Notizen aus dem Patriarchat

Unkaputtbare Männerbühnen? – Weiterhin keine Frauen bei Rock am Ring & Co.

Frauen zieht es nicht ins Rampenlicht, Männer sind von Natur aus die besseren Musiker, Frauen spielen halt lieber gar nix oder Blockflöte… Die Mutmaßungen, warum es so wenig Künstlerinnen auf Festivalbühnen gibt, wirken oft etwas – vorsichtig gesagt – unbeholfen. Vielleicht auch weil der Blick sich gar nicht wirklich traut, einmal umherzuschweifen. Denn sonst käme er beispielsweise auch nicht an den “Triebtäter”-Westen vorbei, die Männergruppen beim aktuellen Rock am Ring trugen.
LINUS VOLKMANN machte sich ein Bändchen um, traf Booker und Musikschaffende. Eine kleine Reportage vor Ort und hinter den Kulissen ist dabei herausgekommen.

Das zentrale Line-Up von Rock am Ring 2019. Wir sehen hier 76 Acts – das bedeutet in diesem Fall 271 Menschen auf der Bühne. 262 sind Männer, neun Frauen. Typenanteil damit fast 97 Prozent.

Es ist trotz frühen Abends noch immer heiß, es ist außerdem voll, es ist Beverungen. Ein eigentlich geruhsamer Unort, an jenem geographischen Punkt, an dem sich Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen treffen.
Zufällig kommt hier kaum jemand vorbei.
Die Absicht, die drei Tage lang ein paar tausend Menschen auf dem beschaulichen Gelände eint, heißt dabei wie jedes Jahr Orange Blossom Festival.
Das Plattenlabel Glitterhouse lockt mit einem Open Air jedes Jahr Zuschauer und Bands in sein Provinz-Empire. Ich stehe verdammt weit hinten. Die Hauptbühne kann man von meinem Platz nicht wirklich einsehen, dafür hört man sie gut. Gerade erzählt Olli Schulz etwas zwischen einem Song, wie immer dauert das recht lang, ich glaube, er tritt in irgendeinen Dialog mit Zuschauern.
Neben mir turnen zwei Mädchen herum, ich schätze sie auf neun. zehn, elf. Sie sind braun gebrannt, der Sommer hatte es im letzten Jahr schon früh sich. An Olli Schulz, oder besser an dem, was von ihm über die Lautsprecher dringt, zeigen die beiden kein Interesse. Das ändert sich schlagartig, als Schulz das Mikrofon für einen Gag ins Publikum gibt und eine Frau aber statt Quatsch reinzubrüllen, acapella zu singen beginnt. Sie hat es drauf, singt einen Klassiker, Mariah Carey, Whitney Houston oder so. Die eben noch völlig vom Bühnengeschehen entkoppelten Mädchen recken ihre Köpfe, sind ganz aufgeregt. Steigen auf einen Baumstumpf, sie wollen sehen, was da vorne los ist. Man merkt, sie fühlen sich plötzlich gemeint, werden repräsentiert. Sie freuen sich über ein unerwartet aufgetauchtes Role-Model: Die weibliche Stimme auf der Festivalbühne.

Hoffnungslos
An diesen Moment muss ich Monate später wieder denken. Gerade hat das Hurricane-Festival in Scheeßel seine ersten Bands annonciert. Über zwei Dutzend Acts, inklusive vier Headliner: The Cure, Mumford & Sons, Die Toten Hosen und die Foo Fighters. Hochkarätig besetzt geht es auch dahinter weiter. Allerdings findet sich keine einzige Frau in diesem von einem aufwändigem YouTube-Clip flankierten Roll-Out. Schade – und das nicht nur für die zwei Mädchen vom Orange Blossom Festival.
Denn die Diskussion um das Thema Festivals als Männerbühnen wird bereits seit einigen Festivalsommern geführt. Mit dieser ersten Bandwelle des Hurricanes fühlt es sich an, als wäre sie zurück auf null.

