Die Mehrheit als Sekte VII

»Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!«

Im Herbst ist Bundestagswahl. Das politische Koordinatensystem ist jetzt schon zerbröselt, ganz gleich, ob es für Merkels vierte Amtsperiode doch noch reicht oder Martin Schulz als Arbeiterkaiser aus Würselen reüssiert. Wer die Gründe fürs Zerbröseln sucht, darf nicht da suchen, wo sich lautstark darüber beklagt wird – im Politikbetrieb. In einer Serie, die monatlich bis zur Bundestagswahl fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek die »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten.

»Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!«
Die Serie »Die Mehrheit als Sekte« läuft bis September, und, das war die Wette, die der Autor mit sich selbst schloss, es sollte nicht ein einziges Mal die SPD Gegenstand einer längeren Betrachtung sein. Dann kam Martin Schulz.
Die Geschichte der SPD ist tatsächlich auserzählt. Angela Merkel hat sie beerbt, ihre Politik des Aussitzens und Betäubens, ihre Kunst der kleinen Schritte und der Fixierung auf Sachfragen ist das, was von sozialdemokratischer Politik geblieben ist, nachdem sich die Partei zwischen 1998 und 2005 in den neoliberalen Ränkespielen aufrieb. Es spricht für die Entkernung dieser Partei, dass ihr Erbe von einer anderen Partei, der CDU, gewinnbringend angelegt wird. Daran ändert auch Martin Schulz nichts. Der Hype um ihn folgt aus der Schwäche Angela Merkels, das ist auf Dauer zu wenig, um eine eigenständige Politik zu begründen.

Der Fall Schulz ist also ein Fall Merkel: Die Kanzlerin hatte es spätestens nach ihrer ersten Amtsperiode geschafft, die Wählerschaft im Prinzip in zwei Lager aufzuteilen: ein stabiler, übrigens gar nicht mal so großer Kern von Merkel-Begeisterten schwamm im Meer der Merkel-Indifferenten – und soff nicht ab. Es gab schlicht keine Merkel-Hasser mehr, wer nicht für sie war, war zumindest irgendwie ganz zufrieden. In der Art und Weise, wie Merkel Politik betrieb, erkannten fast alle Wähler – die Parteipräferenz spielt keine Rolle – das ideale Maß ihrer Lebensführung. Merkel avancierte zum role model, daher ihre Unangreifbarkeit, sie verkörperte keine Politik, sondern eine Lebensform. Diese exemplarische Vorbildfunktion hat sie verloren, Grund ist der »Sommer der Migration« vor anderthalb Jahren. Auch damals verfolgte Merkel ihre Politik der kleinen Schritte, das Aussitzen und Betäuben der Öffentlichkeit, das Auflösen von Konflikten in Sachfragen, allerdings auf einer weltpolitischen Bühne, auf der ihre Instrumente eine ganz andere Wirkung zeigten. Die Grenzen zu öffnen, mag einer kühlen, pragmatischen Berechnung gefolgt sein – alles, was dann folgte ließ sich, auf Jahre hinaus, nicht mehr berechnen. Merkel hielt aber an ihrem Pragmatismus fest, was wäre ihr auch anderes übrig geblieben?, der daraufhin immer liberaler, immer humanistischer, kurzum: immer mehr wie eine echte Weltanschauung aussah. Sie bot Reibungsfläche, unfreiwillig, und die Folge war, dass zum ersten Mal handfeste Merkel-Gegner sichtbar wurden und Gehör fanden, sie nahmen ihr den Nimbus der Unangreifbaren.

