CHU: “Ich habe einen starken Kontrollanspruch”
Chuala Hinrichs ist 23 Jahre alt, an der Nordsee aufgewachsen und lebt in Berlin. Vor kurzem hat sie ihre Debüt-EP »2 my dead father« veröffentlicht. So weit eine ganze normale Coming-of-Age-Popmusiker:innen-Biographie. Doch CHU hat schon im Alter von 14 Jahren einen Vertrag beim Major-Label Warner unterschrieben, seitdem schreibt sie Songs für Andere, seit sieben Jahren steht sie bei Universal unter Vertrag.
Wer die Song-Credits auf Veröffentlichungen genau studiert, wird ihren Namen unter anderem bei Fler finden, für den sie unter anderem Vocals auf “Episch” und “Du hast den schönsten Arsch der Welt” eingesungen hat. Meistens aber bringt sie Pop und EDM in die Radios der Welt wie beispielsweise für David Puentez und Moguai. Auf ihrem Debüt hingegen verhandelt CHU nun den Tod ihres Vaters, den sie nie persönlich treffen konnte. Eine Frau, die jahrelang die eigene Person und den eigenen Geschmack hinten anstellen musste, zeigt sich auf ihrem ersten eigenen Projekt absolut intim.
Im Kaput-Gespräch werfen Till Wilhelm und CHU gemeinsam einen Blick auf die Abläufe hinter den Kulissen der Popmusik, CHU erzählt von Songwriting-Camps und der Absurdität des Authentizitätsanspruchs, der in Deutschland herrscht. Außerdem spricht sie über die Beziehung zu ihrem Vater und den Entstehungsprozess ihrer ersten, ganz eigenen, EP.
Till Wilhelm: Bezeichnest du dich als Ghostwriterin?
CHU: Ich würde es Songwriting nennen. Die Differenzierung ist wichtig. Ghostwriting bedeutet, dass du etwas schreibst, deine Arbeit aber im Nachhinein verheimlicht wird. Das würde beispielsweise bei Rapper:innen vorliegen, die jemandem eine bestimmte Summe bezahlen, damit die Person auf ihre Rechte an den Songs verzichtet. Das ist in Deutschland eine rechtliche Grauzone, Urheberrechte gelten hier als besonders schützenswert. Du besitzt in Deutschland immer die Rechte an dem, was du komponiert oder geschrieben hast.
Ich hingegen bekomme Credits an den Songs, die ich geschrieben habe, das ist dann auch auf Streaming-Plattformen einsehbar. Dementsprechend bekomme ich Streaming-Dividenden. Rechte an den Masters habe ich aber nur, wenn ich produziert habe oder meine Stimme zu hören ist.
Wie hat man sich deine Arbeit als Songwriterin im Kontext solcher Auftragsarbeiten vorzustellen?
Es gibt verschiedene Herangehensweisen. Entweder bekommt man ein Briefing, oder man schreibt in Songwriting-Camps. Bei ersterem bekomme ich Informationen von einem Label, beispielsweise darüber, dass Künstler:in XY ein Album macht oder Singles sucht. Das können deutsche oder internationale Artists sein, aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine Einreichung angenommen wird, ist sehr gering. Eine Madonna nimmt eher einen Song von Justin Timberlake an als einen von mir.
Es gibt auch Gelegenheiten, bei denen man selbst mit Künstler:innen ins Studio geht. Das ist meine bevorzugte Arbeitsweise.
In welchen Genres bist du besonders aktiv?
Pop und unangenehmer Radio-EDM. Ich mag es sehr, das zu schreiben, es ist oft weniger verkopft. Aber ich würde mir die Musik zu einem Großteil in meiner Freizeit nicht anhören. Die Songs schreibe ich für mittelgroße bis große DJs und Sänger:innen. Wenn es um junge Menschen geht, die vom Label aufgebaut werden sollen, dann findet das Songwriting eher in gemeinsamen Sessions statt.
Wie läuft so ein Songwriting-Camp ab?
Die werden entweder für bestimmte Künstler:innen organisiert oder stehen unter einem Motto, beispielsweise “Alpen-freundliche Schlager”, oder “Songs, die im Streaming gut ankommen”, oder auch “Songs für DJs, die Toplines suchen”. Im Studio wird man dann in kleine Gruppen eingeteilt, in denen Songwriter:innen, Vokalist:innen und Produzent:innen zusammen kommen. Die Gruppen rotieren meistens, du arbeitest jeden Tag in einer anderen Konstellation. Pro Tag sollte man dann schon zusammen mindestens einen Song schreiben.