„Neben gesellschaftlich und medial geprägten Rollenbildern fallen erste Entscheidungen beispielsweise schon unbewusst bei der Musikinstrumentenwahl. Festivals sind immer Ausprägungen unserer Gegenwartskultur, und einer nachhaltigen Veränderung muss zwingend ein gesamtgesellschaftlicher kultureller Wandel vorangehen.“ 

Mädchen suchen sich intuitiv die falschen Instrumente aus, außerdem hat die Gesellschaft Schuld?
So wird es später in der Stellungnahme des Hurricane-Festivals heißen.
Stellungnahme? Ja, genau. Eine solche wurde notwendig, da im Netz (nach der ersten Fan-Begeisterung für einzelne Acts) ein Shitstorm über die Veranstalter hereinbrach ob der pimmeligen Ausschließlichkeit ihrer ersten Ankündigungen.
Bei null ist das Thema eben nicht mehr, darüber kann man sich mindestens genauso freuen, wie die Hurricane-Macher die schlechte Presse sicher ärgerte. Denn dass ihr Billing den Aufhänger lieferte, scheint eher Zufall. Unzählige solch ungünstiger Geschlechterverhältnisse finden sich auf den Plakaten der hiesigen Festivallandschaft. Eine Erhebung von female:pressure kommt im Jahr 2017 bei elektronischen Festivals auf eine Quote von 78% reinen Männer-Acts auf den Bühnen. Bei Genres wie Metal, Punk, HipHop dürfte sich das Zählen weiblicher Künstler oft gar nicht erst lohnen, hoffnungslos. Da wirkt dann das gescholtene Hurricane fast wieder progressiv, das mittlerweile zwar weiterhin keine weiblichen Headliner aber doch etliche Künstlerinnen in seinem Programm für diesen Sommer führt: Christine & The Queens, Alma, Alice Merton, Gurr, Sofi Tukker, Steiner & Madlaina und Sookee zum Beispiel.

Schlüsselwandel
Schön und gut. Doch wie soll sich ein gesamtgesellschaftlicher kultureller Wandel ausgehen, wie ihn die Stellungnahme der Hurricanes als Voraussetzung nennt, wenn der Status Quo eben auch in Festival-Line-Ups immer nur repetiert wird?
Dieser Verantwortung stellt sich Keychange. Diese internationale von der EU geförderte Kampagne hat das Ziel ausgegeben, im Jahre 2022 ein Verhältnis von 50:50 hinsichtlich Frauen und Männern auf Festivalbühnen zu erreichen.
Ein ambitionierter Ansatz, der viele Kulturschaffende und Open-Air-Begeisterte motiviert – genauso allerdings auch mit seiner bloßen Verheißung im Internet Bedenkträger-Flashmobs heraufbeschwört. Was soll nur aus der Livemusik-Welt und den Foo Fighters werden, wenn Frauen wirklich mehr Raum einnähmen?
Auch in Deutschland ist Keychange aktiv, das Reeperbahn Festival stellt einen der Partner dar. Darüber hinaus zeigt man sich hierzulande allerdings skeptisch. Der Selbstverpflichtung für 2022 haben sich über hundert Open Airs angeschlossen – aus Deutschland kommt mit neun Unterzeichnern nur ein sehr geringer Teil.

