Zur Zeit

Im Zweifel für den Underdog – Intersektionalität und Antisemitismus

Seit dem antisemitischen Pogrom vom 7. Oktober schreien Linke weltweit Forderungen, die auf die Auslöschung des einzigen jüdischen Staats hinauslaufen – während Juden und Jüdinnen sich anderswo kaum mehr sicher fühlen können. Doch warum gelingt es so vielen selbsternannten Linken nicht, Antisemitismus zu verstehen und zu bekämpfen? Ein Text von Julia Pustet.

Internetaktivistis und wie sie die Welt verstehen

Vor dem 7. Oktober erschien die Welt der großen bauchlinken Aufklärungsaccounts vielen Menschen noch vor allem skurril: Ihre bunten Slides zeigten in vollendeter innerer Widersprüchlichkeit, was passiert, wenn die Identitätspolitik sich selbst überlassen wird. Eine strukturelle Analyse der Gesellschaft wurde ersetzt durch ein negatives Stärkerenrecht, das Kollektive formierte sich vor allem durch Betroffenheit und durch autoritären Ausschluss all derer, die den selbst gesetzten Regeln widersprachen oder nicht gehorchten. Nach innen verteilte man gelegentlich Bonbons in Form eines „das geht raus an alle fellow Süßmäuse”, wer nicht spurte, wurde gnadenlos zum Abschuss freigegeben – dann war auch plötzlich egal, von was die Person betroffen war. Dabei fiel auf: Im Weltbild dieser Menschen gab es Identitäts- und damit Diskriminierungskategorien in stetig wachsender Anzahl. Diese sind alles andere als starr gedacht, den meisten Kategorien kann man sich frei zuordnen. Ein wesentliches Begriffspaar fehlte aber stets: Das von Fortschrittlich und Reaktionär.

Die gewählten Methoden waren das ständige Verwechseln von subjektiven Meinungen im Stil von „Weshalb ihr immer/niemals XY sagen/tun solltet” mit objektivem Wissen sowie ein quantitatives Gegeneinander-Ausspielen von Betroffenheit und Identitätsanteilen statt einer qualitativen Diskussion der Strukturen, die die verschiedenen Formen der Diskriminierung miteinander verbanden. Was diese Menschen dabei über Jahre einübten, war die Drohung, dass gecancelt wird, wer nicht spurte oder sich falsch ausdrückte. Während man Inklusivität scheinheilig zum höchsten Wert erhob, lebte man nach außen eine autoritäre Härte, die ihre Wirkung besonders bei unsicheren, noch ungebildeten und jungen Bauchlinken entfaltete.

Bunte Slides statt Lesekreise

Wer auch nur absatzweise an Marx geschult war, ein bisschen was über Dialektik wusste oder einen rudimentären Begriff von Klasse und Ausbeutung hatte, verstand das Problem an diesen Kreisen und ihren Methoden schon früh – und war nicht überrascht, als die noch irgendwie drolligen Skurrilitäten spätestens nach dem 7. Oktober in offenen und hetzerischen Antisemitismus umschlugen. Das Problem ist aber: Offensichtlich geht diese Bildung vielen Linken ab. Das mag unter Anderem daran liegen, dass das rein additive und leicht verdauliche „Wissen”, das diese Seiten verbreiten, ein besseres Einstiegsangebot ist als eine Auseinandersetzung mit linker Theorie – die ist nämlich ganz schön anstrengend. Abstrakte gesellschaftliche Verhältnisse kann man nicht mit bunten Bildern illustrieren und konkrete Handlungsanweisungen ergeben sich daraus auch nicht, außerdem geht es darin um das Wir statt um das Ich. Und schließlich mag die selbsterwählte Bildungsferne vieler Bauchlinker auch darin begründet sein, dass Social Media für viele Menschen heute zur Hauptquelle für Bildung und Informationen geworden ist.

Intersektionalität…

Ein wichtiger Begriff für viele Internet-Aktivistis ist die Intersektionalität, ein im Grunde wichtiger und guter Ansatz. Intersektionales Denken versucht grundsätzlich erstmal, verschiedene Diskriminierungsformen wie zum Beispiel durch Rassifizierung und Geschlecht nicht getrennt voneinander zu betrachten, sondern in ihren komplexen Verschränkungen. Für politische Kämpfe ist die Erkenntnis dieser Verschränktheit sehr wichtig. Mit der Zeit hat das Konzept jedoch eine starke Verflachung erfahren. Und so geht es in vielen Kontexten gar nicht mehr darum, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verstehen, die den verschiedenen Ausgrenzungsmechanismen wie Rassismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Antisemitismus zugrundeliegen und unterschiedlichste Phänomene verbinden. Vielmehr geht es um den Ort, an dem diese Diskriminierungen unmittelbar stattfinden. Statt sich auf die gesellschaftlichen Strukturen zu konzentrieren, konzentriert man sich auf die Individuen und ihre Erfahrung. Im Zuge verkürzter Intersektionalitätsdebatten werden Diskriminierungserfahrungen vor allem positivistisch und additiv begriffen: Jemand ist von X und Y und Z betroffen, und daraus ergibt sich mehr als nur X+Y+Z. Im Einzelfall mag das völlig richtig sein, und natürlich sind Perspektiven unabdingbar für jede Analyse und Ausgangspunkt jedes politischen Kampfs. Wenn man allein auf Perspektiven setzt, wird eine Analyse der Gesellschaft wird aber schwierig.

