„Ich hab’ bisschen Bammel, dass wir Stress kriegen“ – Auf der Fusion 2024
Das Fusion-Festival im mecklenburgischen Lärz zelebriert seit 1997 eine Art links-alternatives Live-Action-Roleplay. Dieses Jahr geriet der emanzipatorische Grundkonsens allerdings ins Wanken. Grund war der Überfall der Hamas vom 7.10.2023. Die Autorin Veronika Kracher hat sich trotzdem beziehungsweise gerade deshalb ins Zentrum des Geschehens begeben. Das hier ist ihr Erlebnisbericht.
Wie in Autonomen Zentren und in Hochschulen wird auch auf der Fusion der Nahost-Konflikt vor allem auf den Toiletten ausgetragen.
Es ist Donnerstagmittag, in der Kabine des Klos auf dem ich gerade sitze hat jemand „Fuck Anti-Deutsche“ hingeschmiert, daneben ein Sticker gegen „Israeli Apartheid“ oder „Stop Arming Israel – Stop the Genocide“, irgendwas mit den üblichen Buzzwords zur Legitimation von israelbezogenem Antisemitismus. Ich überklebe es mit einem „Free Gaza from Hamas“-Aufkleber und seufze. Das werden sicher noch ein paar anstrengende Tage.
Kurz nach dem Massaker des 07. Oktober, an dem die islamistische Terrorgruppe Hamas unter anderem das Nova-Festival überfallen und die feiernden Gäste vergewaltigt, ermordet und in Geiselhaft verschleppt hatte, veröffentlichte der Kulturkosmos, der das Fusion Festival organisiert eine Stellungnahme in Solidarität mit den Opfern. Der Terroranschlag der Hamas wurde heftig verurteilt und sich auch für das Existenzrecht Israels ausgesprochen – ein politischer Mindeststandard, der bei aller legitimen Kritik von beispielsweise der ultrarechten Netanjahu-Regierung oder der israelischen Kriegsführung eingehalten werden muss.
Ich selbst bin ja keine sonderlich begeisterte Festivalgängerin. Ich finde es falsch, mir für den Toilettengang Schuhe anziehen zu müssen (auch wenn auf der Fusion sicher eine Menge Barfuß-Hippies darauf verzichten), ich misse auch ungerne Annehmlichkeiten wie mein Bett, meine Badewanne und meine Küche. Ich schlafe gerne aus, ohne in einem Zelt bei lebendigem Leibe gekocht zu werden und ich freue mich nach Punkkonzerten oder Clubnächten in die angenehme Stille meiner Wohnung zurückkehren zu können. Außerdem bin ich über 30.
Aber der überraschend vernünftige, offene Brief des Kulturkosmos und vor allem ein Fusion-erprobter Freund*innenkreis weckten in mir zum ersten Mal seit zehn Jahren das Bedürfnis, doch mal wieder nach Lärz zu fahren, vor der Turmbühne im Sand zu stampfen, die psychedelischen Skulpturen auf dem Gelände zu bewundern und mir ganz fest vorzunehmen auf politische Info-Veranstaltungen zu gehen und dann doch währenddessen mit Freund*innen auf dem Hangar versacken.
Und dann kam der Nachschlag, verfasst auf den Druck von Gruppen und Einzelpersonen aus dem BDS-Umfeld und ein Schlag ins Gesicht all jener, die auf einen politischen Mindeststandard auf der diesjährigen Fusion gehofft hatten. Das Existenzrecht Israels wurde in diesem Newsletter als eine „deutsche Befindlichkeit“ abgetan – als wäre es nicht eine historisch notwendige Konsequenz, diesen jüdischen Schutzraum anzuerkennen, sondern Ursache eines deutschen Schuldgefühls. Dies ist ein immer wiederkehrender Vorwurf, um Kritik an Antisemitismus zu delegitimieren. Dieser Text war nichts anderes als eine Kapitulation vor dem seit Monaten immer lauter werdenden Geschrei von antisemitischen Gruppierungen wie BDS oder „Palestine Speaks“, denen es weit weniger um eine Solidarität mit der Zivilbevölkerung in Gaza geht als darum, ihrem Hass auf den einzig jüdischen Staat der Welt Luft zu machen. Kurz – im Kampf gegen Antisemitismus ist auf den Kulturkosmos leider kein Verlass.
Nach der Veröffentlichung des Statements wurde der Fusion-Chat meines Freund*innenkreises dominiert von der Frage, ob man es nicht vielleicht doch lassen sollte. Denn: Gruppen wie „Palestine Speaks“, die das Massaker des 07. Oktober als Akt der Befreiung zelebriert hatten, betrachten jedes wohlmeinende Einknicken als Sieg. Es handelt sich bei diesen Akteur*innen um autoritäre Bullies, die nichts anderes verlangen als die totale Unterwerfung unter ihre Forderungen und Ideologie (es ist auch bezeichnend, dass selbst das zweite Statement des Kulturkosmos in einem Antwort-Brief als nicht ausreichend deklariert worden ist).
