Die Empathie-Maschine Kino

Berlinale Pressekonferenz mit Tilda Swinton (Photo: Christian Meyer-Pröpstl)
Was für ein Wechselbad der Gefühle: Während sich Berlin am Eröffnungsabend der 75- Berlinale in ein wunderschön verschneites Märchenland verwandelt, erschüttern ein Anschlag in München ganz Deutschland und ein Gespräch zwischen Trump und Putin ganz Europa. Der Schnee schmilzt kurz darauf, die anderen Themen begleiten das Festival weiter. Gewalt, Migration und politischer Populismus sind auch im Festival sehr präsent. Allerdings sind die Debatten in den Filmen meist weitsichtiger und tiefgehender geführt als in der Wirklichkeit.
Dass das Kino eine Empathie-Maschine ist, merkt man auf einem Festival noch viel deutlicher, wenn man an einem einzigen Tag in die Psyche von superreichen und megaarmen, von ganz jungen und sehr alten, von rechten und linken, von sensiblen und groben Menschen schlüpft.
Ein Einstieg mit Empathie war auch Tilda Swintons Auftritt bei der Eröffnung und in der am Tag darauf stattfindenden Pressekonferenz. Dort hat sie für Empathie geworben und für eine Zusammenarbeit, für Hoffnung und Frieden. Dass am Ende vor allem eine Sympathiebekundung des BDS in den Überschriften hängen blieb, ist zum Teil auch der Ökonomie der Medienwelt geschuldet.
Aber hier soll es um Filme gehen. 240 Filme laufen auf der diesjährigen Berlinale, die ihre 75. Ausgabe feiert und die erste der neuen Leitung unter Tricia Truttle ist. Einen deutlichen Stempel konnte sie dem Festival noch nicht aufdrücken, und die Beliebigkeit, mit der die Filme auf die einzelnen Sektionen verteilt sind, hat sich auch erhalten. Das gilt nicht zuletzt für den Wettbewerb, der eigentlich die Crème de la Crème des Weltkinos zeigen sollte. Trotzdem und auch, weil der Weg über die angebotenen Pressevorführungen als Akkreditierter meist der einfachste Weg ist, an Tickets zu kommen, geht es im folgenden vor allem um die Filme des Wettbewerbs.
Der startet am Freitagmorgen mit „Hot Milk“, dem Regiedebüt von Rebecca Lenkiewicz, die bislang als Drehbuchautorin gearbeitet hat (unter anderen für die Small Axe-Reihe oder Maria Schraders „She sais“). Hochkarätig besetzt mit Emma Mackay (bekannt unter anderen als Maeve aus der Serie „Sex Education“), Fiona Shaw als ihre Mutter (bekannt vor allem als Carolyn in der Serie „Killing Eve“) und Vicky Krieps („Der seidene Faden“), begleitet der Film die an den Rollstuhl gefesselte Rose, die zusammen mit ihrer Tochter auf Sofia einen letzten Versuch unternimmt, ihre mysteriöse Krankheit zu heilen. Das toxische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Tochter und Mutter ist schnell offensichtlich, in der deutschen Touristin Ingrid findet Sofia aber ein Ventil. Der Film leidet trotz der guten Darstellerinnen und des spannenden und angespannten Schauplatzes an einer Tonne psychologischen Gewichts, das auf allen lastet und am Ende nicht nur die Psyche der Figuren, sondern auch ihre Psychologie, also ihre Glaubwürdigkeit ramponiert.
Ein erstes Highlight kommt mit „Dreams“ von Michel Franco, dessen letzter Film „Memory“ gerade erst im Herbst 2024 in die deutschen Kinos kam. Auch in seinem neuen Film spielt Jessica Chastain wieder die Hauptrolle, daneben sehen wir den mexikanischen Ballett-Tänzer Isaac Hernández. Ein mexikanischer Migrant entkommt gerade noch der sengenden Hitze in einem Schleuser-LKWs, bevor er sehr schnell in einem High End-Haus in San Francisco landet. Fernando ist der Geliebte der superreichen Amerikanerin Jennifer ist, die eine Stiftung leitet. Das Szenario von Francos Film ist ins extreme Überzogen, die erwartbaren Geschlechterzuschreibungen verkehrt. Und trotzdem erzählt der Film mit seinen hochpolierten, lichten Bildern sehr viel Wahres über das Verhältnis von erster und sogenannter dritter Welt, von Arm und Reich und natürlich ganz konkret vom Thema Migration in den USA. Einen unangenehmen Twist hat der Film noch in der Hinterhand, so dass am Ende nicht die cleanen Bilder im Gedächtnis bleiben, sondern die schmutzigen Verhältnisse, die der Film abbildet.
