Who did you see, Objekt?
Die Niederlande sind weltbekannt für ihre großen Technofestivals, allen voran das Dekmantel in Amsterdam. Für kaput hat sich Felix Nisblé an der Seite eines alten Bekannten durch den Headliner-Jungle gekämpft. Tj Hertz, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Objekt, gilt schon seit einiger Zeit als zuverlässige Quelle interessanter und anspruchsvoller Clubmusik – zudem ist er der ideale Gesprächspartner, um über Dj-Sets zu philosopieren, die Vielfalt von Techno zu reflektieren und das Dekmantel Geschehen zu kommentieren.
Festivalanreise der anderen Art
Gerade einmal 40 Minuten dauert die Anfahrt zum Dekmantel aus der Amsterdamer Innenstadt – stadtgemäß natürlich per Fahrrad. Das Festivalgelände befindet sich auf einer Lichtung im Waldgebiet Amsterdamse Bos, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Amsterdamer Flughafen. Der Eingang zum Dekmantel liegt hinter zwei Reihen majestätischer Pappeln, unter denen im Sonnenlicht schon unzählige Fahrradrahmen funkeln. Vor Betreten des Festivals wartet auf die Besucher allerdings erst mal ein ziemlich penibler Security Check, der sicherlich auch der aktuellen Angst vor Anschlägen geschuldet ist. Es wird schnell klar, dass man hier am besten mit möglichst wenig Gepäck anreisen sollte. Eine Frau vor mir beißt noch schnell zweimal in ihre mitgebrachte Waffel, bevor diese im Mülleimer landet. Auch die Promoexemplare meiner neuen EP ziehen die kritischen Blicke der Security auf sich. Nachdem die Unbedenklichkeit von Schalplatten festgestellt wurde, werde ich schnell durchgewunken.
Diese sehr akribische aber durchaus professionelle Vorgehensweise, findet sich in allen Bereichen der Produktion des Festivals wieder: von Automatenreihen, an denen man per Karte Verzehrtokens ziehen kann, bis hin zu grün gekleideten Müllsammlern, die den ganzen Tag über das Gelände streifen. Angesichts der professionelle Atmosphäre fühlt man sich manchmal schon wie ein unmündiger Konsument, aber das Musikprogramm des Festivals schiebt solche Gedanken schnell weg.
Ich entscheide mich zum Aufwärmen am Festivalfreitag für die Performance von Helena Hauff und DJ Stingray, die gemeinsam ein Gewitter aus schroffen Elektrotracks abfeuern. Anschließend begebe ich mich zum Auftritt von Marcelus Pittman und Theo Parrish, bei denen ebenfalls abwechselnd feinste knisternde Detroit House Platten auf den Technics landen. Von dort aus unternehme ich einen kurzen Abstecher zum Liveset von Surgeon, der – nur mit seinem Modularkoffer und einem Octatrack Sampler bewaffnet -, den kompletten Floor auseinandernimmt.
Schnell stellt sich eine Art Ohnmacht gegenüber der hohen Dichte interessanter Acts ein. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum ich anfangs auf einigen Floors das Gefühl habe, dass die Crowd sich nicht so richtig gehen lassen kann. Zu verlockend scheint das Angebot kurz nochmal auf einer anderen Stage vorbeizuschauen.
Wen hast du gesehen?
Wen schaust du dir noch an?
Das werden die dominierenden Fragen dieses Wochenendes.
Gegen Ende des Tages zieht es mich zur Main Stage, wo Jeff Mills sich mal wieder als unangefochtener König der 909 präsentiert. Spätestens bei „The Bells“ fällt dann auch die letzte Coolness-Maske und die Leute sind nicht mehr zu halten. So raven wir unter Stakkato-Snarerolls und schneidenden Hi-Hats hinaus aus der ersten Dekmantel Nacht. Um Punkt 23:00 Uhr verklingt dann die letzte Kickdrum, denn das Festival ist in Tages- und Nachtprogramm unterteilt – danach können sich die Besucher dann noch in verschiedenen Locations in der Stadt bins in die Morgenstunden austoben. Hier vor Ort begeben sich jedoch alle Besucher erstmal diszipliniert und ohne Protest in Richtung Ausgang. Kurz dahinter werden sie bereits von den örtlichen Lachgasdealern in Empfang genommen – und so gelange ich durch ein zischendes Meer voll glücklicher Menschen zu meinem Fahrrad und reihe mich in einen schier endlosen Zweiradkorso in Richtung Amsterdamer Nachtleben ein.
