Sophie: Just like we never say goodbye
Es ist seltsam, wie einen der Tod eines Menschen, den man nie kennengelernt hat, ergreifen kann. Wie man tränenschwer sitzt und schluchzt, obwohl man nur ein Bild von jemand kennt, ein „Image“. Das letze Mal ging es mir wie vielen anderen Leuten so bei den großen Stars der 80er, Michael Jackson, Prince, David Bowie, aber auch bei den alten Subkultur-Idolen wie Mark E Smith, Genesis Breyer P Orridge oder Pete Burns. Sie alle hatten mich durch meine Jugend begleitet und geprägt und es war, als stürbe ein Teil von mir mit ihnen. So ist das wohl, wenn man älter wird. Dass es mich jetzt so schüttelt und ich wirklich in Tränen aufgelöst nicht fassen kann, dass Sophie gestorben ist, das ist nochmal was Anderes.
Sophie begleitet mich nicht mein ganzes Leben, ich bin fast 50, und die ersten Tracks habe ich vor knapp fünf Jahren gehört. Fünf Jahre sind keine Zeit. Ich erinnere mich gut, wie ich mit Freunden damals quietschend vor Glück “BIPP” und “LEMONADE” gehört habe, diese neuen hochartifiziellen Sounds, futuristisch, hypermodern und so unfassbar entschlossen. Wir waren im Glück.
Sophie war damals noch eine anonyme durchsichtige Figur, ihre Sounds aber waren wie greifbare Objekte. Geräusche, an denen so lange gearbeitet wurde, bis sie in 3D Surround-Breitband-Multiplex-Blockbuster-Manier in sich erzählerische Produkte wurden. Nur Sophie konnte ein „Wooosh“,„Bleep“ oder „Wrooouum“ erzeugen, das so kompakt und klar durch die Boxen drang wie ein irres hochglänzendes Plastikobjekt. Sophies Sounddesign war um Meilen entfernt von altbekannten Hörgewohnheiten und zugleich einladend und verlockend. So etwas muss man lieben, denn die besten Dinge sind oft eben genau solche Spagate zwischen Hyperkommerz und sperrigstem Experiment. Eine fremde und seltsame Welt mit offenen Armen.
Durch Sophie habe ich damals auch das junge Label PC Music kennengelernt, und war glücklich, dass sich da etwas formierte, bei dem es um die freudvolle Inszenierung absoluter Gegenwart ging. Ich musste an die Blitz-Kids der 1980er denken oder Les Disques du Crepuscule oder sogar meinethalben ZTT mit ihrem von Paul Morley in jedes Plattencover und jeden Auftritt hineingetriebenen Kunstanspruch. All das kannte ich aus meinen prägenden Jahren und liebte es. Und all das war lange her.
Doch dank Sophie konnte mein innerer junger Claus nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder sehnsuchtsvoll singen: „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“. Denn PC Music war eben genau so ein genialer Spagat zwischen Ultra-Kommerz, abstruser Insider-Avantgarde und Freude am Gesamtkunstwerk. Hurra es gibt sie noch, die brennende Hoffnung auf den ganz großen Pop, die alles durchziehende enthebende Inszenierung aufreizender Künstlichkeit. Yes!
Und dann wurde 2018 mit dem dramatisch-sentimentalen Vocal-Track „Its OK to Cry“ im dazugehörigen Video Sophie ganz plötzlich offensiv sichtbar. Zwischen künstlicher Morgenröte, Sternenfirmament und prasselndem Regen, außerweltlich schön, mit grotesk hohen Cheekbones, starren roten 20er-Jahre Filmdiva-Haaren, überhöhter Ultrakünstlichkeit, übervollen hochglänzenden Lippen und einer distinguiert-sinnlichen dandyhaften Verfeinerung, wie sie nur aus Schottland kommen kann, erschien Sophie mit Nachdruck als selbstbewusste Trans-Frau. Nach Jahren der größtmöglichen Öffentlichkeitsscheu war Sophie plötzlich so sichtbar wie der Sophie-Sound, ausgefeilt, durchdacht, larger-than-life, und durch und durch Popstar.
Und was für ein Popstar. Das schönste, schillerndste, eleganteste, sinnlichste Pop Produkt der Gegenwart. Ich kann mir vorstellen, dass wegen Sophie Menschen ohnmächtig geworden sind. Hier war ein echter Star, so entrückt und aller profaner Welt enthoben wie damals David Bowie, vielleicht kurz auch Madonna in ihrer „Sex“-Phase – und das gepaart mit einem extremen Talent für musikalische Neuerungen, Sophie war schlagartig der perfekte Superstar der Zukunft.
„It’s OK to cry“ war ein Geniestreich in der Art von Mutters 1994 nach Jahren von düsteren Doom-Songs erschienenem sanftmütigem Album „Hauptsache Musik“, ein Moment von unironischer emotionaler Zartheit inmitten eines offensiven, harten Oevres. So wenige trauen sich zu brechen mit dem, was sie einmal begonnen haben, aber eigentlich sollte es doch immer darum gehen dürfen, dass Sanftheit und Härte, Melancholie und Sex, Macht und Hilflosigkeit sich nicht ausschliessen und manches Mal sogar gleichzeitig da sind. Und so folgte dann auch auf diese schwebenden Bestandsaufnahme melancholischer Zartheit sofort wieder das Gegenteil:„Ponyboy“, ein harter kantiger und hochaggressiver Track, in dem Sophie mit noch wilderen Cheekbones und zwei befreundeten Tänzerinnen im Video vor den großartig stroboskopisch flackernden Typographien von Eric Wrenn in einer sexuell aufgeladenen, dekadenten und so furchteinflössenden wie faszinierenden Orgiastik zur Fantasy-Domina mutiert. Wie Sophie im Video an einer elektrischen Vapor-Zigarette zieht, diese dann auf den Boden wirft und mit Verachtung austritt wie eine elende Kippe, das vergisst man nie mehr.
Sophie schien wirklich wie eine Göttin, scheinbar enthoben jeder einengenden Realität, eines der so seltenen raren Beispiele wie man ein neues Leben leben könnte. Haters gonna hate. Eine „Goddess“, nicht nur für die Trans-Community, sondern für alle, die eine Sehnsucht in sich tragen nach ein bisschen mehr als dem, was ist. Man kann Sophie nicht genug danken dafür, dass sie so unfassbar cool und elegant klar gemacht hat wie ein echter Popstar der Gegenwart hätte sein können.
Und nun ist sie gestorben, anscheinend verunglückt als sie in Athen dem Vollmond entgegenklettern wollte. Vielleicht wäre Sophies nächstes Album eine Vertonung von Ralph Waldo Emersons „Nature“ geworden, sehnsuchtsvoll den Sternen entgegen und zugleich als Mensch durch und durch in der eigenen künstlichen Welt zuhause.
Vielleicht.
Ihr Tod hat mich so erschüttert, weil Sophie eine gerade erst richtig erblühende Lichtfigur war in einer immer gleicher werdenden Welt. Ich habe geheult wie ein Schlosshund und geschimpft und gebrüllt ob dieses plötzlichen Verlustes, es ist, als sei jemand gestorben, der mich seit meiner Jugend begleitet hätte. Dabei waren es nur sechs Jahre. Es hätten so viel mehr sein sollen.
Claus Richter