Deshalb haben vernünftige Linke, wie üblich, die Sache selbst in die Hand genommen. Innerhalb von kurzer Zeit formierte sich das lose Netzwerk „Fusionistas Against Antisemitism“, namentlich angelegt an den Zusammenschluss “Artists against Antisemitism“. Mitglieder der Gruppe verfassten ein Antwortschreiben an den Kulturkosmos mit einer vehementen Kritik an deren Entsolidarisierung mit jüdischen Menschen.
Innerhalb von kürzester Zeit zimmerten die „Fusionistas Against Antisemitism“ ein Programm gegen Antisemitismus auf die Beine. Die Gründe für die Notwendigkeit dessen sind zahlreich. Es ist wichtig, Fragen und Wissenslücken zu den Themen Antisemitismus und Nahost des Fusion-Publikums aufzufangen. Es ist wichtig, aufzuzeigen, dass der Wunsch nach der Vernichtung Israels doch kein linker Konsens ist. Es ist wichtig, den BDS-Bullies aufzuzeigen, dass es Widerstand gegen ihre autoritären Boykott-Aufrufe gibt (die, wie wir an Orten wie dem About Blank oder Conne Island erkennen können, letztendlich dazu führt dass linke Räume in immense finanzielle Schwierigkeiten geraten). Und vor allem ist es wichtig, die Linke und ihre Räume nicht aufzugeben. Der Standpunkt jener Möchtegern-Ideologiekritiker*innen, die Fusion sei ohnehin verloren, ist wohlfeil und selbstgefällig. Es ist das eine, kein Interesse an dem Festival zu haben oder es als linke Bauchnabelshow zu kritisieren – das ist legitim. Aber Kritik muss dorthin getragen werden, wo Leute sie hören. Und dies von vornherein zu verweigern, ist der radikalen Linken nicht würdig. Ich kann sehr gut verstehen, dass Jüdinnen_Juden sich auf der Fusion nicht sicher fühlen und fernbleiben. Nichtjüdische Linke jedoch haben keine Ausreden, sich vor dem Kampf gegen Ignoranz und Antisemitismus zu drücken.
Die Kritik von „Fusionistas Against Antisemitism“ blieb auf dem Gelände nicht unbeantwortet – getroffene Hunde bellen. Kurz vor Beginn des Festivals verbreiteten sich besorgniserregende Bilder wie ein Lauffeuer im Internet. Rote Dreiecke – das Symbol, mit dem die Hamas ihre Ziele kennzeichnet. Hass-Aufrufe gegen „Antideutsche“ – inzwischen dient der Begriff vor allem als projektive Zuschreibung für alle Linken, die Israel nicht von der Landkarte gewischt sehen wollen. Der gesprühte Slogan „Von der Müritz an die Spree, Palestine will be free“, der vor allem Zeugnis über das historische und geopolitische Verständnis der antiisraelischen Blase ist.
Wir stellen uns darauf ein, dass es ungemütlich werden wird, packen Sticker, Spraydosen, Marker ein um in den Graffiti-Stellvertreter*innenkrieg zu ziehen. Ein Freund nimmt ein Pfefferspray mit.
Eines der ersten Dinge, das ich sehe als ich auf dem Gelände ankomme, ist ein an einem Zaun angebrachtes Transparent mit der Aufschrift „Gegen jeden Antisemitismus“, und mir wird mit einem Schlag leichter ums Herz.
Auf unserem Camp blättern wir durch das Programm und sehen die konkreten Auswirkungen unserer Interventionen. „Einführungsworkshop Antisemitismus – Geschichte, Funktionsweisen und Erscheinungsformen“. „Über Israel und Palästina sprechen“. Veranstaltungen der israelisch-palästinensichen Gruppe „Palestinians and Jews for Peace“ und „Standing Together“. Die Veranstaltung „Solidarische Bündnisse? – Antisemitismus und Rassismus gemeinsam bekämpfen“, bei der Überlebende des antisemitischen Anschlags von Halle sprechen sollten. Sie haben ihre Teilnahme nach dem zweiten Statement des Kulturkosmos abgesagt, als Jüdinnen_Juden ist die Fusion kein sicherer Raum mehr für sie. Ihre leeren Stühle stehen prominent auf der Bühne, eine der Veranstaltenden liest den offenen Brief der Gruppe vor. Am Ende der Diskussion hört sogar eine junge Frau mit Kufiya, die während eines Videos zum Anschlag in Halle vor sich hingedöst hat, aufmerksam zu. Ich selbst moderiere eine von der Berliner Antifa-Gruppe KES organisierte Veranstaltung mit dem Titel „Linke Verwirrungen. Über Antisemitismus, Islamismus und rechte Weltbilder“, es sprechen Cordula Trunk, Amina Aziz und Alisa Limorenko. Wir hatten uns dagegen entschieden, Publikumsfragen zuzulassen, aus Sorge um Störungen – wir alle haben unangenehme Erfahrungen gemacht bei Veranstaltungen zu Antisemitismus und Islamismus. Kurz vor Abschluss der Diskussion dann doch die Frage: „Wollen wir nicht vielleicht doch die Diskussion öffnen?“ Der Workshop-Hangar, in dem das Panel stattfindet, ist brechend voll, der Applaus donnernd. Am nächsten Tag werde ich mehrmals angesprochen und es wird sich für die Veranstaltung bedankt.