„Ich mag es persönlich lieber, wenn ich musikalisch ein bisschen umherwandern kann.“
(Objekt)
Ein Highlight des zweiten Tages ist für mich definitiv der Auftritt von Objekt. Als Tj und ich uns vor fünf Jahren kennengelernt haben, war er gerade von England nach Berlin gezogen um bei einer Firma für Musiksoftware zu arbeiten. Bei unserer ersten Begegnung, in einem kleinen Kellerclub in Berlin-Kreuzberg, legten wir in einer Montagnacht vor circa 30 Leuten zusammen Platten auf – 2016 nun ist er als Künstler weltweit gefragt und bespielt an diesem Wochenende die UFO Stage des Dekmantel, ein Großraumzelt welches gut und gerne 3000 Leute fasst. Nach seiner Performance streunen wir zusammen über das Gelände, besorgen uns was zu essen und lassen uns schließlich in der Nähe der Main Stage nieder. Während des Gesprächs flirren uns die warmen Acidklänge von Daniel Bell um die Ohren. Tj ist zum ersten Mal ein ganzes Wochenende auf dem Dekmantel und so kommen wir schnell auf das diesjährige Lineup zu sprechen: „Für ein Technofestival ist das Lineup ziemlich abwechslungsreich, was schön ist. Ich hätte keine Lust den ganzen Tag nur straighten Techno zu hören. Es ist gut zu sehen, dass das Dekmantel keine Angst davor hat, musikalisch neues Terrain zu erkunden. Manche Leute wollen zwar auch hier den ganzen Tag nur Kickdrums hören, aber der Anspruch des Booking geht weiter darüber hinaus. Viele andere Festivals haben ausschließlich Technofloors, vielleicht noch einen Housefloor, aber das wars dann auch.“
Im Tagesprogramm des Dekmantel hingegen finden sich auf fünf Floors einerseits Technogrößen wie Ben Klock und Marcel Dettmann oder Festivaltitanen wie Ricardo Villalobos und Moodyman, aber eben auch die Dub-Legende Lee „Scratch“ Perry oder die New Yorker Band ESG. Ich frage Tj in wie weit die musikalische Ausrichtung eines Festivals die Planung seiner eigenen Sets beeinflusst, besonders, da er dafür bekannt ist, ein breites Spektrum von Technostilen zu repräsentieren. „Ich spiele schon so straight wie es die Situation erfordert, aber ich experimentiere definitiv mehr, wenn ich mich auf einem Floor wohl fühle. Wenn ich heute auf einer anderen Stage gespielt hätte, hätte ich meine Plattentasche schon anders gepackt und wahrscheinlich nicht ganz so technoid gespielt. Wobei ich sagen muss, ich hatte heute schon das Gefühl, viel Freiheit zu haben.“
Die Stage, auf der Tj gespielt hat, ist das bereits erwähnte UFO-Zelt, in dem an diesem Wochenende unter anderem Robert Hood, Nina Kraviz oder Blawan performen. Das Publikum steht hier in gewohnter Großraum-Technomanier zentral auf den DJ ausgerichtet, der sich auf einer großen Bühne über den Köpfen der Leute befindet. Ich will von Tj wissen, wie sich diese Bühnensituation für ihn angefühlt hat. „Das war schon okay. Die Ufo-Stage ist halt eine klassische Technobühne, aber zum Glück ist das Publikum hier sehr aufgeschlossen. Das schwierige bei Festivals ist, dass man all die subtilen Vorgänge im Publikum nicht wirklich mitbekommt. Man erkennt nicht, ob die Leute gerade mit Interesse deinem Set folgen. Man merkt höchstens wenn die Leute keinen Spaß haben und gehen oder ob es gerade so einen Faust-in-die-Luft-Moment gibt. All die subtilen Zwischenebenen, etwa wenn Leute ihre Augen schließen und deiner Musik folgen, bekommt man oft leider nicht mit.“
