Chilly Gonzales: “Kunst setzt eine Energie in die Welt, auf die Menschen reagieren können”
Der kanadische Piano-Meister Chilly Gonzales ist international bekannt und hat bereits mit Feist, Jarvis Cocker und Drake gearbeitet. Auf seinem neuen Album „Gonzo“ reflektiert er sein eigenes Künstlerprofil. Im Zuge dessen führt „The Musical Genius“ fast den Genie-Kult hinters Licht. Im Song „F*CK WAGNER geht es um den Antisemiten Richard Wagner: Chilly Gonzales, ein jüdischer Künstler, schätzt Wagners Musik. Aber er möchte auf den Judenhass des Komponisten aufmerksam machen. Im Kaput-Gespräch erzählt der Wahlkölner über die Kernthemen seines Albums, heuchlerische Musiker, Stars wie Drake und seine große Liebe HipHop.
„F*CK WAGNER“ ist ein unterhaltsames Rap-Stück. Zugleich spürt man, dass Dich das Thema intensiv beschäftigt. Was ist Deine Verbindung zu Wagners Musik?
Chilly Gonzales: Ich schätze, dass mich dieses Wagner-Thema bereits seit meinem sechzehnten Lebensjahr beschäftigt. Ich habe mir damals mit meinem Vater, der jüdisch war, Opernaufführungen angeschaut. Es war das erste Mal, dass ich darüber nachgedacht habe, dass große Kunst auch von einem scheußlichen Menschen stammt. Es war zudem das erste Mal, dass ich mich als angehender Künstler gefragt habe, ob ich selbst überhaupt ein guter Mensch bin.
Es handelt sich also um eine Frage, über die ich seit ungefähr 35 Jahren nachdenke. All das kam 2022 in dem Song zum Ausdruck, damals habe ich angefangen, das Stück zu schreiben. Das lag vor allem an der Entwicklung von Kanye West und seinen Nazi-Aussagen. Über Kanye hätte ich auch einen Song schreiben können, in gewisser Hinsicht taucht er im Song ja nun auch auf. Aber ich kehrte zurück zu der Zeit, als ich mich zum ersten Mal mit diesem Monster-Genie Wagner konfrontiert habe. Wenn Du sechzehn Jahre jung bist, ist das eine Zeit, in der Du sehr leicht zu beeindrucken bist. Gerade von künstlerischen Leistungen! Dieses Theater zu sehen, das im Jahr nur für einen Monat geöffnet ist und nur Musik eines Mannes aufführt! Das ist doch ein Fantasiebild. Jeder Künstler sehnt sich doch insgeheim nach so etwas wie dem Bayreuther Festspielhaus. Auch bei Kanye kann man viel bewundern, wir sagen „Chuzpe“ im Jiddischen dazu. Gleichzeitig sollte man hier doch versuchen, zu trennen: Wagner und auch Kanye West haben ihre moralischen Verfehlungen sogar beworben, sie haben sich in diese Gedanken vertieft und letzten Endes haben sie so zu sehr viel Hass beigetragen.
Du spielst auf das antisemitische Buch von Richard Wagner an, das der im 19. Jahrhundert sogar ohne Pseudonym veröffentlicht hat.
Es handelte sich nicht um einen privaten Tagebucheintrag. Als ich meine Ideen ausformulierte, habe ich über mögliche Argumente nachgedacht, die man mir entgegnen könnte: „Jeder war im 19. Jahrhundert antisemitisch, das wurde nicht als Tabu betrachtet. Und du kannst hier nicht die heutigen Moralvorstellungen anwenden.“ Ich denke gerade an das Thema Fleischkonsum: Stellen wir uns einmal vor, dass Fleischkonsum in hundert Jahren völlig verachtet wird. Die Menschen könnten sich nicht einmal vorstellen, dass 2024 noch Fleisch verzehrt wurde. Ich wäre dann einer der Menschen, die diesem moralischen Maßstab nicht immer entsprochen haben, denn privat esse ich manchmal Fleisch. Ich versuche darauf zu verzichten, es ist schlecht und schadet dem Planeten. Aber der Verzicht gelingt mir nicht immer. Doch ich habe kein Buch darüber verfasst, wie großartig Fleisch ist. Kennst Du das Beef!-Magazin? Ich denke, alle sollten so leben, wie sie möchten. Aber wenn Du heute ein Magazin über Fleisch gründest, hast Du ein Problem.
