Tot oder lebendig

“Aber es geht auch um Pommes, Schrödingers Katze und Sex mit Jesus!” – Ariana Zustra im Interview

2. Dezember 2023,

Dieser Debüt-Roman macht dich fertig. In a good way. Ariana Zustra nimmt die Leser*innen mit auf einen flimmernden Road Trip, der an verinnerlichten Gewissheiten rüttelt. Geschlecht, Identität, Lebenswille – nichts, was hier nicht in Frage gestellt wird. Zwischen Berlin und Dubrovnik, zwischen Schmunzeln und Verzweifeln: Das hier ist das aufregendste Buch diesen Jahres. Ein Gespräch mit der Autorin.

Wir sprechen heute also in deiner Inkarnation als Romanautorin – du bist aber auch Musikerin, Journalistin, hast gerade erst dein Stand-Up-Comedy-Programm auf die Bühne gebracht und auch noch einen Segelschein gemacht. Woher nimmst du überhaupt all die Zeit und woher kommen all diese unterschiedlichen Ambitionen?

ARIANA ZUSTRA: Danke für diese liebe Einführung! Die Frage ist die wohl häufigste, die mir gestellt wird, und ich kann dann nur immer antworten: Für mich fühlt es sich nicht so an, als ob das alles viel Zeit beansprucht. Ich habe in meinem Leben schon so viele Bullshit-Jobs gemacht, da war es eine der besten Entscheidungen meines Lebens, mich selbständig zu machen, weil ich mich seitdem nicht mehr versklavt fühle, sondern frei über meine Zeit bestimmen kann. Seitdem erlebe ich keinen großen Unterschied mehr zwischen Arbeit und Freizeit, und das empfinde ich als Privileg. Zum Beispiel habe ich vergangenen Herbst in einer heißen Phase von morgens bis abends an meinem Debütroman geschrieben und eines Nachts vorm Schlafengehen hatte ich den Einfall für das Stand-up-Programm. Ich liebe Comedy und hatte zu der Zeit ein paar Open Mics besucht und hatte Lust, diese Textform auch mal auszuprobieren. Und dann hab ich mich spontan drangesetzt, sozusagen als Entspannung nach Feierabend: ein Word-Doc zu, ein neues Word-Doc auf. Super! Die Ambition ist irgendeine sprudelnde Kreativität in mir, die schon immer da war. Als Kind habe ich stundenlang allein im Zimmer gespielt und Bilderbücher geschrieben oder Hörspiele auf Kassette aufgenommen. Wahrscheinlich kann man alles, was ich mache, dann doch auf einen Nenner bringen: Ich bin Autorin, ich schreibe – Musik oder Texte, und darunter fällt dann auch sowas wie das Stand-up oder mal eine Moderation oder ein Drehbuch für ein Musikvideo. Ich liebe, was ich tue, und deswegen habe ich auch immer Energie dafür. So auch für den Bootsschein: ein Kindheitstraum! Ich kann ja kein Auto fahren und dachte mir: Wenn schon Führerschein, dann gleich auf dem Wasser!

Auf so vielen Feldern aufzutauchen, ist für die allgemein eher schubladisierte Wahrnehmung von Künstler*innen sicher nicht nur ein Booster. Fühlst du dich manchmal gezwungen, dich für eine Ausdrucksform zu entscheiden?

Tatsächlich nie. Im Gegenteil, ich freue mich, falls meine Tätigkeiten Schubladendenken sprengen können. Mit Meinungen, die keine Vielschichtigkeit zulassen, beschäftige ich mich nicht. Aber es ist schön zu sehen, dass meine verschiedenen Aktivitäten eigentlich immer offen aufgenommen werden. Und ich begrüße die Entwicklung, dass spätestens seit der Pandemie endlich offenkundig wurde, dass eine andere Art von Arbeiten möglich ist, als in den starren Formen dieser 150 Jahre alten Knechtschaft, die buchstäblich noch in unseren Knochen sitzt.

Der Debüt-Roman ist ja immer eine große Sache. Bevor ich dich aber nach dem „Wie“ frage, würde ich dich gern für die, die ihn noch nicht gelesen haben, um die Kurzzusammenfassung bitten. Also wenn dich in der Bar jemand fragt, „und wovon handelt dein Buch?“, was sagst du dann?