Ich komponiere hauptsächlich Melodien und schreibe Texte, bin aber auch in die Produktion und das Arrangement eingebunden. Man arbeitet Hand in Hand mit den Produzenten. Abends kommen die Künstler:innen, für die man schreibt, oft vorbei und hören sich an, was am Tag entstanden ist.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende wirklich ein Song auf der Veröffentlichung landet?
Das kann man nicht so genau sagen. Bis jetzt hatte ich das Glück, dass fast alles, woran ich in Camps mitgewirkt habe, irgendwann veröffentlicht wurden. Manchmal dauert das aber auch eine Weile. Ein Song kann geschrieben werden und erst ein Jahr später das Tageslicht erblicken.
Wird euch vorab gesagt, welches Thema die Songs behandeln sollen?
Das ist sehr unterschiedlich. Bei einem Camp wurde beispielsweise gesagt, mögliche Thematiken seien »Love, Dancing, Rainbows« – das ist natürlich sehr offen, aber dann weißt du, politische Texte sind hier eher unerwünscht.
Songs mit sehr persönlichen Themen entstehen eher in Zusammenarbeit mit Songwriter:innen, das passiert dann zumeist in gemeinsamen Sessions, nicht in Camps. Das sollte auch nicht verpönt sein. Wenn jemand dabei hilft, die eigenen Erfahrungen in Worte zu packen, ist das doch sehr schön. Die größten Bands mit den größten Hits waren immer zu zehnt im Studio. Kollektive Kreativität sollte nichts Negatives sein. In den USA ist es normal, dass zwanzig Leute zusammen im Studio sitzen. In Deutschland wird immer noch schnell die Studiotür zugemacht, damit sich niemand Credits abholen kann.
Wie wird Songwriting entlohnt? Kannst du davon leben?
Das ist abhängig davon, wie erfolgreich die Songs werden, die man schreibt. Außerdem spielt der Deal der Künstler:innen und der Deal, den du selbst hast, eine Rolle. Wenn du alleine mit einem unabhängigen Artist einen Song schreibst und der wird ein Hit, kannst du erstmal gut davon leben. Wenn ein Song, an dem du mit vier anderen geschrieben hast, nur 100.000 Streams erreicht, und dann noch ein Label mit drin hängt, springt am Ende sehr wenig bei raus. In der gesamten Musikindustrie herrscht sowieso konstante Unsicherheit. Als Songwriter:in spürst du das sehr stark. Wer auf Sicherheit steht, sollte nicht in die Musikindustrie gehen.
Wie authentisch empfindest du einen solchen Songwritingprozess?
Ich habe keinen Authentizitätsanspruch an Artists, mit denen ich arbeite. Bei denen, die ich privat höre, ist das anders. Man kann sehr gut unterscheiden zwischen Interpret:in und Künstler:in. Erstere sind eben Performer, Entertainer. Im Bubblegum-Pop spürt man deutlich, wer eigene Texte schreibt. Wenn man voll hinter einem Song steht, ist es mir egal, ob man die Texte selbst geschrieben hat. Ich selbst habe einen starken Kontrollanspruch, aber ab einem gewissen Erfolg ist das nicht mehr möglich. Wenn du durchgehend auf Welttournee bist, kommst du nicht mehr dazu, eigene Songs zu schreiben.
Wie gehst du damit um, wenn du Anfragen für Artists bekommst, die sich problematisch äußern?
Es gibt natürlich Leute, gerade im Rap, mit denen ich nicht zusammenarbeiten würde. Aber die Anfrage wäre auch unrealistisch. Bisher musste ich mir die Frage nicht stellen. Wer rassistisch ist, schickt mir wahrscheinlich keine Anfrage. Letztens hatte ich mit Freund:innen eine Diskussion über Shirin David. Ein Großteil ihrer Songs wurde von Chima Ede geschrieben. Dem wünsche ich nur das Beste und freue mich, dass ein Bruder damit Geld machen kann. Auf der anderen Seite schadet Shirin David durch Blackfishing Schwarzen Frauen. Ich weiß aber selbst nicht, ob ich so einen Job ablehnen würde. Ich sitze auch noch nicht auf so viel Geld, dass ich mir viele Absagen leisten könnte.
Kommen wir endlich mal zu deiner eigenen EP »2 my dead father«. Wann fiel die Entscheidung, Musik unter eigenem Namen zu machen?