Doch zurück zu Wagner, mein Punkt ist: Ich denke nicht, dass Wagner ein typischer Antisemit im 19. Jahrhundert war. Mit diesem Buch hat er Antisemitismus ganz aktiv beworben. Für mich macht sein Text einen großen Unterschied: Wagner hat das Buch geschrieben, es nochmals gelesen und dann sogar beim zweiten Mal seinen Namen auf den Buchband setzen lassen. Das ist ein anderes Level, er gehört in eine ganz andere Kategorie.
Du hast eine Petition initiiert, um die Richard-Wagner-Straße in Köln in Tina-Turner-Straße umzubenennen. Die US-Musikerin hat ja auch einige Jahre in Köln gelebt.
Tina Turner ist 2023 gestorben. Im Song wird sie nicht erwähnt, der entstand schon vor ihrem Tod. Nach ihrem Tod war Köln in Trauer. Ich habe hier sehr viel Liebe für sie wahrgenommen. Damals dachte ich über den Straßennamen nach: Wenn ich keinen positiven Vorschlag habe, wer hier Wagner ersetzen soll, ist meine Idee nicht stark genug. Dann wäre ich nur einer dieser Leute, die Geschichte löschen wollen. Das will ich nicht. Mein Punkt ist: Wenn wir nicht für Wagner sind, für wen sind wir dann? Für Tina Turner!
Was hast Du bisher für ein Feedback erhalten?
Es gibt bereits 13.000 Unterschriften (aktuell sind es über 14.600 Unterschriften, Anmerkung P.K.). Das hat eine symbolische Kraft und ist ermutigend. Manche Menschen nehmen sich Zeit für meine Argumente. Ich denke auch, dass die nuanciert sind: Ich sage ja nicht, dass man Wagner canceln sollte. Es geht mir darum, zwei Extreme zu umgehen. Einerseits gibt es die Menschen, die sagen: „Mit Wagner war doch alles in Ordnung, hört auf damit, die Geschichte umzuschreiben!“ Und dann gibt es eine woke Gruppe, die sagt: „Lasst uns direkt mit Martin Luther weitermachen und jeden Straßennamen umbenennen.“ Ich hingegen möchte einen Mittelweg finden. Die Petition ist ein gutes Zeichen. Es gibt Politiker:innen, die sich schon mit mir in Verbindung gesetzt haben, einige unterstützen die Idee. Es gibt viele Menschen, die sehr vernünftig mit mir darüber diskutieren. Das weiß ich zu schätzen. Wenn jemand mit mir über dieses Thema streiten möchte, bin ich dazu bereit! Ich freue mich auch, wenn mir jemand einen Gedanken zeigt, über den ich bisher noch nicht nachgedacht habe. Jemand hat sogar ein Tina-Turner-Straßenschild aufgestellt. Ich weiß nicht, wer das war. Es war jedenfalls sehr emotional für mich: Ich habe als Künstler gespürt, dass künstlerischer Ausdruck etwas in Gang setzen kann. Kunst setzt eine Energie in die Welt, auf die Menschen reagieren können. Da hat jemand eine Idee von mir in der realen Welt manifestiert. Seit ich in Köln wohne, denke ich schon darüber nach: Immer wenn ich durch diese Richard-Wagner-Straße gehe, etwa auf dem Weg zur Synagoge, habe ich mich gefragt: Was soll diese Straße nur darstellen? Auf einmal fühlte sich dann jemand inspiriert, meine Forderung umzusetzen. Das hat mich berührt, ich fühlte mich der Community sehr verbunden. Ich glaube, das Tina-Turner-Straßenschild steht noch immer. Es wurde anschließend mit schwarzer Farbe übermalt, aber zwei Tage später war die Farbe wieder entfernt. Da wurde etwas in Gang gesetzt.
Lass uns über dein neues Album sprechen. Das beginnt mit der folgenden Textzeile: „The first time that I entertained was the first time that I felt sane.“ In dem Lied präsentierst Du dich wieder als Entertainer, aber es wirkt gleichzeitig persönlich.