Mein Debütroman handelt von einer jungen Frau, die mit dem Gedanken spielt, in ihr könnte die Seele eines jüdischen Mannes wohnen. Um der Tristesse ihres Daseins in der ostdeutschen Provinz zu entfliehen, reist sie für Nachforschungen ans Meer nach Kroatien, wo dieser jüdische Mann angeblich gelebt haben soll. Dort lernt sie eine uralte, kuriose Frau kennen, die seine Kindheitsfreundin war, sowie deren schweigsamen Enkelsohn. Es beginnt eine Schnitzeljagd sinnbildlich für eine Suche nach Sinn im Leben, abgehandelt an Themen wie Identität, Religion, Sexualität, Nationalität, aber auch eine Auseinandersetzung mit europäischer Geschichte und dem Umgang damit, mit der Shoa, dem Zweiten Weltkrieg und dem Jugoslawienkrieg. Aber es geht auch um Pommes, Schrödingers Katze und Sex mit Jesus, dem geilen Handwerker! Eine der schönsten Rückmeldungen von Leser:innen bzw. Rezensent:innen ist, dass sie bei der Lektüre zu Hause oft allein laut vor sich hin gelacht haben. Ich hätte auch niemals damit gerechnet, dass “Tot oder lebendig” bei Amazon nun unter anderem bei “Humoristisch” gelistet ist. Bucht mich offenbar also für: Starker Tobak, direkt aus der Imbissbude!

Wie bist du stilistisch rangegangen? Mir fällt auf, dass “Tot oder lebendig” eine sehr schöne, konsistente Sprache hat. Sie ist originell und reich, wirkt aber dabei nie angestrengt. Hast du da auch von deiner journalistischen Erfahrung profitiert – oder war diese Art zu schreiben eher erstmal im Weg?

Danke für diese Rückmeldung! Das freut mich sehr. Vielleicht kommt die Konsistenz daher, weil ich genau wusste, was ich erzählen möchte? Weil immer dann, wenn ich es nicht klar vor Augen hatte, habe ich das Manuskript beiseite gelegt und dem Zeit gegeben. Auf meine Erfahrungen als Journalistin konnte ich zurückgreifen für Handwerk wie Aufbau und Dramaturgie oder Gefühl für Stil. Hingegen ist es mir manchmal schwer gefallen, die völlige Freiheit zu haben, zu schreiben, was und wie man will. Als ausgebildete Journalistin bin ich verpflichtet, Geschehnisse und Personen wahrheitsgetreu widerzugeben – da ist es ungewohnt, auf einmal davon entbunden zu sein. Wie beschreibt man eine Szene, die nie passiert ist? Wie beschreibt man eine Person, die es gar nicht gibt? Wie sieht jemand aus, spricht, lacht, gestikuliert, den ich nicht wie sonst nachmittags noch zum Interview im  Café getroffen habe? Weil wenn alle Figuren der Fantasie entspringen, können die ja weiß Gott was alles machen: Wenn ich wollte, könnte ich schreiben, dass meine männliche Hauptfigur Adam nackt auf einem Bären durch den Lidl reitet oder sich aufs Dach des Flixbusses schnallt und dabei “I’m Gonna Be (500 Miles)” singt. Da musste ich immer wieder den roten Faden zwischen die Finger nehmen und mich hinterfragen: Warum schreibe ich das gerade? Was exakt will ich erzählen, und was ist dafür das beste Bild, die beste Wendung, die beste Location, der beste Dialog? Das war eine lehrreiche Erfahrung.

Ein zentrales Thema, das dein Plot aufmacht, sind Auswirkungen der Naziverbrechen auch im ehemaligen Jugoslawien. Dieser Tage müssen Menschen überall wieder um ihre Unversehrtheit fürchten – allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum. Wie siehst du diesen Aspekt deines Buchs heute hinsichtlich der aktuellen Ereignisse? Fügt sich für dich da was zusammen oder steht „Tot oder lebendig“ mit seinem Plot doch eher für sich?

