“Sunshine Reggae auf Ibiza” (1984) – Nieder mit der Berlinale!
Die Berlinale ist im vollen Gange. Das heißt Stars en Masse, tolle Premierenfilme und Hauch Hollywood ziehen durch die Stadt an der Spree. Das heißt aber auch: Ein unüberschaubares Programm mit zahllosen Zelluloid-Diamanten, die man am liebsten alle sehen würde. Aber wenn der Filmfreund oder die Filmfreundin sich dann entschieden hat, sind oft schon die Karten vergriffen. Das rauschende Fest lässt stets gefrustete Filmfreaks zurück. Ein Gastbeitrag von Dr. Felipe Mainard.
Es lohnt sich daher immer, die ein oder andere filmische Perle wieder auszugraben, die nicht im Programm der Internationalen Filmfestspiele gezeigt wird. So kann man sich Stress ersparen und sich trotzdem ein großes Stück deutsches Kino genießen. Auch hier ist die Auswahl groß. Schauen sie doch einfach mal wieder den Klassiker „Sunshine Reggae auf Ibiza“ von 1984. Dieses Meisterwerk gibt es glücklicherweise vollständig auf YouTube.
Worum geht es? Dieser Autorenfilm ist das einfühlsame Portrait des norddeutschen Landbewohners Karl (Karl Dall), der vor Einsamkeit zu einem Starlett namens Linda Lou (Isa Haller) fast zergeht. 58-mal hat er nach eigenen Angaben an sie geschrieben – schließlich erwärmt die Sängerin sich und speist ihm mit einem Autogramm ab. Das Autogramm, ein kaltes Stück Papier, welches achtlos und lieblos hingeschmiert wurde, und nicht einmal von ihr selbst, wie sich später aufgeklärt. Linda bedeutet es nichts. Es ist lästiger Teil ihres Berufes in der Öffentlichkeit. Für den einsamen Karl hingegen bedeutet das Autogramm die Welt. Er fasst einen folgenschweren Entschluss und wagt den Schritt aus der Provinz ins Unbekannte. Nach Ibiza. Dort angekommen trifft er bald auf seine Linda und ihre Clique, mit der er im vermeidlichen Urlaubsparadies keine Erholung, sondern pures Chaos findet.
An dieser Stelle möchte ich jedoch meine kleine inhaltliche Einführung abrupt unterbrechen, um den Zuschauer*innen noch einen Anreiz zu geben, sich selbst ein Bild von dieser fesselnden Geschichte zu machen, um zugleich in die Analyse und die Wertung überzugehen.
Unbedarfte Zuschauer sehen in „Sunshine Reggae auf Ibiza“ einen für die damaligen Zeit typischen Rumpelfilm, dessen Hauptintention es wohl ist, vor einer Urlaubskulisse mit einer möglichst dünnen Story so viele nackte Brüste wie möglich zu zeigen. In der Tat erzeugt der Film stellenweise diesen Eindruck. Intelligent stellt er dem sich doch intellektuell überlegen fühlenden, selbsternannten Cineasten viele Fallen. Doch der Subtext ist eindeutig und zugleich komplex. Geradezu eine Kakophonie der Zwischentöne. Vieles kann hier nur angerissen werden. Alles Weitere wäre Stoff für ein umfassendes Werk. Auf die Gefahr der Eigenwerbung hin: Eine Anthologie ist bereits von mir in Planung.
Ein facettenreiches Meisterwerk, welches noch lange nicht zu Ende analysiert wurde
Ein derartiges Buch fehlt seit über 30 Jahren, denn „Sunshine Reggae auf Ibiza“ hat als umfassende Milieustudie unzählige Analyseansätze. Kaum ein Film der damaligen Zeit fängt die Stimmung der frühen Ära Kohl so umfassend ein. Außerdem wurde er nicht zufällig im Orwellschen Schicksalsjahr 1984 gedreht. All das und noch viel mehr verdient eine lange Analyse. Ich gehe in diesem Aufsatz lediglich auf zwei grundlegende Aspekte ein.