Früher waren manche meiner Texte fast schon Hilferufe. Ich habe mit Texten aufgehört, als ich eine Psychoanalyse begonnen habe. Mein Therapeut hat mir geholfen, bestimmte Gefühle einzuordnen. Ich bin nun endlich dazu fähig, so eine Zeile zu schreiben, ohne dass es sich völlig traurig anfühlt. Es hat sich etwas verändert: Heute ist die Bühne nicht mehr der einzige Ort, wo ich mich geliebt fühle. Ich kann mich diesen Themen mittlerweile widmen. Es gab eine Zeit, in der ich das Leben als Chilly Gonzales lieber mochte. Es war einfacher, ich bekam Respekt von den Menschen. Man hat mir gesagt, wie toll ich sei. Das war sehr verführerisch. Es gibt ja auch diese Songzeile: „My life was a movie, I was in every scene.“ Das nennt man das Main-Character-Syndrom. Gesund ist das jedenfalls nicht und ich bin dankbar, dass ich einen Ausweg gefunden habe. Ich liebe es weiterhin, auf der Bühne zu sein. Aber ich habe verstanden, dass das nicht das echte Leben ersetzen wird. Aber unabhängig von dem Entertainer-Kontext: Wir alle spielen in manchen Momenten eine bestimmte Rolle, wir alle kennen das aus unserem sozialen Leben. Wenn Dein Job aber Entertainment ist, kannst Du natürlich viel eher mit deiner Rolle durcheinander kommen. Wenn tausende Menschen auf Deine Show mit Beifall reagieren, kann das eine Verlockung und ein Risiko sein. Aber solche Prozesse sind auch im kleinen Freundeskreis möglich. Heute bin ich mir selbst gegenüber aber viel empfindsamer.
Das Album ist abwechslungsreich, es gibt auch eine Beethoven-Referenz. Auf die Beethoven-Oper „Fidelio“ spielt Dein gleichnamiges Piano-Stück an, oder?
Der Grund, warum das Stück „Fidelio“ heißt, hat mehrere Gründe. Ich habe den Beginn 2015 geschrieben. Damals war ich in einem Kurort. In einem italienischen Restaurant, es hieß Fidelio, befand sich ein Klavier. Das Restaurant war tagsüber leer, ich konnte dort komponieren. Ich habe diese Musik „Fidelio“ genannt, um mich später an diese Arbeit zu erinnern. So entstehen manche Arbeitstitel. „Fidelio“ lautet auch das Party-Passwort in dem Film „Eyes Wide Shut“. Das Stück hat eine mysteriöse, dekadente Stimmung. Die mochte ich auch im Kubrick-Film. Mit Beethovens Oper kenne ich mich nicht so gut aus.
Aus dem Rahmen fällt der Rap-Song „Neoclassical Massacre“: Hier disst Du die sogenannte Neoklassik-Szene.
Im Grunde handelt es sich bei der neuen Neoklassik um die neue Version von Muzak. Muzak war ursprünglich Hintergrundmusik für den Supermarkt. Umso relaxender diese Musik klang, desto länger blieben die Menschen im Supermarkt und gaben dort mehr Geld aus. Heute geht es um die Aufmerksamkeitsökonomie im Online-Bereich, Neoklassik soll man möglichst lange zuhören. Ich habe nichts gegen Hintergrundmusik und funktionalistische Musik. Ich selbst nutze Musik manchmal, um mich zu pushen oder um zu chillen. Aber Musik sollte doch mehrere Ebenen aufweisen. Schlechte Neoklassik lässt hingegen jede zweite Ebene vermissen.
Mich stimmt das traurig, wenn sich Künstler:innen so anbiedern. Ich bin davon überzeugt, dass man in der Kunst seinem Unbewussten vertrauen, subjektiv bleiben und keine Kompromisse eingehen sollte. Im ersten Schritt – das ist wichtig – sollte man gar nicht an die Außenwelt, das Publikum oder die Industrie denken. Erst im zweiten Schritt geht es darum, Abstand zu gewinnen: Dann kann man sich den Fisch anschauen, den man aus dem Ozean des eigenen Unbewusstseins geangelt hat. Wenn es ein hässlicher Fisch ist, sollte man das akzeptieren. Im zweiten Schritt ist es legitim, ein cleveres Marketing-Genie zu werden, das ist dann der Job. Es geht dann um die Frage, inwiefern dieser hässliche Fisch für Menschen anschlussfähig sein kann. Problematisch wird es, wenn die Menschen sich diesem zweiten Schritt zu früh widmen und ihre eigentliche Kunst sogar abändern. Manche Menschen sagen, dass ich sehr kalkulierend sei. Das ist auch so: Ich liebe es etwa, Strategien zu entwickeln, wie ich medial Aufmerksamkeit bekomme. Aber damit beginne ich erst, wenn meine Kunst im ersten Schritt genau abgeschlossen ist. Der zweite Schritt bedeutet Entertainment. Das ist korrupt, du musst hart sein und strategisch auftreten. Damit kenne ich mich aus, aber wie gesagt: Es ist der zweite Schritt.