Why not?
Wobei es natürlich vermessen wäre, Bookern anti-emanzipatorische Umtriebe zu unterstellen. Der Festivalmarkt ist ein umkämpftes Geschäft, niemand kann sich wie im Supermarkt einfach all die Acts aussuchen, die er gerne hätte – oder sie sich oft überhaupt auch nur leisten. Konkurrenz, Kostendruck und vertraglich geregelter „Gebietsschutz“ sind Alltag beim Zusammenstellen der Bandliste. Hinter solch zugegeben stabilen Mauern lässt sich bequem jedes Line-Up auf die herrschenden Sachzwänge schieben. Das wäre aber auch zu billig, denn es gibt natürlich immer Spielraum.
Man muss ihn bloß auch nutzen wollen.
Dass es die Bands mit weiblicher Beteiligung nicht gäbe, ist jedenfalls ein Argument, dass die jüngsten öffentlichen Diskussionen zersetzen konnten. Beispielsweise gestaltete der Deutschlandfunk für seine Sozialen Medien das Plakat zu einem Fake-Festival. Einem echten zum Verwechseln ähnlich, bloß statt wie sonst (fast) ausschließlich männliche Acts zu annoncieren, fand man hier bloß weibliche. Das Billing las sich nicht nach Nische oder Fantasy, sondern sollte sichtbar machen, dass mit mehr Frauen auf den Bühnen nicht das Ende der Popwelt, wie man sie kennt, hereinbrechen wird.

Aber um eine solch veränderte Geschlechterrepräsentation zu erleben, muss man gar nicht ins Jahr 2022 oder in Photoshop blicken. Denn auch wenn gerade die deutschen Festivals sich nicht auf einen Umschwung für in vier Jahren committen wollen und können, heißt das nicht, dass sich jetzt nicht bereits viel tut.
Das Primavera veröffentlichte wenige Wochen nach dem ersten Hurricane-Aussand bereits sein komplettes Line-Up für 2019. Hier sieht die Welt schon ganz anders aus. Ein paritätisch besetztes Festival mit unter anderem Cardi B, Janelle Monáe, Courtney Barnett, FKA Twigs, Christine and the Queens, Robyn aber eben auch Nas, Jawbreaker oder Interpol. So selbstverständlich kann es also jetzt schon gehen, denn das Mega-Happening in Barcelona Ende Mai macht den Umstand nicht mal groß zum Thema oder Motto. Die Botschaft viel eher: Geht doch, weiß gar nicht, warum sich alle immer so haben?
Das Primavera ist damit auch nicht allein. Schon letztes Jahr gelang es dem Iceland Airwaves Festival auf Island eine 50:50 Quote anzubieten.
Will Larnach-Jones von jenem Festival sieht in dieser Vorreiterrolle dabei auch eine Kontinuität der isländischen Gesellschaftsverhältnisse: „Island war immer weit voraus hinsichtlich Geschlechtergerechtigkeit. 1980 stellte Vigdís Finnbogadóttir die weltweit erste direkt gewählte weibliche Staatspräsidentin. Im Jahr 2009 wurde mit Jóhanna Sigurðardóttir eine offen lesbisch lebende Frau Premierministerin, aktuell hat Katrín Jakobsdóttir das Amt der Premierministerin inne.“
Es verwundert daher nicht, dass jenes Iceland Airwaves im Rahmen der Keychange-Initiative als eine treibende Kraft auftritt.
Auch die Legende, man würde den Zuschauer mit einem solchen Angebot nicht nur gegen sich auf- sondern vor allem von sich wegbringen, kann Larnach-Jones nicht bestätigen. Dabei betont er, dass man sich auch keiner strafenden Quote unterjocht sieht: „Wir suchen einfach qualitativ hochwertige Acts, die zu unserem Festival passen.“

Der Musiker Drangsal skandalisierte den “Triebtäter”-Flashmob auf dem Rock am Ring 2019 auf Instagram.

Kampfbegriff: Quote
In Diskussionen zum Thema fungiert das Argument der Quote ohnehin kaum noch als Lösungsweg sondern oft bloß als Brandbeschleuniger. Die Quote als verschlimmbessernder Eingriff in die „natürliche“ Ordnung der Dinge.
Das sieht auch die feministische Berliner Rapperin Sookee so:
„Das Argument, dass Qualität sich nun mal aus sich heraus durchsetzen muss, sperrt sich der fortschrittlichen Logik von Quoten als temporäre Strategie zugunsten von Chancengleichheit. Da steckt eine Menge kapitalistischer Altbackenheit in einer Sphäre, die sich auch ganz entspannt für Zukunftsmusik interessieren könnte.“