Der Samstag bringt uns „Ari“ näher. Der angehende Grundschullehrer ist der Prüfung nicht gewachsen. Die Kinder bringt er nicht zur Ruhe, das Gedicht, das er behandeln will, fliegt weit über deren Lernlevel hinweg. Ari hat eine Krise und will die Ausbildung abbrechen. Sein Vater ist es endgültig leid und schmeisst ihn raus. Ähnlich wie in Virgine Despentes Romantrilogie „Vernon Subutex“ besucht Ari der Reihe nach Freunde, die er zuletzt vernachlässigt hatte, um eine Bleibe zu finden. Eine Arbeitsverweigererin, einen reich verheirateten Snob, einen alten Kumpel aus der Nachbarschaft. Durch diese schlicht, fast dakomentarisch gefilmten Treffen lernen wir Ari ein wenig kennen. Und da gibt es tatsächlich mehr zu entdecken als den überforderten Referendar. Ein kleiner, zarter Film von Léonor Serraille, der aber an einer konventionellen Auflösung ein wenig krankt.
Wie das auf so einem Festival üblich ist – je nach Filmauswahl des eigenen Streifzugs gehen die Filme auf Kollisionskurs. Von Ari zu Mickey fühlt sich an wie eine Reise von einem zum nächsten Planeten. Ist es auch. „Mickey 17“ ist der neue Film von Bong Joon-ho: Die Erde in der Zukunft: Mickey und sein Freund Berto haben Schuldner an ihren Fersen. Sie müssen fliehen und glücklicherweise startet gerade eine Expedition, um einen neuen Planeten zu kolonialisieren. Mickey meldet sich als sogenannter Expendable, ein Entbehrlicher. Die schlechte Nachricht: Er ist auf der Mission für alle riskanten Aktionen zuständig, die tödlich enden könnten. Die gute Nachricht: Dank eines Gedächtnisspeichers und eines Biodruckers wird er nach seinem Tod neu ausgedruckt und seine Gehirndaten hochgeladen. Nach einigen Toden gibt es plötzlich zwei Mickeys, und viele Probleme. Nach seinem Hit „Parasite“ fährt Bong Joon-ho mit einem tollen Robert Pattinson in einer Doppelrolle ein satirisches Weltraum-Spektakel auf, dass mit Marc Ruffalo als irrer Imperator an politischen Seitenhieben nicht geizt.
Im Spezial außer Konkurrenz läuft James Mangolds Dylan-Biopic „Like a complete Unknown“ mit Timothée Chalamet als Bob Dylan. Abgebildet wird die Zeitspanne zwischen 1961, wenn er nach New York kommt, und 1965, wenn er seine Gitarre einstöpselt und elektrisch wird. Nicht nur im Vergleich zum Dylan-Biopic „I’m not there“ von Todd Haynes, der in diesem Jahr Präsident der Wettbewerbs-Jury ist, ist Mangolds Biopic konventionell. Aber es macht großen Spaß, mit ihm in das liebevoll ausgestattete Greenwich Village der frühen 1960er Jahre einzutauchen, zwischen der eher konservativen Folkszene und den Beatniks, die alsbald in der Gegenkultur der Hippies explodieren wird. Es ist genau dieser Shift in Richtung Popkultur, den auch Dylan unter dem Einfluss der entstehenden Rockmusik und seiner Freundschaft zu den Beatles früh vollzieht – zum Leidwesen der Folkies, die ihn dafür als Judas beschimpfen. Timothée Chalamet, in Berlin gefeiert wie einst Dylan auf dem Neport Folk Festival, verkörpert den zunehmend selbstbewussten, aber auch stets verschlossenen Dylan sehr treffend. Unter diesen Eigenschaften hat nicht nur die Folkszene zu leiden, sondern auch die Frauen, mit denen er liiert ist – Suze Rotolo (im Film heißt sie Sylvie Russo, in Elle Fannings Spiel etwas auf traurige Blicke reduziert) und Joan Baez (Monica Barbaro), die eher Nebenrollen spielen. Und so ist der Film wie so viele Musikfilme eben auch ein Jungs-Film.