Ich kann keine Künstler respektieren, die diesen zweiten Schritt zu früh zulassen und dann sogar noch so tun, als ob es diesen zweiten Schritt gar nicht geben würde. Das sind Heuchler. Deswegen kann ich es auch nicht ausstehen, wenn ich wieder ein Piano im Wald stehen sehe. Künstler, die solche Bilder nutzen, sagen uns doch: „Meine Musik ist natürlich! Meine Musik ist so unschuldig wie ein Baum im Wald.“ Doch in Wirklichkeit sind sie sehr zynisch. Sie denken darüber nach, was klappen könnte. Wenn sie uns etwa sagen, ihr Stück sei eine Hommage an die Natur und ein Plädoyer für Frieden im Nahen Osten, muss man es ja mögen. Denn wer will schon dagegen sein? Doch diese einfachen Lösungen sind hier manipulativ. Für mich hingegen bekämpfen sich Kunst und Kommerz gar nicht. Das zeigen uns vor allem Rapper. Im Gegenteil: Kunst und Kommerz ergänzen sich. Entscheidend ist aber die Reihenfolge: Erst kommt die Kunst, dann der Kommerz. Deshalb ist Rap für mich und meine Karriere auch so essentiell und erleuchtend: Rapper sind nicht heuchlerisch, sie sind komplexe Wesen: Sie sind avantgardistisch, aber gleichzeitig auch sehr materialistisch und offen kommerziell. Sie sind ignorant, aber gleichzeitig auch aufklärerisch. Gott sei Dank habe ich Rap entdeckt! Sonst wäre ich in einer Welt aus Neoklassik und Indierock für immer verwirrt geblieben.
Interessant, denn diese – vermeintliche – Naturnähe war schon charakteristisch für die Ära der Romantik, zu der ja auch Wagner gezählt wird…
Es gibt ja diese Zeile: „You say you take your inspiration from nature, but there´s nothing faker than seeing you play on a glacier“. Mit dieser Zeile war ich sehr zufrieden. Ich habe einen Gruppenchat mit Freunden. Immer wenn wir Posts von solchen Künstlern sehen, schicken wir sie uns zu. So viele Neoklassik-Acts machen dasselbe, fällt denen das nicht selber auf? Das ist doch verrückt. Denken sie überhaupt an den CO2-Fußabdruck, der entsteht, wenn man ein Klavier und Mikros in einen Wald mit großen Autos transportiert? Aber natürlich würden diese Künstler sich selbst nie in einem gewöhnlichen Musikstudio ablichten lassen, denn das würde ja Kalkül bedeuten. Es soll immer so aussehen, als ob bei ihnen alles zufällig geschieht. Genauso verhielt es sich auch mit der Indierock-Welt in Kanada in den Neunzigern, als ich meine Karriere begonnen habe. Manche Künstler hörten sich ungefähr so an: „Ups, ich habe ja ein Publikum! Das habe ich doch gar nicht versucht. Ich habe zwar einen Plattenvertrag unterschrieben und im Studio gearbeitet. Klar, ich war auch auf Tour, aber das soll bitte keiner wissen. Ich bin ganz zufällig im Fernsehen gelandet.“ Traurigerweise glauben Menschen immer noch an solche Tricks.
Du hast Dich nun wieder für Rap entschieden. Im HipHop geht es oft um große Träume. Aber was geschieht, wenn man diese Träume verwirklicht? Das war schon Thema bei Drake. Der Kulturwissenschaftler Mark Fisher hat antizipiert, dass Drake unter einer hedonistischen Depression leidet. Er hat in materieller Hinsicht alles erreicht, aber er ist nicht glücklich.
Wenn ich ganz ehrlich bin: Ich hätte niemals erwartet, ein so großes Publikum zu erreichen, wie es heute der Fall ist. Ich bin davon ausgegangen, dass ich ein obskurer Künstler werde. Vieles hatte mit Glück zu tun: Ich habe bestimmte Leute getroffen, die mich ermutigt haben, independent zu werden. Peaches war etwa wie eine Mentorin für mich. Sie hat mich hinsichtlich meiner Bühnen-Perfomances sehr geprägt. Dem Produzenten Renaud Letang verdanke ich auch sehr viel. Ich kenne ihn aus Frankreich, mit ihm arbeite ich noch heute. Er hat mir auch meine Schwächen gezeigt. Ich habe also gute Partner:innen, für die ich sehr dankbar bin.
