Tár

Tár is many things

Cate Blanchett in Tár 

Tár is many things.

Der dritte Film von Todd Field ist vieles, aber nicht eindeutig. Er wechselt Haltungen und entfaltet sein Spektrum in Schattierungen, die zwischen Schwarz und Weiß liegen.

Zu Beginn wird die Hauptfigur des Films, die Stardirigentin Lydia Tár, die sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolges befindet, von der New York Times zu ihrem Werk und Leben vor Publikum interviewt. Der Film porträtiert die Dirigentin an einem Punkt, an dem es nur noch wenige Schritte braucht, die sie unvergesslich werden lassen: Acht der neun großen Sinfonien Gustav Mahlers hat Tár bereits dirigiert und aufgeführt, als der Film einsetzt, fehlt ihr lediglich Mahlers fünfte. Lydia Tár strahlt klare Souveränität und Stärke aus, lässt sich zunächst nicht beirren und weiß um ihren privilegierten wie erkämpften Platz in einer von Männern dominierten Position. Die Hauptfigur des Filmes trägt männlich konnotierte bis androgyne, dabei stets maßgeschneiderte Kleidung, zu Beginn wird sie von einer Off-Stimme eingeführt und während reihenweise Superlative aufgelistet werden, sieht man sie bei Anproben mit Designerhemden und -kragen und durch ihr so schickes wie entrücktes Loft aus Beton bewegen.

Die Schauspielerin Cate Blanchett merkt über ihre Rolle an, Lydia sei eine komplexe wie widersprüchliche Person voller Ambiguitäten. Natürlich ist sie zunächst ein Mensch wie wir alle, aber spannend an dem Film ist besonders, dass Tár wie eine Allegorie auf den Begriff der Krise wirkt. Sie ist nicht allein eine Figur, sondern vielmehr ein Sammelsurium aus Atmosphären, schafft es als Chiffre gelesen Fragen offen zulassen und keine eindeutigen Antworten oder Positionierungen zu liefern. Von einigen Kritikern wurde der Film zu simpel gelesen, wenn ihm etwa diese Ambiguitätstoleranz als fehlerhaften Makel vorgehalten wurde.
So gibt es zum Beispiel eine großartig gespielte Szene, in der Tár an der berühmten Musikhochschule Juilliard eine Klasse unterrichtet und in Streit gerät mit einem Studenten, der sich aufgrund seiner Identifikation als pansexueller nicht Cis-Mann weigert sich mit den Werken eines „weißen alten heterosexuellen Mannes“ wie Johann Sebastian Bach zu befassen. Tár kontert es wäre ja seltsam, dass sie sich als Lesbe und Frau von diesem Umstand nicht angegriffen fühlt und klagt an die heutige Generation von Studierenden müsse aufpassen nicht zu sehr ihre Zeit damit zu vergeuden so dermaßen empört zu sein. Es sei wichtig sich selbst zurückzunehmen und genau zu wissen, nach was man bemessen werden möchte, nach der Leistung oder nach seiner Identität.
Der Film spricht in dieser Szene nebenbei galant derzeitige Debatten von (linker wie rechter) Identitätspolitik an und lässt dem Zuschauer die Möglichkeit sich eigenständig ein Bild zu machen.Aber selbst hier ist der Film nicht eindeutig, sondern lässt dem Zuschauer Raum für eigene Reflexionen und Positionierungen. Jedoch – und auch dies gehört zur konsequenten Ambivalenz des Filmes – wird Lydia Tár selbst im Verlauf der Handlung diesem Anspruch nicht gerecht: Sie nimmt sich selbst zu wichtig und nicht aus dem Zentrum, missbraucht Beziehungen auf mehrfachen Ebenen und Wünsche und Begehren nach Macht und Einfluss untergraben ihr moralisches Handeln.