Ganz anders „Köln 75“. Auch ein Musikfilm, doch es geht weniger um den Musiker Keith Jarrett als um die Frau, die sein berühmtestes Konzert ermöglichte. Fast müsste man Mädchen statt Frau sagen. Vera Brandes wächst in einem gut betuchten, konservativen Elternhaus in Köln auf. Aber schon mit 15 Jahren zieht es sie in die Jazzclubs, wo sie mit ihrer kecken Art Ronnie Scott kennenlernt und kurz darauf Konzerte für ihn organisiert. Mit 16 Jahren organisiert sie die Konzertreihe „New Jazz in Cologne“, reist zu den vom deutschen Jazzpapst Joachim-Ernst Behrendt gegründeten Berliner Jazztagen, wo sie Miles Davis und Keith Jarrett, der in den frühen 70er Jahren mit Davis zusammengespielt hatte, live erlebt. Dann ergibt sich die Chance, in Köln für Jarrett ein Konzert zu organisieren. Auch wenn man durch das allseits bekannte Doppelalbum „The Köln Concert“ natürlich weiß, dass die Geschichte am Ende gut ausgegangen ist: Ido Fluks Umsetzung seines eigenen Drehbuchs baut zum Finale hin große Spannung auf.
Zu Beginn aber skizziert der Film die gesellschaftliche Stimmung Mitte der 1970er Jahre sehr genau: das gebrochene Verhältnis einer ganzen Generation zu den Eltern, vor allem den Vätern, die noch zur verhärmten Kriegsgeneration zählten; das aufbegehren der jungen Menschen, aber vor allem der jungen Frauen im Zuge des Feminismus, mit dem sie beginnen, sich gegen gesellschaftliche Rollen zu wehren und selbstbewusst Forderungen zu stellen; den Einfluss der Rockmusik, hier am Beispiel der Kölner Bands Floh de Cologne und ihrem theatral umgesetzten „Fließband-Baby“ und vor allem der wichtigsten Kölner Band überhaupt – Can (die hier sinnigerweise mit ihrer Filmmusik als Musik im Film vorkommen).
Vera Brandes steht für die junge Generation und für den Feminismus, nicht aber für die Rockmusik. Sie hat sich komplett dem Jazz verschrieben, für den sie große Risiken in Kauf nimmt. Es macht großen Spaß, Mala Emde als Brandes mit viel Verve durch die Szenerie wirbeln zu sehen. Brandes wird als (beinahe scheiternde) Heldin gefeiert – eine junge Frau, die sich gegen eine Männerwelt und die ältere Generation behauptet. Das inszeniert der Film mit guten Punchlines und gezielten Gags vor der in Bezug auf Mode und Mobiliar dankbaren historischen Kulisse der 1970er Jahre. Und zwischendrin gibt es auch noch launige Nachhilfe in Jazzgeschichte.
Der brasilianische Wettbewerbsbeitrag „The Blue Trail“ von Gabriel Mascaro ist im weiteren Sinn der zweite Science Fiction im Wettbewerb, könnte aber kaum unterschiedlicher zu „Mickey 17“ sein. Eigentlich sieht die Welt dort nicht sehr nach Zukunft aus. Alleine die Tatsache, dass Menschen ab einem bestimmten Alter in eine abgesonderte Kolonie zwangsumgesiedelt werden, damit sich die Jüngeren komplett auf die wirtschaftliche Produktivität ohne lästige Carearbeit für die Eltern konzentrieren können, zeugt von einem anderen System. Die Vormundschaft wird zugleich auf die erwachsenen Kinder übertragen. Tereza (Denise Weinberg) freut das alles nicht, vor allem weil gerade die Altersgrenze heruntergesetzt wurde und sie dadurch plötzlich auch weg muss. Vorher will sie aber einmal in ihrem Leben noch fliegen. Doch das ist gar nicht so einfach, wenn man ohne Erlaubnis der Kinder keine Tickets kaufen darf und sich sowieso die ganze Zeit verstecken muss. Auf ihrer abenteuerlichen Reise durch den Amazonas-Urwald trifft sie auf Randgestalten der Gesellschaft, die sich auf die ein oder andere Art in dieser Gesellschaft durchschlagen. Ein unaufgeregter, langsamer Film mit zartem Humor, der seiner Protagonistin ein Happy End beschert, das allerdings ein wenig wie ein Glückslos erscheint und am Ende keine soziale oder politische Komponente enthält. Das macht den Film sehr vage.