Zum einen das komplexe und vielschichtige Verhältnis zwischen Karl und Linda, welches zentrales Element des Filmes ist. So unterschiedlich sie auch sind, so sehr ähneln sie sich. Die Unterschiede liegen auf der Hand: Karl ist der einfache Bauer aus einer Welt ohne Glamour, Linda die erfolgreiche Schlagersängerin. Doch wer sich die Mühe einer genaueren Betrachtung macht, stellt schnell fest: Der Habitus der beiden gleicht sich bis ins Detail. Beide sind eher einfach strukturiert und auf der Suche. Einige Analytiker sind sogar der Ansicht, Karl und Linda seien ein und dieselbe Person und damit eine Symbiose. Manche hingegen verweisen auf die Namensgleichheit zwischen Karls Kuh Linda und seiner Angebeteten um daraus zu schlussfolgern, dass hier mit Tabuthemen wie Sodomie gespielt wird. Hier wird oft etwas überinterpretiert – auch um unredlicherweise mit steilen Thesen aufzufallen. Aber was stimmt ist, dass der Film in dieser Konstellation die immer noch bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Ständen deutlich aufzeigt und darauf aufmerksam macht, dass immer noch viele Ungleichheiten bestehen.
Dabei wird während des gesamten Films glücklicherweise niemals der Fehler begangen, dass sich beide aneinander annähern. Dies hätte den Film in eine kitschige Liebeskomödie abgleiten lassen. Das bleibt uns zum Glück erspart. Die dicke imaginäre Betonwand zwischen beiden bleibt bestehen. Karl kehrt am Ende gar zu „seiner“ Linda, der Kuh, zurück, wo er wohl auch hingehört, wie pessimistisch festgestellt wird. Kein Happy End.
Zurück bleibt der Zuschauer oder die Zuschauerin mit der bitteren aber realistischen Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft nach wie vor zutiefst in gespalten ist und wir niemals aus der feudalistischen Ständegesellschaft hinausgekommen sind. Nach dem Erscheinen des Films ist es nicht besser geworden. Im Gegenteil.
Es gibt noch einen weiteren politischen Faden, der sich durch den Film zieht.
Ein hochpolitischer Film in einer hochpolitischen Zeit
Zum anderen ist er ein zynischer Kommentar zur Spaß- und Verschwendungsgesellschaft, die zwar Zerstreuung, aber niemandem mehr eine Heimat bietet. Der Bauer Karl, der nach eigenen Angaben Norddeutschland nie verlassen hat, bewegt sich wie ein Fremdkörper in dieser Welt, die nicht seine ist. Sein Ostfriesland ist es aber auch nicht mehr. Er ist ein Wanderer zwischen den Welten. Heimatlos eben. Denn auch Ostfriesland ist es nicht mehr. Dies wird in zwei Momenten des Films gleich zu Beginn besonders deutlich: Zum einen an dem Schild „You are now leaving Ostfriesland“ (auf Englisch), welches gleichzeitig ein bitterböser Kommentar zum Teilung Deutschlands ist („you are now leaving the american sector“), zum anderen an Karls schwerhörigen Vater, der ihn sowohl im akustischen als auch übertragenen Sinne einfach nicht mehr versteht.
Das Entfremdung-Element tragen auch alle anderen Figuren mit sich. Diejenigen, die oft so leicht daher kommen, sind alle mit komplexen Problemen beladen und finden niemals Ruhe. Das Urlaubsparadies ist schlussendlich ein dystopischer Alptraum, in dem niemand die versprochene Entspannung findet. Im Gegenteil. Mit dem Motiv des „Urlaubs“ haben die Filmemacher den perfekten Aufhänger gewählt, um die Grausamkeit unserer Leistungs- und Konsumgesellschaft zu illustrieren.