Ganz anders auf der Tanzfläche. Dort ist die Aufgeschlossenheit des Publikums körperlich spürbar. Besonders in der ersten Hälfte des Sets, als Tj einige polyrhythmische Tracks spielt, bei denen es teilweise keinen erkennbaren ersten Taktschlag gab, an dem man sich beim tanzen orientieren kann. Doch anstatt Konfusion zu erzeugen, scheinen gerade diese Tracks eine starke Sogwirkung auf die Leute auszuüben. Treu folgen sie ihm bei seiner Reise durch bouncende Halftime-Bretter, acidlastigen Breakbeats und straighten Techno Tracks, die sich aber jederzeit in eine harmonische Synthmelodie auflösen können. Während ich tanze, tippt mir plötzlich jemand von der Seite auf die Schulter und zeigt auf seinen Unterarm. „Goosebumps“ lautet sein trockener Kommentar. Wir grinsen uns an und tanzen weiter. Als ich Tj später davon erzähle, ist er sichtlich erfreut und kommentiert: „Ich persönlich konnte mich in der ersten Stunde besser gehen lassen. Irgendwie konnte ich spielerischer sein und es hat sich wirklich angefühlt, als würde ich in einer viel kleineren und intimeren Location spielen. Als das Zelt dann immer voller wurde, dachte ich, mal ein bisschen anziehen zu müssen und habe ein paar treibende, toolige Tracks ausgepackt, was auch Spaß gemacht hat! Ich mag es persönlich nur lieber, wenn ich musikalisch ein bisschen umherwandern kann.“ Versetze ich mich in seine Situation, so stellt sich mir unweigerlich die Frage, ob es einen als DJ nicht nicht total verunsichert, wenn man auf einer großen Bühne nur grob die Reaktionen des Publikums einschätzen kann und gleichzeitig den Anspruch verfolgt ein ausdifferenziertes Set zu spielen. Darauf angesprochen entgegnet Tj: „Nein, eigentlich nicht. Die große Vielfalt an unterschiedlichen Styles und Tracks ist halt immer ein zweischneidiges Schwert. Man läuft zwar Gefahr schnell die Richtung zu verlieren, in die man gehen möchte, aber da man ja sowieso schon die ganze Zeit die Stile wechselt, ist es halt auch einfacher schnell zu reagieren und umzukehren, wenn man merkt, dass etwas nicht gut funktioniert.“
Zu der Zeit als Tj und ich uns in Berlin kennegelernt haben, waren wir beide sehr stark fasziniert von dem tooligen Technosound der ausgehend vom Berghain gerade seinen Siegeszug um die Welt angetreten hatte. Im Gespräch stellen wir jedoch fest, dass diese Faszination mittlerweile etwas abgenommen hat. Zu groß ist derzeit das Angebot an Tracks und zu unüberschaubar die Menge an Produzenten, die sich diesem speziellen Sound widmen. Ich frage Tj, wie er seine eigene musikalische Entwicklung seit dieser Zeit beschreiben würde. „Als ich damals nach Berlin gezogen bin, war ich zuvor noch nie einer Musikszene ausgesetzt, die so klare Charakterzüge aufweisen konnte, wie es etwa mit dem ganzen Berghain-Sound der Fall war. In dieser Zeit war ich wirklich begeistert von diesem funktionalen Sound, der eine so eigene, so klare klangliche Identität hatte. Zeitgleich hat es mich aber schnell frustriert, dass ich nicht in der Lage war diesen Sound zu produzieren. Ich bin dann einfach irgendwann ein bisschen ausgebrannt, was diese Musik anging. Ich bin in dieser Zeit auch sehr viel weggegangen und lebte in einer WG, in der ich ständig von Techno umgeben war. Das war einfach irgendwann etwas zu viel. Ich habe zwar immer noch noch eine sehr lange Playlist mit funktionalen Technotracks und ich liebe diesen Sound, doch mittlerweile lasse ich diese Tracks nur hier und da mit einfließen. Ich bin generell sehr sensibel und selbstkritisch gegenüber der Musik, die ich auflege und bei zu viel unmelodischem Techno fühle ich mich mittlerweile einfach sehr schnell unwohl.“
Produktionstechnisch konnte sich Tj auf kreativem Wege aus diesem Dilemma befreien. 2011 veröffentlichte er seine erste eigenen Whitelabel Objekt#1 und fand damit vor allem in der britischen Produzentenszene schnell Anklang. Es folgten Releases auf Hessel Audio, ein Remix für Radiohead, eine Split-Ep mit Dopplereffekt und vor allem 2014 sein hochgelobtes Album Flatland auf PAN Records. In meinen Augen besaß Tj dabei schon immer ein sehr gutes Gespür dafür, sein kreatives Schaffen im musikalischen Zeitgeschehen einzuordnen.