Die Gruppe KES betreut auch einen Info-Stand, daneben sitzen die „Artists Against Antisemitism“. Donnerstags übernehme ich eine Schicht und sitze mit einer Genossin in der brütenden Hitze. Wir verkaufen Info-Material – Bücher zu Antisemitismus, ein von Berliner Schüler*innen erstellter Comic über ihre Reise nach Israel und Palästina, Broschüren zu Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Islamismus -, es liegen Flyer der Organisation Cadus aus, die gerade in Gaza humanitäre Nothilfe leistet. Und wir verkaufen T-Shirts in Solidarität mit dem Nova-Festival. „Ich habe bisschen Bammel, dass wir Stress kriegen“, sage ich zu meiner Genossin und zünde mir eine Zigarette an. Sie nickt. „Ja, ich auch.“
Wir kriegen keinen Stress, im Gegenteil. In den zwei Stunden, die ich am Stand sitze, kommen zahlreiche Fusion-Besucher*innen um ihre Sympathie und Solidarität auszudrücken und Nova-Shirts zu erwerben – am Ende des Festivals sind sie restlos ausverkauft. Ich sehe einige DJs, die die Shirts während ihrer Sets tragen. Auch andere Künstler*innen äußern sich mehr oder weniger direkt zum Nahost-Konflikt – zu beiden Seiten, mehr oder weniger reflektiert. Ein DJ ruft dazu auf, “Antideutsche und andere Rassisten” von der Fusion zu vertreiben, der Rapper Grim 104 polemisiert gegen “linke Jihad-Fans”. Auf Bühnen fallen schlagworthaft vorgebrachte, aber unbegründete Vorwürfe wie “Siedlerkolonialismus”, “Apartheid” und “Genozid”. Einige lassen eher die Musik für sich sprechen, zum Beispiel die israelische Riot Grrrl-Band Haze’Evot, die mein persönliches Highlight des Festivals war und die live genauso gut sind wie es mir Freund*innen erzählt haben.
Am Freitag findet eine Solidaritätsaktion für Hersh Goldberg-Polin statt. Der junge Israeli wurde am 07. Oktober verschleppt, er ist in Geiselhaft der Hamas. Letztes Jahr hat er noch auf der Fusion getanzt, die Aktion wird von Freunden von ihm organisiert. Sie tragen T-Shirts mit seinem Namen darauf. Wir stehen auf dem Balkon und dem Hangar der Datscha, zünden Pyrotechnik und entrollen Transparente: „We will dance again“, der Slogan der Überlebenden und Angehörigen des Supernova-Festival. „Killing Jews is not fighting for Freedom“, „Solidarity with Supernova“. Ich bin nicht die einzige, die Tränen in den Augen hat.
„Es ist weit weniger schlimm als erwartet“, einigen wir uns während und nach der Fusion im Freund*innenkreis. Das liegt daran, dass wir nicht eingeknickt sind. Dass Raum geschaffen worden ist, um empathisch über die Komplexität des Themas „Nahost-Konflikt“ zu sprechen, um sich gegen Antisemitismus als auch gegen antipalästinensischen Rassismus zu positionieren, um Fragen zu beantworten, um eine Linke zu verteidigen, die Widersprüche aushalten und Kritik üben kann anstatt sich verkürzten Weltbildern, gefährlicher Halbbildung und antisemitischen Ressentiments an die Brust zu werfen. Wir sind zufrieden und stolz und freuen uns auf nächstes Jahr Fusion.
Als ich leichten Herzens mein Gepäck Richtung Bassliner schleppe, sehe ich das „We will dance again“-Transparent noch einmal. Es ist in der Zwischenzeit mit der Aufschrift „In Palestine“ und roten Dreiecken beschmiert worden, jemand anders hat dies wiederum übersprüht. Der Kampf geht weiter.
Text und Fotos: Veronika Kracher
(Dieser Artikel versteht sich als Erfahrungsbericht und eine persönliche Meinung. Er erhebt keinen Anspruch an politische Neutralität)