Nun, zumindest interessiert sich die Gegenwart schon mal für Sookee. Sie taucht diesen Sommer auf wirklich etlichen Festival-Line-Ups auf. Mehr denn je. Ob dabei jedes Booking auch auf dem vielschichtigen und mittlerweile sechs Platten umfassenden Katalog von Sookee fußt – oder ob sich manches Open-Air auch bloß nicht dem Vorwurf aussetzen will, wieder nur Typen einbestellt zu haben? Müßig solche Fragen zu stellen und es wird auch der Künstlerin nicht gerecht, wenn immer mitschwingt, sie sei möglicherweise nur hier, weil sie die Fraktion von aufgeklärtem feministischem Pop repräsentiert. Und selbst wenn das so wäre, es wurden sicher schon tausende Bands aus weit schlimmeren Gründen zu Festivals geladen.
Sookee sieht das ähnlich: „Offene Türen sind zum Durchgehen da!“
Doch auch in der deutschen Festivallandschaft war man zuletzt nicht mehr nur darauf angewiesen, dass Kommissar Zufall oder auch mal ein wenig Vorsatz die Verhältnisse etwas paritätischer sortierten. Ende 2018 fand in Hamburg erstmalig das Further Festival statt. Das Line-Up bestand ausschließlich aus Künstlerinnen. Ms Banks, Margarete Stokowski, Ebow, Klitclique, Paula Irmschler, Stefanie Sargnagel und auch wieder Sookee performten vor Ort. Aus dem Erfolg bei den Publikumszahlen hat das Projekt nun ein regelmäßiges Mandat abgeleitet, zumindest wird diesen Herbst eine weitere Auflage stattfinden. Dass die Alltagspraxis eine große Rolle beim Thema Unterrepräsentation spielt, davon ist auch Further-Bookerin Vanessa Cutraro überzeugt: „Ich glaube, es hat mit den Strukturen zu tun. Nach wie vor sind die meisten Festivalbooker männlich und sie arbeiten mit Booking-Agenturen zusammen, die ebenfalls männlich sind, buchen deren männliche Bands und die nehmen wiederum ihre Kumpel-Band mit auf Tour. Es sind einfach verschiedene Kettenreaktionen.“

Female Washing
Eine Kettenreaktion zeichnet sich allerdings auch bereits beim Thema Frauen auf Festivalbühnen ab. Den Rückenwind positiver Presse, die zuletzt das Primavera-Line-Up einstrich, dürften auch manchen konservativen Traditionalisten im Business triggern, den das Thema bislang eher weniger rührte. So dürfte es keine zu gewagte These sein, dass Geschlechtergerechtigkeit für die Festivals im nächsten Jahrzehnt das Hype-Thema werden wird. Wie es schon das „grüne Festival“ in Zehnern darstellte. Female-Washing statt Green-Washing – was so viel bedeutet wie, dass sich Marken über zur Schaugestelltes gesellschaftliches Engagement ihr eigenes Image polieren wollen. Übliche Praxis. Dass also der zu erwartende Aktionismus auch jede Menge Blödsinn und manch neue Ungleichheit produzieren wird, steht dabei außer Frage. Doch wenn Festivals dabei wieder mehr als Möglichkeitsräume und als kleine Utopie-Maschinen verstanden und genutzt werden, wird nicht nur der genderneutrale Pop-Fan von den Entwicklungen profitieren. Hier ist mehr drin, hier lohnt es sich mitzudiskutieren, sich einzubringen, sich reinzuhängen.
Und damit die Diskussion nicht mehr auf null zurückfällt, gehört das letzte Wort noch mal Will Larnach-Jones von Icland Airwaves. Er quittiert eines der am meisten verbreiteten Bedenken beim Thema mehr Frauen auf Festivals. Nämlich dass es doch gar nicht genug Künstlerinnen mit Qualität gäbe, um die ganzen Bühnen auch zu füllen.
„I think that’s complete nonsense.“

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