Darauf angesprochen merkt er jedoch an: „Ich glaube meine Musik hat sich seit der ersten Platte nie wirklich mit dem Zeitgeist bewegt. Mein Album zum Beispiel war praktisch IDM. Ich meine: war das jemals cool? Was ich jedoch grundsätzlich mache, ist mich von den großen Trends in der elektronischen Musik fernzuhalten. Das ist definitiv eine Sache, die sich seit damals geändert hat. Früher hab ich vielmehr versucht Musik zu machen, die in eine Box passt zusammen mit dem was die Leute gerne spielen. Heutzutage versuche ich mehr ich selbst zu sein und hoffe die Leute folgen mir auf dem Weg. Es hat ein paar Platten gedauert dieses Selbstvertrauen zu erlangen aber jetzt fühle ich mich in der Lage Inspirationen aufzunehmen ohne unbedingt den Sound produzieren zu wollen den jemand anders macht.“
Das Thema Variation und Abwechslung zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Konversation. Dabei sieht es so aus, als habe Tj einen guten Weg für sich gefunden seine Passion für Techno zu leben ohne die musikalische Vielfalt aus den Augen zu verlieren – und die Menschen auf dem Dekmantel wissen dies zu schätzen. Während wir uns unterhalten, kommen immer wieder Leute, um sich bei ihm für seinen gelungenen Auftritt zu bedanken.
Der Tag neigt sich langsam gen Abend und bevor wir uns fürs erste verabschieden, tauschen wir uns noch kurz darüber aus, welche Künstler wir noch unbedingt sehen wollen: „Ich will zu Joey Anderson und falls ich es heute Nacht noch schaffe unbedingt Regis und Veronica Vasicka hören. Vielleicht wird mir das aber auch zu spät und Veronica spielt morgen nochmal auf dem Boiler-Room-Floor, das ist sicher angenehmer. Morgen will ich definitiv zu Moritz von Oswald, Call Super und dann zu Digital Mystikz.“ Später am Abend folge ich dem Tipp von TJ und erlebe bei Joey Anderson eines der für mich besten Sets dieses Festivals. Lässig eine Zigarre rauchend, schickt der DJ aus New Jersey Salve um Salve rollenden Basslines, epische Synthflächen und dreckig-klatschende Housebeats durch das Greenhouse. Auf diesem Floor spannt sich wie in einem Gewächshaus ein halbrundes Glasdach über die Tanzenden. Der Dancefloor ist voll gestellt mit großen Palmen, die im Nebel der Smokemaschinen versinken, während sich die Menschen zwischen den Pflanzen in den Armen liegen. In einem solchen Setting entstehen genau die Art entfesselter Festivalmomente, die unvergesslich bleiben.
Am Sonntag lasse ich es etwas langsamer angehen, treibe über das Festival und beschäftige mich wieder mit Luxusproblemen wie der Frage, ob ich bei Lee Perry vorbeischaue oder lieber zu DJ Koze auf die Main Stage gehe? Ein Hauch von Unruhe bleibt halt doch bestehen. Gegen Abend begebe ich mich auf die Suche nach einem Floor für die letzten Stunden des Festivals. Der Einlass zum Boiler-Room ist zwischenzeitlich gesperrt, da sich die große Fangemeinde des Berliner Techno zum abendlichen Auftritt ihres Idols Ben Klock versammelt hat.
Ich entfliehe dem Trubel und finde Zuflucht auf der Selectors Stage, wo der niederländische Oldschooler Intergalactic Gary das Closing bestreitet. Hier ist der Floor zwar nur halb gefüllt, aber es kommt eine intime, fast verschworene Stimmung auf während Intergalactic Gary eine wilde Mischung aus kernigem House und Italo Disco abfeuert. An diesem Abend kommt der Cut um 23 Uhr besonders hart. Man wünscht sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als ebenso sanft aus der Nacht zu gleiten, wie man vorher von der Musik des Dancefloors angezogen wurde. So etwas würde jedoch der Dekmantelschen Perfektion und sehr wahrscheinlich auch den Festivalauflagen widersprechen. Es bleibt aber immerhin noch die abenteuerliche Fahrradtour durch den Amsterdamse Bos. Heute machen ich es schlauer und folgen einer Gruppe Locals auf einer fast unbefahrenen Alternativroute durch den stillen, dunklen Wald. Während ich mit sausenden Ohren durch die kühle Nacht fahre denke ich bei mir: Dekmantel, wir beide sehen uns wieder!