Den Plan gab es schon immer. Zum Songwriting kam ich auf Umwegen. Mit 14 Jahren wurde ich bei Warner gesignt. Damals stellte sich heraus, dass sich das Label eine andere kreative Richtung von mir wünscht. Ich bin eine Schwarze Sängerin, also sollte ich in eine Jazz/Soul-Richtung gehen. Zwei Jahre und etliche Sessions später bekam ich ein Angebot von Universal Publishing. Die haben gefragt, ob ich nicht erstmal für andere schreiben will. Dadurch konnte ich finanziell unabhängiger werden, nach Berlin ziehen und natürlich auch üben. Am Anfang ist es mir noch sehr schwer gefallen, mich und meinen eigenen Taste zurückzunehmen. Ich war zu sehr Künstlerin. Universal war sehr geduldig mit mir. Ich bin bei Universal zwar als Songwriterin gesignt, mein Team wusste aber, dass ich auch eigene Musik machen werde.
Wie sah der Produktionsprozess aus? Hast du das so gemacht, wie du normalerweise für andere schreiben würdest?
Jahrelang habe ich versucht, mit den Erfahrungswerten aus dem Songwriting an meine eigene Kunst heranzugehen. Referenzen gesucht, klassische Songstrukturen geplant und viel Wert darauf gelegt, dass Pop-Potenzial besteht. Die Songs waren gut, aber unpersönlich. Dieses Jahr habe ich mich in mein Zimmer gesperrt und nur gejammt. Die einzige Regel war, dass ich’s selbst fühle.
War es schwer, auf persönliche Texte umzuschalten?
Als ich den Punkt endlich erreicht hatte, ging das super schnell. Die Tracks der EP waren innerhalb von fünf Tagen fertig. Der Monat zuvor bestand aus innerlicher Vorbereitung. Andererseits ist es mir natürlich nicht sehr leicht gefallen, ich habe ja einige Jahre dafür gebraucht.
Wie hat der Lockdown in die Produktion hinein gespielt?
Ich hatte eigentlich schon mehrere Singles für ein eventuelles Solo-Projekt fertig. Durch Corona konnten wir keine Videos drehen, wir konnten nichts umsetzen, was ich mir dazu vorgestellt hatte. Dadurch wollte ich die Sachen gar nicht mehr veröffentlichen. Durch den Lockdown hatte ich viel Zeit, mich mit meiner inneren Stimme auseinanderzusetzen. Ich konnte meinen Lebensentwurf überdenken, überlegen, was ich wirklich will. Mir wurde klar, dass ich mehr aus meinem Debüt machen möchte.
Die EP kommt bei fünf Songs gerade Mal auf eine Spielzeit von sieben Minuten und 15 Sekunden. Wieso so kurz?
Das kam sehr organisch. Wobei ich mich ab und zu gegen mein Songwriting-Hirn gestellt und bewusst auf einen zweiten Chorus verzichtet habe. Die Songs würden sonst an Wirkung verlieren. »Graveyard Song« beispielsweise lebt gerade davon, dass er genau in dem Moment endet. Viele Menschen haben heute eine sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne. Ich würde auch gerne Songs machen, die zehn Minuten gehen, aber das hört sich niemand an.
Welche Geschichte erzählen die Songs der EP?
»Online intro« fällt ein bisschen aus dem Thema heraus .Es ist ein Querschnitt von dem, wie es mir in dem Moment ging, eine Art Befreiungsschlag – ich musste mich von meinem Handy losreißen, um mit der EP anzufangen.
Bevor ich »Drowning« geschrieben habe, erinnerte ich mich an eine Situation als ich ein Kind war. Damals hatte ich meinem Vater einen Brief geschrieben und bin sofort danach in Tränen ausgebrochen. Das war der erste Moment, in dem ich gedacht habe: »Mein Vater will gar nichts mit mir zu tun haben.« Trotzdem hatte ich natürlich ein starkes Interesse an ihm und auch gar keine negativen Gefühle ihm gegenüber. Ich kannte meinen Vater ja gar nicht, meine Mutter hat auch nie schlecht von ihm geredet.
Auf dem »Graveyard song« geht es um Flucht, ums Erwachsen-Werden.
Auf jeden Fall. Der Track repräsentiert den Moment, nachdem mein Vater gestorben ist. Ich wurde letztens im Interview gefragt, ob es bei »Better feeling« um Drogen geht. Dabei geht es überhaupt nicht um Drogen. »There’s a pill for every kind of pain« bedeutet, dass man immer Symptombekämpfung macht. Wenn es dir schlecht geht, geh shoppen, mach einen Wellness-Tag, was auch immer. Aber nichts hilft gegen wirklich existenzielle Ängste und Schmerzen. Das kannst du langfristig nicht verhindern. Deswegen muss man das anerkennen, nicht unterdrücken.
