu geholt, die beispielsweise das Techno-Lineup gebucht haben oder mich im HipHop beraten habe. Ich habe nie für mich beansprucht, dass ich das Lineup komplett alleine entwickle oder die Acts gar alleine entdeckt habe. Ich habe mich immer mit einem Team umgeben, wo Einzelne explizit damit betreut waren, sich um Genres zu kümmern.
Und trotzdem habe ich lange auch schon gesagt, dass ich irgendwann die inhaltliche Verantwortung abgeben werde. Ich hab das unwahrscheinlich lange gemacht, mittlerweile über 15 Jahre. Ich kenne andere Festivalleiter, die es länger gemacht haben: 20 Jahre, manche gar 30 Jahre – das sind dann Festivals, die nicht so auf den Zeitgeist setzen wie es das Melt! schon immer getan hat. Ich fühle mich mit 40 zwar noch immer sehr nah dran am Zeitgeist, aber ich beanspruche nicht, dass ich das noch so gut beurteilen kann, wie die heute 23jährigen die Dinge sehen. Deswegen war es mir wichtig, auch im Sinne der Festivalbranche, da Platz für neue Leute zum Nachrutschen zu machen. Es ist ja nicht so, dass alle ihr eigenes Festival gründen können. Als Festivalbooker oder -kurator machst du entweder deine eigene Veranstaltung oder jemand wie ich macht mal Platz für die nächste Generation und steht dann weiter als Mentor, Sponsor oder Sparings-Partner zur Verfügung. Ich gebe weiterhin Rat und Tat mit rein. Am liebsten ist es mir so, dass die Leute mich als Mitbegründer des Festivals aus der Ursuppe bestimmte Sachen fragen, aber ich habe auch gelernt viel loszulassen, damit das Festival nochmal mit neuen Blick angegangen werden kann. Ich freue mich total, dass sich im Team über die letzten Jahre zwei Leute heraus kristallisiert haben, die sich jetzt eine Doppelspitze aus Art Direktion und Künstlerischer Leitung teilen: Florian Czok und Nina Nagele. Die beiden denken das Festival komplett neu und könnenes so weiterentwickeln.
Wobei sie sicherlich in diesem Jahr froh sein werden, das Backing von Euch Erfahrenen zu haben.
Das ist der Vorteil in unserer Konstellation: Sie sind beauftragt, sich um das Festival zu kümmern, müssen aber das finanzielle Risiko nicht tragen und sich auch nicht um den administrativen Kram kümmern. Sie können sich auf die Inhalte und Werte konzentrieren und um die Außenkommunikation kümmern. Das hätte ich mir in der Vergangenheit auch manchmal gewünscht.
Wir nutzen die Corona-Pause um das Melt! nochmals neu zu justieren. Wir haben aus verschiedenen Gründen den Termin gewechselt – das nächste Melt! findet nun vom 4. bis 6. Juni 2021 statt. So haben die beiden die Chance mit einem noch größeren Vorlauf als normal das Festival zu ihrer Version des Melt! zu machen.
Ich arbeite an vielen Festivals mittlerweile, aber das Melt! war immer das Festival, wo ich ganz ehrlich sagen kann: wenn ich privat auf ein Festival gehe, steht das Melt! an erster Stelle.
Der neue Termin ist das Primavera Wochenende, richtig?
Ja, leider – leider, da das Primavera mein zweitliebstes Festival ist. Was sich das aber auf das Lineup sicherlich sehr positiv auswirken wird. Wobei sie nicht vorhaben, die Größe des Primavera Festivals zu spiegeln, da sollte man keine falsche Erwartungshaltung haben.
Das wär Bühnentechnisch auch nicht so leicht umzusetzen. Dann müsste man ja rund um den See Bühnen bauen.
Ja – und auch budgetär.
Stefan, zum Schluss die natürlich super schwierige Frage nach dem einen Melt!-Moment, der für dich das Festival und was es dir bedeutet perfekt einfängt?
Ich habe mir neulich noch ein Video davon angeguckt: die Matinee-Show von Kings Of Convenience 2007 oder 2008. Die Leute kamen schon um 14 Uhr aufs Gelände, das ansonsten totenstill war. Es kamen viel mehr Leute, als ich gedacht hätte, es fühlte sich an, als ob alle schon da wären. Der ganze Platz war voll – und die beiden haben es geschafft mit ihren zwei Gitarren den ganzen Platz mit 7000 Leuten zum Tanzen zu bringen. Das war ein Gänsehautmoment. Das passte so gut zum Melt! – das waren zwei Gitarren, aber die Leute haben dazu getanzt wie im Club zu House Music. Die Stimmung war knisternd, einmalig.
Dann natürlich auch als ich bei Oasis auf der Bühne stehen musste, weil die Band es so gefordert hatte – einer der Veranstalter musste aus Sicherheitstechnischen Gründen neben ihnen auf der Bühne stehen. So kam ich in den Genuss, das Konzert intensiv an ihrer Seite zu erleben. Die Oasis Jacke habe ich immer noch.
Stefan, vielen Dank für das Gespräch.