Nun gibt es einen bestimmten Bekanntheitsgrad, ab dem einem das eigene Leben nicht mehr gehört. Ich lebe jetzt in Köln, die Leute sind hier sehr entspannt. Niemand klingelt an meiner Tür, ich brauche keinen Bodyguard. Es gibt keine Paparazzis, die auf mich warten. Meine Musik ist bekannter als ich selbst es bin. So soll es sein. Bei Drake ist das anders: Er ist bekannter als seine Musik. Sobald dieser Fall eintritt, befällt einen eine hedonistische Depression. Zum Glück habe ich selbst das nie erfahren. Ich kenne andere Schwierigkeiten: etwa Situationen, wo man die Grenzen zur Bühne nicht mehr erkennt. Es gab eine Zeit, in der ich ständig als Chilly Gonzales performen wollte. Ich habe mich von Menschen nicht mit meinem echten Namen ansprechen lassen. Ich mochte es nicht, wenn jemand Jason zu mir sagte. Aber heute ist das anders. Wenn meine Freundin mich anderen Menschen vorstellt, bin ich Jason. Damit habe ich kein Problem mehr. Aber es gab eine Zeit, in der ich mich als „Gonzo“ vorgestellt habe. Das war ungesund, wie eine harte Wand. Bei einer Person wie Drake muss das wohl sehr aufgeladen sein. Wie ist das nur, wenn man alles bekommt, was man will? Ich muss jetzt an Lacan denken, der als Nachfolger von Freud gilt. Einige seiner Punkte habe ich verstanden: Es ist nicht gesund, jede Fantasie auszuleben. Fantasien haben aus einem guten Grund nichts mit der Realität zu tun. Wenn man zu sehr versucht, Fantasien zu verwirklichen, treibt man sich selbst in ein Verhalten, das einen von der Realität entfremdet. Das ist das Problem von Menschen wie Drake: Sie bewegen sich nun in einer anderen Stratosphäre, kreisen in anderen Bahnen und befinden sich nicht mehr auf diesem Planeten. Deswegen nennt man sie ja auch Stars.
Du hast den Track „Open The Kimono“ mit Bruiser Wolf aufgenommen, das ist ein Rapper aus Detroit. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit für Dein Album?
Bruiser Wolf ist auf einem Label von Danny Brown unter Vertrag. Meine Freunde und ich mögen den schnellen Flow von E-40 aus der Bay Area sehr gerne. Bruiser Wolf hat einen ähnlichen Flow, aber seine Stimme klingt viel höher. Er klingt einzigartig. Ich kenne seine Alben, irgendwann bin ich ihm auf Instagram gefolgt, dann folgte er mir zurück. Wir haben geschrieben, er reiste nach Paris und schaute sich dann auch ein Konzert von mir an. Er und seine Frau waren für eine Woche in der Stadt. Ich glaube, er hat nie zuvor die USA verlassen. Er arbeitet auch als Landschaftsgärtner, das ist auch ein Thema in einem Song. Wir haben uns sehr gut verstanden, er ist ein lieber Kerl und sehr talentiert. Ich habe ihm auch den Rest des Albums gezeigt. Er hat mich nicht nur als Pianisten wahrgenommen, sondern mich als gesamten Künstler verstanden, was ich sehr zu schätzen weiß.
Welche Rapper:innen haben Dich zuletzt begeistert?
Viele französische Rapper haben mich in ihrer Szene willkommen geheißen. Ich habe im vergangenen Jahr viel mit ihnen gemacht. Zudem bin ich großer Fan von Jonny5, ich mag Zackavelli. Und ich finde Haiyti spannend, sie hat die Kunstschule besucht. Sie ist wie ich ein Outsider im Rap. Außerdem war ich schon mit Ace Tee auf einer Bühne, sie ist eine fantastische Musikerin. Auch wenn ich ein 52-jähriger Kanadier und Europäer mit Privilegien und musikalischer Ausbildung bin, der vor allem am Piano sitzt, verstehen die Menschen, was Rap für mich bedeutet. Ich empfinde schon lange eine tiefe Liebe zu dieser Musik, die auch in Deutschland von Menschen adoptiert wurde, die selbst oder deren Eltern nicht hier geboren worden sind. Dafür gibt es immer noch nicht genug Respekt. Rap wurde natürlich in den USA von afroamerikanischen Menschen erfunden. Mittlerweile gibt es in unterschiedlichen Ländern Menschen mit internationaler Geschichte, die etwas Eigenes mit Hip-Hop anstellen. Rap dominiert heute die Pop-Kultur, unterschiedliche Menschen mit Einwanderungsgeschichte machen in den Diasporas Rap. In den USA fing es an, nun ist es fast überall. Das gerade in Europa zu sehen ist ganz wunderbar!
Mehr zu Chilly Gonzales im Kaput Podcast