Auf »Never fell« höre ich einen gewissen Stolz heraus.
Der Song dreht sich darum, dass mein Vater mich nie gebrochen hat. Im Gegenteil: Vielleicht war es gut, dass er nie da war, anstatt mich immer wieder zu enttäuschen. Den Text habe ich übrigens nie geschrieben, das war ein Freestyle.
Kam auf den Brief damals eine Antwort?
Ja, ich hatte per Email mit ihm geschrieben. Davor hatte er angerufen, da war ich 15, 16 Jahre alt. Das war das erste Mal, dass ich von ihm gehört habe. Ich war gar nicht bereit dafür. Vor meiner Geburt musste er aus familiären Gründen nach Kamerun, danach wurde ihm die Einreise nach Deutschland verweigert – aufgrund von Unterhaltsschulden. Ich hätte von ihm eine Entschuldigung erwartet. Oder zumindest ein Eingeständnis. Das kam aber nicht. Er war der Ansicht, ich müsse ihm vergeben, weil das in der Bibel steht, er war gläubiger Christ. Er meinte auch, ich sei Kamerunerin, weil er Kameruner sei. Somit hat er von mir verlangt, dass ich mich über ihn identifiziere, obwohl er nie für mich da war. Er hat behauptet, meine Mutter hätte schlecht über ihn geredet. Das stimmte aber überhaupt nicht. Meine Mutter hat mich aufgezogen und sich um alles gekümmert. Es schien, als hätte er nie reflektiert, dass er abgehauen ist und sich nie gemeldet hat. Aufgrund dieser Überheblichkeit hatte ich zunächst keine Muße, ihm zu antworten. Ich konnte aber natürlich auch nicht wissen, dass er bald stirbt.
Warst du mit deinen Gedanken zu diesem Verhältnis alleine?
Ich bin jemand, der viel mit sich selbst ausmacht. Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Mutter und konnte mit ihr darüber reden, auch mit Freund:innen, die in ähnlichen SItuationen waren. Was ich sehr schön fand: Nach dem Tod meines Vaters ist die Beziehung zu meiner kamerunischen Familie enger geworden. Viele wussten gar nicht von meiner Existenz. Wir wurden mit offenen Armen empfangen. Ich glaube, mein Vater war ein sehr interessanter Mensch. Nach seinem Tod hat mein ältester Halbbruder einen Facebook-Post dazu verfasst. Dort kamen über 200 Kommentare mit Beileidsbekundungen zusammen. Mein Vater war ein sehr angesehener, charismatischer Mann in Kamerun. Für mich war er überhaupt nicht präsent, für viele andere war er aber ein großes Vorbild. Das hat mich beeindruckt.
War dir schon länger klar, dass du den Tod deines Vaters in Form von Musik verarbeiten möchtest?
Nein, gar nicht. Erst in der Quarantäne habe ich mir sehr viele Gedanken über meinen Vater gemacht. Ich habe mich gefragt, welchen Effekt diese Geschichte auf mich hat, auch in meinen Beziehungen. Es ist nie jemand an die Stelle meines Vaters getreten, ich hatte auch keinen Stiefvater. Dementsprechend ergab sich das Thema der EP sehr spontan. Auch der Titel stand erst im Nachhinein fest. Auch, weil man sonst vielleicht gar nicht verstanden hätte, wovon die Songs handeln, habe ich sie meinem Vater gewidmet.
Was rätst du Personen, die eine ähnliche Geschichte haben, die in ähnlichen Konflikten zu Familienmitgliedern stehen oder mit dem Tod eines Familienmitglieds zu kämpfen haben?
Zwei Sachen: Es ist total in Ordnung, nichts mit den Eltern zu tun haben zu wollen, wenn die Beziehung toxisch ist. Das ist absolut legitim. Niemand sollte sich schlecht fühlen, wenn er:sie sich gegen die Eltern entscheidet. Auf der anderen Seite: Wenn die Beziehung nicht toxisch ist, kümmert euch um eure Familie. Das Leben ist kurz. Ich hätte mir trotzdem gewünscht, meinen Vater richtig kennenzulernen. Es ist sehr schade, dass mir das verwehrt bleiben wird. Traut euch, den ersten Schritt zu gehen und eure Wurzeln kennenzulernen. Dann könnt ihr euch immer noch gegen weiteren Kontakt entscheiden.