Man merkt: „Sunshine Reggae auf Ibiza“ ist zu jeder Minute ein hochmoralischer und hochpolitischer Film. Die moralische Dimension kommt aber niemals mit dem Zeigefinger daher, sondern mit leisen Tönen. So zum Beispiel, wenn der naturbewusste Karl nicht mit dem Flugzeug und damit mit dem einfachsten Fortbewegungsmittel auf die Insel reist. Stattdessen bedient er sich, Fahrrad, Bahn und Schiff.
Abschließend möchte ich noch auf zwei Vorwürfe eingehen, die in der Fachwelt immer wieder gegenüber diesem Werk erhoben werden, die jedoch bei genauerer Analyse völlig unzutreffend sind.
Weder sexistisch noch kommerziell
Zunächst einmal der des Sexismus. Feministische Kritiker*innen werfen dem Film vor, er würde rückschrittliches Geschlechterbild transportieren, indem er Frauen zum reinen Objekt degradiert und gar größtenteils als „Dummchen“ darstellt. Tatsächlich ist jedoch das Gegenteil richtig. Um das zu verstehen, muss man allerdings den historischen Kontext beachten. In den späten Siebzigern und frühen Achtzigern war die Frauenbewegung in einer Sackgasse. Statt neue Impulse in die Gesellschaft zu tragen, kämpften Feministinnen nur noch Abwehrkämpfe und zunehmend ganz bürgerlich vor Gericht gegen Pornographie anstatt weiter revolutionär gegen die Geschlechterverhältnisse aufzubegehren.
Da kam ein Film wie „Sunshine Reggae auf Ibiza“ gerade recht. Die frischen hedonistischen Elemente nahmen nicht nur viel des PorYes-Empowerments späterer sexpositiver Feministinnen vorweg. Auch merkt selbst der oberflächliche Betrachter, dass die Frauen im Endeffekt doch immer „die Hosen an“ behalten. Das spiegelt sich auch in den ökonomischen Verhältnissen wieder. Die männliche Hauptfigur lebt einfach und bescheiden, seine Angebetete ein Luxusleben im Erfolg. Der Film ist damit völlig zu Recht ein Schlüsselwerk des feministischen Films. Wer das immer noch nicht verstanden hat, sollte sich die Figur des Onkel Bernie (Chris Roberts) mal genauer anschauen.
Der zweite Vorwurf ist der beliebte aber ebenso falsche Vorwurf des vermeidlichen „Kommerzes“. Auch hier ist wieder das Gegenteil richtig. Der Film ist viel eher Karl Dall, dem im seiner Karriere oft billige kommerzielle Haltung zu Lasten der Kunst vorgehalten wurde – doch entzieht jener sich mit diesem Streifen aller kapitalistischen Verwertungslogik. Sunshine wird nicht mal in das starre Konzept der 90-Minuten-Spielfilmlänge der Kulturindustrie gezwängt. Das Werk besitzt gerade einmal knappe 70 Minuten Länge. Dall hat mit diesem Film sein künstlerisches Hauptwerk abgeliefert – der monetäre Erfolg war ihm dabei völlig egal. Gegen den Kommerzvorwurf spricht ebenfalls, dass der Film, wie schon erwähnt, kein Happy End hat.
„Sunshine Reggae auf Ibiza“ hat auch nach über 30 Jahren nichts Kraft verloren. Jede*r, die oder der sich wirklich für den deutschen Film interessiert, kommt um den wichtigen und bis heute in vielen Bereichen unerreichten Streifen nicht herum. Itzy Bitzy Ibiza! You are now leaving Ostfriesland.
Über den Autor: Dr. Felipe Mainard lehrt und forscht an der Uwe Boll-Hochschule für Film in Uelzen. Seine Dissertation mit dem Titel „Die Inszenierung des Strukturwandels und die einhergehenden sozioökonomischen Auswirkungen im Ruhrgebiet im Film ‚Manta, Manta‘“ schloss er mit Auszeichnung ab.