…und Antisemitismus

In den letzten Wochen haben viele der intersektionalen Internetaktivistis und Queerfeminist:innen komplett ihren moralischen Kompass verloren. Nachdem man jahrelang Linke für falsche Formulierungen angefaucht und mitunter ausgeschlossen hatte, wurden nun Hamas-Terroristen nach dem massenhaften Töten, Misshandeln und Ver****igen von Frauen zu Widerstandskämpfern verklärt. Man distanzierte sich scheinheilig von Antisemitismus, verbog den Antisemitismusbegriff dabei aber bis ins Absurde. Man bemühte schamlos uralte antisemitische Narrative und Verschwörungsmythen, bezeichnete das Bestehen auf einem Existenzrecht Israels als Schutzraum der Juden und Jüdinnen als antisemitisch, man ging so weit, die jüdischen Opfer der Shoah als “weiß gelesen” zu erklären und damit als privilegierte Opfer zu bezeichnen.

Die Ausfälligkeiten der bauchlinken Antisemit:innen waren dabei in ihrem Kern oft auch rassistisch: Schließlich steckt in der Behauptung, ein Pogrom sei eine Form des Widerstands, auch die Annahme, dass man Palästinensern keine fortschrittlichere Art des Widerstands zutraute. Dass es den Hamasführern sogar nach eigenen Aussagen nicht um das Wohl des Palästinensischen Volks ging, sondern um einen andauernden Krieg mit Israel, wurde ignoriert, man tappte in seiner eigenen Ignoranz direkt in die oft beschworene Falle des Orientalismus. Über die antisemitischen Angriffe, denen Juden und Jüdinnen weltweit ausgesetzt sind, wurde geschwiegen. Anstelle der Frage, warum Israel bestehen muss und sicher sein muss, stand ein großes Schweigen.

Der Mythos vom mächtigen Juden

Man hat oft darauf hingewiesen, dass Jüdinnen und Juden in den intersektionalen Aufzählungen von Minderheiten oft vergessen wurden. Bisweilen wurde das daraus erklärt, dass man Jüdinnen für weiß hielt. Die Erklärung greift jedoch zu kurz, schließlich haben heute auch andere weiße Menschen Platz in intersektionalen Modellen. Tatsächlich ist es vielmehr so, dass die heutig vorherrschende Spielart des Intersektionalismus den Antisemitismus gar nicht begreifen kann. Denn anders als etwa rassistische Weltbilder funktionieren antisemitische Narrative darüber, dass Juden für (über)mächtig gehalten werden, für Strippenzieher und Verschwörer – nirgendwo kann man das so gut beobachten wie an der Diskussion über Israel und Gaza. Der Antisemitismus ist Resultat eines falschen, verkürzten Weltbilds, in dem nicht der Kapitalismus, sondern Eliten die Welt lenken. Im vereinfachenden Herrscher-Beherrschten-Denken der Intersektionalität stehen Juden und Jüdinnen aufseiten der Mächtigen. Mythen wie diese ließen sich jedoch nur auflösen, wenn man begänne, den Kapitalismus als ein abstraktes Verhältnis zu verstehen. Und das ist ein bisschen schwerer als einfach nur zu bestimmen, wem es quantitativ wie schlecht geht und wer deshalb wie viel sagen darf.

Viele alte und neue Linke spannen ihr Weltbild anhand sehr einfacher Schemata von Gut und Böse, Peripherie und Imperium, Subalternen und Mächtigen auf. Weil sie die Verwobenheit dieser verkürzten Weltbilder mit dem Antisemitismus nicht verstehen, wissen sie oft nicht einmal, dass sie antisemitisch denken und sprechen. Sie wissen, dass Antisemitismus falsch ist, also erfinden sie neu, was nun unter Antisemitismus fallen soll und was nicht. Ihre gedanklichen Verrenkungen sind zirkusreif. Und sie sind anschlussfähig. Linke Antisemit:innen halten ihren Antisemitismus für herrschaftskritisch, weil sie das Prinzip der abstrakten Herrschaft nicht verstehen. Und so halten sie antisemitische Pogrome für Widerstand. Und das ist keine neue Form von Antisemitismus, sondern die ganz alte.

Text: Julia Pustet

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