Einige Stimmen meinten, der Film wäre enttäuschend, da er eine weibliche Dirigentin porträtiere, die ihre Macht missbraucht und ihre Mitarbeiterinnen sexuell belästigt, man hätte doch eine sympathischere Figur wählen können. Dies wird dem Film jedoch nicht gerecht und offenbart eine gar zu offensichtlich-stumpfe Lesart, stellt sich doch der Film nie klar in einem Licht dar und lässt vieles in Andeutungen und Dissonanzen bestehen. Im Laufe der Handlung wird Lydia Társ autoritäres Machtverhalten klarer, Andeutungen zu Affären mit ehemaligen Mitarbeiterinnen und ihrer Assistentin (wunderbar gespielt von Noémie Merlant) kommen ans Licht. Sie gibt der jungen Cellistin Olga (Sophie Kauer) den Posten für das Cello Konzertsolo des Komponisten Edward Elgar im Rahmen der Aufführung der fünften Sinfonie Mahlers und droht einer Schulkameradin ihrer Tochter, sie würde sie erwischen, wenn sie sich noch einmal ihrer Tochter nähert. Konterkariert wird Lydias Rolle mit der der Konzertmeisterin Sharon (Nina Hoss) mit der sie verheiratet ist und die ihre Anweisungen an das Orchester in weniger abstrakte Sprache und Handlungsanweisungen zu übersetzen weiß.

Tár erzählt die Geschichte eines (Ver)falls mit beinahe tragisch antiken Ausmaßen. Ganz und gar zugeschnitten auf Cate Blanchett – sie ist in fast jeder Einstellung zu sehen – begleitet man die Hauptfigur in ihren Abgrund, schaut ihr dabei zu, wie ihr zunehmend alles entgleitet und sie dennoch bis auf eine dramatisch markante Szene versucht ihr Gesicht zu wahren.
Es ist auch ein Film über die Schwierigkeiten von Macht und Erfolg, das Korrupte am Musik- und Kulturbetrieb, sowie eine Allegorie auf eigene Sinn- und Gesellschaftskrisen. Im Konkreten ist es auch ein Film über den Missbrauch von sozialen Medien, wenn Lydia Tár auf Twitter und in Chats denunziert und ihre missbräuchliche Arbeitsweise an den Pranger gestellt wird. Dass sie dabei auch und besonders Opfer und nicht allein Täterin ist, macht die Figur so komplex.
Fern davon ein reiner Musikfilm zu sein, bespielt der Film eine Reihe von Ebenen, wenn er Störgeräusche wie das Schreien einer Frau in der Ferne einwebt oder auch Lydia als einen Mensch darstellt, der überempfindlich auf äußere auditive Reize reagiert – sie wacht mehrmals nachts auf und hört das Fiepen des Kühlschranks oder das brutale Ticken des Metronoms in ihrem Arbeitszimmer, dass irgendjemand heimlich angestellt hat.

Im letzten Drittel des Filmes nehmen diese unheimlichen Elemente zu, auch arbeitet er viel mit unerklärlichen Zeichen und Spiegelungen. Selbst wenn Lydia Tár schlussendlich ganz unten ist und ihre Stelle bei den Berliner Philharmonikern gekündigt wurde, hat sie ihre Sensibilität und ihr Talent für das Dirigieren und Komponieren von Musik nicht verloren, weil Kunst sie als Wesen und Mensch konstituiert. Das Ende ist bitter und bleibt zugleich offen, obwohl Lydia Tár versuchte sich gegen den Lauf der Ereignisse zu stellen, entglitt ihr dies alles zusehens. Für die Rolle der Sharon lernte Nina Hoss Geige und Cate Blanchett erlernte das Dirigieren und Klavierspielen. Sie und der Regisseur Todd Fields arbeiteten mit den Dresdenern Philharmonikern zusammen, die Szenen der Konzertproben finden vor wirklichen Musikern statt. Blanchett meint für sie war es die komplexeste Rolle, die sie bisher gespielt habe. Es spricht für den Film, dass er sich den Zwischenstufen statt dem Eindeutigen verschrieben hat und es schafft eine so große Bandbreite an Debatten und Themen anzuspielen.

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