In die Vergangenheit geht es mit „La tour de Glace“ von Lucile Hadžihalilović. Die jugendliche Jeanne entflieht ihrem Bergdorf in die nahegelegene Stadt. Dort kommt sie Nachts in einer Lagerhalle unter. Am nächsten Morgen stellt sie fest, dass dort „Die Schneekönigin“ verfilmt wird. Hauptdarstellerin der Verfilmung ist die launische Diva Cristina (Marion Cotillard). Der in den frühen 1970er Jahren angesiedelte Film erzählt in sehr getragenem Tempo, wie sich Cristina langsam der jungen Ausreißerin annimmt und Jeanne zunehmend vereinnahmt. Sehr elegant verwebt der Film die reale Ebene mit den Dreharbeiten und Fantasien von Jeanne. Viel Style in dem neuen Film der Regisseurin, der die vage Story nicht immer trägt. August Diehl und Gaspar Noé, der ihr Lebensgefährte ist, haben kleine Nebenrollen.
Der deutsche Wettbewerbsbeitrag „Was Marielle weiß“ erzählt eine fantastische Geschichte im realistischen Mäntelchen: Nach einer Ohrfeige in der Schule erlebt die Protagonistin telepathisch alles, was ihre Eltern den ganzen Tag so machen. Erst glauben die an einen technischen Trick, aber schließlich wird ihnen klar, dass ihre Tochter nicht austrickst – und dass sie nun vor einigen Problemen stehen. Denn auch die Dummheiten – Flirtereien, Angebereien, Ehestreits, Sexthemen – sie kriegt das alles mit. Die Story birgt einige schöne Pointen, wenn sich die Eltern in Lügen verstricken, sich dann wiederum in honestly üben. Dass das Leben komplexer wird mit dem Erwachsenendasein und man sich in Widersprüchen befindet und dazu je nach Situation und Gemeinschaft unterschiedliche Rollen spielt, das Kind hingegen noch unverdorben ist … das kann aber doch nicht das Fazit sein? Der Film bietet einiges an Komik und Peinlichkeiten. Wäre er nicht TV-tauglich und mit entsättigten Farben in der immer gleichen kühlen modernen Wohnung als Spiegel der Seele der Eltern gedreht, hätte es eine lustige Satire sein können.
Machen wir noch einen Abstecher in die neu gegründete Sektion Perspectives – dem Debütspielfilm-Wettbewerb, der aus dem 2006 ins Leben gerufenen Preis Bester Erstlingsfilm der Berlinale hervorgegangen ist. Die Adaption von Lukas Rietzschels Roman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist ein Blick in die Welt von Kindern in Brandenburg in den Nullerjahren. Regisseurin Constanze Klaue begleitet die beiden Brüder Philipp und Tobi sowie die Eltern, Nachbarn und Freunde in kleinen Szenen, die elliptische vom Leben in der Peripherie erzählen, wo das Gymnasium weit und auch sonst unerreichbar erscheint, die Busse nur selten Fahren und Hakenkreuz-Graffiti an der Tagesordnung sind. Das ist wirklich depressing, in seiner Genauigkeit, die Klaue nicht nur der Romanvorlage sondern auch eigenen Erfahrungen entnimmt, aber auch sehr faszinierend. Die simple Rechnung, wer gesellschaftlich abgehängt ist wird Nazi, stört der Film in seinem Epilog glücklicherweise.
Das komplette Gegenteil: „How to be normal and the oddness of the other world“ ist in etwa so ausladend und komplex wie sein Titel. Die Protagonistin Pia ist in der Psychatrie, darf aber bald raus. Doch draußen erwartet sie wieder all das, was sie psychisch zerstört hat: die überbesorgten Eltern, die gescheiterte Liebe, die berufliche Orientierungslosigkeit. Florian Pochlatko Debüt ist ein wildes Karussell aus Drogentrip, psychotischen Schüben, Monsterfilm und Alltagsszenen und wird mit seiner erzählerischen wie visuellen Bandbreite zu einem überbordenden Spektakel, in dem nicht zuletzt Luisa-Céline Gaffron als Pia eine Tour de Force abliefert.
Die Berlinale Entdeckungstour geht im zweiten Teil weiter mit den nächsten Wettbewerbsfilmen …