Querbeet durch die Berlinale – Eine Entdeckungstour, Teil 1

Regungslos im Senegal

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„Félicité“ by Alain Gomis (Photo: Andolfi)

Wie immer ist das Programm mit über 400 Filmen eine Überforderung! Auch die vierstündige Zugfahrt reicht nicht mehr aus, um sich gut vorbereitet zu fühlen. (Das jährliche Verpassen des Eröffnungsfilms quält in diesem Jahr hingegen nicht – und tatsächlich soll das Biopic „Django“ über Django Reinhardt mindestens konventionell und schlimm gewesen sein.)  Und so bleibt zu Beginn vor allem der Besuch der Pressevorführungen. Man muss sich nirgendwo anstellen für Tickets, sondern strömt nur mit der Masse von einem Wettbewerbsfilm zum nächsten. Mit etwas Routine baut man am Abend dann noch Filmen aus den Sektionen „Panorama“ oder „Forum“ ein und hofft auf Überraschungen.

Donnerstag
Am ersten Berlinale-Tag reicht es nur für „Dayveon“, einen amerikanischen Indie-Film aus dem „Forum“. Der 13-jährige Dayveon muss den Tod seines Bruders verkraften, droht aber nach seiner Aufnahme in die örtliche Gang vor allem in seine Fußstapfen zu treten. Amman Abbasi siedelt sein Ghetto-Drama klischeebefreit im ländlichen an und kann seiner Geschichte dadurch einige ungewöhnliche Momente abgewinnen. „Dayveon“ wirkt wie die Kreuzung eines großstädtischen Ghettodramas mit einer ruhigen Coming-of-Age-Geschichte aus der Provinz und reiht sich damit in die jüngeren Filme ein – allen voran „Moonlight“ –, die typische Black Cinema Themen mit einem sensibleren Blick angehen als den üblichen Gangsterposen.

Freitag
Im Wettbewerb steht mit dem ungarische Film „On Body and Soul“ von Ildikó Enyedi gleich ein kleines Highlight an. Enyedi kreuzt die aseptische Welt einer autistisch veranlagten Fleischkontrolleurin mit der desillusionieren Zurückgezogenheit des Leiters der Fleischfabrik. Als sie merken, dass sie sich nachts als Hirsche im Wald zusammenträumen, beginnt eine zarte Annäherung, gleichsam begleitet von den skurrilen Alltagsritualen der beiden Protagonisten und kontrastreich inszenierten deutlichen Szenen aus dem Schlachthaus. Ein Film, der einen morgens um neun recht unvermittelt trifft.

„The Dinner“ von Oren Movermann ist eine typische Hollywoodproduktion mit Staraufgebot: Richard Gere, Steve Coogan, Rebecca Hall und Chloë Sevigny liefern sich ein kammerspielartiges Gefecht, das ähnlich Polanskis „Gott des Gemetzels“ an der zivilisierten Oberschicht der bürgerlichen Elite kratzt.

„T2 Trainspotting“ … alle haben auf die Fortsetzung des Kultfilms gewartet, 20 Jahre lang . Und nun ist sie endlich da und zwar mit den alten Darstellern und wiederum unter der Regie von Danny Boyle. Die Frage, die im Raum steht: Wie geht Boyle an den Film heran? Wird es alles wie damals machen und in Sentimentalität versinken? Oder inszeniert er alles ganz anders und neu und maximiert damit die Chance des Scheiterns? Irgendwo zwischen den beiden Polen hat er sich ziemlich gut geschlagen. Referenzen, Anspielungen und Zitate aus „Trainspotting“ gibt es reichlich, aber sie sind als Erinnerungsmomente immer rückgekoppelt an die Handlungen und ihre Figuren. Zwischen Witz, Tragik und Action und mit vielen visuellen Raffinessen kommt Langeweile sicher nicht auf.

Ganz anderes Kino bietet der amerikanische Indiefilmer Alex Ross Perry. In „Golden Exits“ begleitet er seine New Yorker Hipster-Protagonisten zwischen Mitte Zwanzig und Anfang Vierzig bei ihrem daily Struggle, trotz(!) aller günstigen Rahmenbedingungen glücklich zu werden – denn diese stehen sich auf dieser Suche selbst im Weg. Mit dabei sind unter anderem Adam Horovitz (of Beastie Boys fame), Jason Schwartzman und schon wieder Chloë Sevigny. Die Inszenierung hält sich zurück. Ein paar Klaviertupfer hier und dort, ansonsten viel Dialog, viele Nahaufnahmen von schönen Gesichtern – gefilmt in atmosphärisch körnigem Filmmaterial.

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„Félicité“ by Alain Gomis (Photo: Celine Bozon)

Samstag
„Félicité“ entführt die Wettbewerbsbesucher in die Hauptstadt des Senegal.  Regisseur Alain Gomis (in dessen letzten Film „Aujourd‘hui“ ein von Saul Williams gespielter Mann am letzten Tag seines Lebens begleitet wurde) folgt einer jungen Sängerin auf ihrem schmerzvollen Weg auf der Suche nach Geld für die Operation ihres Sohnes. Doch Opferhaltung sehen wir nicht: Félicité geht regungslos durchs Leben, sie hat sich längst alle Gefühle abgewöhnt. Nur beim Singen lebt sie auf (der Soundtrack der Kasaï Allstars, nicht unähnlich der Musik von Konono No. 1, erscheint demnächst bei Crammed Disc). Wilde Musikszenen in Kneipen voller exzessiver Gäste, vibrierendes Stadtleben und ganz kontemplative Traumszenen machen den Film zu einer fühlbaren Erfahrung.


Auch Kohki Yoshida erzählt in seinem vierten Film “Mittsu no Hikari” von der Kraft der Musik. Vier defekte Großstadtseelen treffen sich zum musizieren. Als erste Ergebnisse vorliegen, füttern sie die öffentlichen Lautsprecher der Stadt mit ihren Klängen. Die Kurzsynopsis klingt leider spannender als der Film. Zwar beobachtet Yoshida die zwei männlichen und zwei weiblichen Hauptfiguren sehr einfühlsam. Wenn es aber zum eigentlichen Thema kommt, erliegt der Film einigen Plattitüden – vom gierigen Musikmanager bis zum bösen Labelboss. Und dass trotz der zarten und zurückhaltenden Musik von Yawn of Sleepy. Der Hauptdarsteller Ryo Ikeda scheint allerdings nicht mit dem Elektronikmusiker Ryôji Ikeda (raster noton) nicht identisch zu sein.

Sonntag
Agnieszka Hollands „Porot“ ist ein mit Skurrilitäten ausgestatteter Ökothriller, in dem eine ältere Frau gegen die Wilderei und Tierschänderei in ihrer Kleinstadt wettert. Viel kann sie indes nicht unternehmen, da eh alle unter einer Decke stecken und korrupt sind. Doch dann stirbt einer nach dem anderen – die Tiere scheinen sich zu rächen. Der polnische Film, recht kurzweilig, aber auch nicht sonderlich aufregend eher im gehobene TV-Krimi Modus inszeniert, hat noch eine Pointe in der Hinterhand. Ihn nicht auch als Parabel auf die gesellschaftlichen Zustände in Polen zu lesen ist ein Ding der Unmöglichkeit!

 

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