Die SPD hat das gerade noch rechtzeitig gemerkt und mit Martin Schulz einen Spitzenpolitiker präsentiert, der dennoch, weil er bundespolitisch nie aktiv war, unverbraucht erscheint und sich als Außenseiter des hiesigen Politikbetriebs inszeniert, der über alle Institutionen hinweg direkt zu den Massen spricht. Er macht sich noch etwas anderes zunutze: Auch Schulz, alles andere als ein Linker, hatte sich vor zwei Jahren am großen Griechenland-Bashing beteiligt, auch ihm ging es darum, die griechische Linksregierung kaputt zu verhandeln und die deutschen Interessen europaweit zu wahren, viele haben das nicht vergessen, Schulz steht durchaus für eine nationalistische Agenda. Aber anders als Finanzminister Schäuble stellt er sich die Frage, warum innenpolitisch Deutschland auf dem strikten Sparkurs, wie er mit der sozialdemokratisch-neoliberalen Agenda 2010 einst gesetzt wurde, bleiben muss. Schulz stellt vage Umverteilung in Aussicht und eine weniger repressive Regelung des Arbeitsmarktes – die, geht man nach seinen wenigen, dürftigen Äußerungen, übrigens nicht für Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Empfänger gilt.
Es gibt wieder was zu verteilen, das ist die frohe Botschaft des Martin Schulz. Das reicht schon, um die Stimmung kippen und Merkel ideenlos dastehen zu lassen. Wohlgemerkt: die Stimmung, denn ob sich aus der Beliebtheit des neuen SPD-Vorsitzenden ein Trend ableitet, sich gar eine Bewegung entwickelt, ist doch recht fraglich – schon die Landtagswahl im Saarland hat die Grenzen des Hypes aufgezeigt. Würde Schulz im Zuge seiner Umverteilungspläne eine rot-rot-grüne Regierungsoption präferieren, »R2G«, wäre das nicht nur eine Kurskorrektur, sondern – in den Augen der Öffentlichkeit – ein radikaler Politikwechsel. Einen solchen nachhaltigen und tiefen Bruch mit Merkels Pragmatismus wollen aber die wenigsten der Wähler. Martin Schulz übrigens auch nicht.

Und so tritt nach der ernüchternden Saarland-Wahl der frisch gekürte Arbeiterkaiser ziemlich ratlos vor das Publikum. »Republik, das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel!«, das war nach 1918, der halben Revolution – die nicht zuletzt dank der Sozialdemokratie nur eine halbe blieb –, die Erwartung, die ein Großteil der sozialdemokratischen Wählerschaft an die Partei herantrug (in den späteren Jahren der Weimarer Republik wurde sie zu einem Kampfruf der Jungsozialisten). Die Republik haben wir erkämpft – aber wann folgt der zweite, wichtigere Schritt? Er folgte nie. Das war kein Verrat, sondern ist die Logik der Partei, das politisch-gesellschaftlich Minimale als das maximal Erreichbare auszugeben.

Tatsächlich gab es einst einen Arbeiterkaiser in deutschen Landen, das war Ferdinand Lassalle (1825-1864), ein flamboyanter Typ, dessen Biographie und Wirken unendlich viel interessanter sind als seine bizarr überambitionierten Schriften. Kurz vor seinem strunzdummen Ende, er ließ sich zu einem Duell hinreißen, war er Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und in dieser Funktion einer der Gründerväter der heutigen Sozialdemokratie. In der Ödnis der deutschen Konterrevolution nach 1848 agitierte er als einer der ersten wieder die Arbeiter – und wie er das tat, ist bis heute exemplarisch, er konnte sich wunderbar über die »verdammte Bedürfnislosigkeit« der Proleten echauffieren:
»Ihr deutschen Arbeiter seid merkwürdige Leute! Vor französischen und englischen Arbeitern, da müßte man plädieren, wie man ihrer traurigen Lage abhelfen könne, euch aber muß man vorher noch beweisen, daß ihr in einer traurigen Lage seid. Solange ihr noch ein Stück schlechte Wurst habt und ein Glas Bier, merkt ihr das gar nicht und wißt gar nicht, daß euch etwas fehlt.«
Manche Sache ändern sich nie.

Lassalles Traum war freilich, mit Bismarck persönlich über die Errichtung einer sozialen Republik zu verhandeln. Das war vielleicht doch etwas abwegig. Schon damals war der Arbeiterkaiser ein hochgradig ironischer Begriff. Für diese historische Ironie ist Martin Schulz, wie könnte es auch anders sein, unempfänglich. Neu an seinem Auftreten ist bislang das Ausmaß der Selbsttäuschung, irgendwann wird er die berauschte Partei auf die Ernüchterung vorbereiten. Bislang mussten siegreiche Sozialdemokraten ihren Wählern regelmäßig erklären, warum sie ihre Wahlversprechen und ihre programmatischen Verheißungen nun doch nicht erfüllen könnten, sie wurden im Laufe der Jahrzehnte zu Virtuosen der Enttäuschung, darin bestand ihr Beitrag zur Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus. Von diesem – traurigen – Niveau ist Schulz weit entfernt.

Deshalb wird die Akte SPD hier auch schon wieder geschlossen.

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