Mich machen die aktuellen Ereignisse sprachlos. Das Ausmaß an Leid von überall her lässt mich verzweifeln. Ich habe Angst um die Zukunft von uns als Weltgesellschaft. Mein Plot jedoch steht insofern für sich, als er nicht für konkrete tagesaktuelle, politische Statements herhalten kann oder soll. Mein Buch ist ein künstlerisches Werk – und dem Wesen von Kunst nach bewegt es sich jenseits konkreter politischer Linien, steht über, neben, zwischen ihnen. Im Roman setzt sich die nicht-jüdische ostdeutsche Hauptfigur damit auseinander, ob es sein könnte, dass sie eine Wiedergängerin eines jüdischen Mannes ist. Dazu haben verschiedene Menschen sicherlich verschiedene Interpretationen: den (Nicht-)Umgang mit deutscher Schuld, Erinnerungskultur, Identität(spolitik), Identifikation, Projektion, aber auch Ost-West-Thematik und Gender. Wer möchte, dem könnte das Buch ja vielleicht einen Möglichkeitsraum eröffnen, beispielsweise über diese Themen nachzudenken und zu diskutieren – ohne es jedoch für Kämpfe im Diesseits zu vereinnahmen, sondern Ambivalenz und Ambiguität zuzulassen. Denn der Kern des Plots wird über die Seele verhandelt, also bewusst einem rational nicht definierbaren Konzept, das allumfassend ist und über menschliche Kategorien wie etwa Politik erhaben ist. Aber am Ende ist “Tot oder lebendig” auch einfach eine Geschichte, eine Geschichte über Sinnsuche. Daher ist sie bewusst transzendent angelegt. Ich selbst habe mir während der Arbeit am Roman Bücher über Existenzialismus, Pantheismus, New Materialism reingezogen, über Themen wie den Leib-Seele-Dualismus recherchiert. Von diesen Denkschulen habe ich viel gelernt und mein Buch ist vor allem auch ein Kind dessen. Und ich wollte zum Kern vordringen, was uns zusammenhält, und deswegen geht es im Roman auch um das Periodensystem der Elemente und sehr körperlich um Material, aus dem wir sind.

Foto: Christian Schneider

Wie deine Protagonistin besitzt Du selbst einen Bezug zu Kroatien – wie regierst du das Spannungsfeld zwischen Fiktion und eigenem Erfahrungshorizont? Es ging dir ja offensichtlich nicht darum, eine autobiographische Story zu schreiben, dennoch scheint dir vieles nicht fremd, das verhandelt wird.

Meine Abschlussarbeit an der Uni Tübingen hatte den schmissigen Titel “Die Konstruktion von Nationalbewusstsein mithilfe von Ethnizität am Beispiel des Konflikts zwischen Kroatien und Serbien”. Darin schlüssle ich auf, mithilfe welcher Methoden ein Nationalgefühl hergestellt wird: unter anderem mithilfe der Vorstellung einer homogenen Ethnizität, mithilfe von Religion sowie das Sichberufen auf eine angebliche gemeinsame Geschichte – und vor allen Dingen dem Glauben daran, dass dies essentialistisch ist und nicht etwa vom Menschen konstruiert. Diese Konstruiertheit zieht sich durch sämtliche Felder der Gesellschaft, die alle in menschliche Kategorien eingeteilt sind: von Gender bis hin zu Straßenverkehrsregeln. So handelt der Roman beispielsweise auch von der Absurdität von Geld oder dem Ritual der Hochzeit, bei der ja faktisch nichts anderes passiert, als dass zwei Menschen einen Gegenstand austauschen – und trotzdem ist hinterher etwas real anders. “If men define situations as real, they are real in their consequences”, um mal das Thomas-Theorem zu bemühen.
So gesehen sind alle Stoffe im Roman Themen, mit denen ich mich Zeit meines Lebens beschäftige, zum Beispiel während meines Studiums der Kulturwissenschaft und Soziologie. Es sind sozusagen “Lebens-Themen”. Und ich habe versucht, eine Geschichte und Figuren zu schreiben, die all das transportieren, auf unterschiedlichste Weise.
Manchmal habe ich den Traum, dass wenn wir alle uns der Konstruiertheit dessen, was wir Realität nennen, bewusst werden, und Zuschreibungen so ihrer Bedeutung entledigt werden, wir so etwas wie Verbundenheit und Frieden nahekommen könnten. Crazy, I know! Aber falls mein Roman auch nur ansatzweise dazu beitragen könnte, anthropozentrische Narrative zu durchschauen und zu überwinden, wäre ich überglücklich.

Okay, genug hard stuff. Was sicher auch interessant ist: Wie war das erste Mal Buchmesse als Autorin?

Fantastisch! Es ist ja immer gut, die Perspektiven zu wechseln, und es war spannend, das tun zu können. Nachdem ich jahrelang allein über diesem Buch gebrütet habe, ohne meiner Familie oder meinen engsten Freund:innen auch nur ein Sterbenswörtchen darüber zu verraten, war die Buchmesse nun der erste Austausch mit Leser:innen, die leibhaftig vor einem stehen, es gelesen haben und mit leuchtenden Augen berichten, was der Roman ihnen bedeutet hat und was sie alles darin gefunden haben. Ich hatte keine Ahnung, wie glücklich und dankbar das macht. Und es war mir eine Ehre, im Frankfurter Römer zur Prime Time bei der Lesereihe “Open Books” mein Buch neben anderen Debütromanen vorstellen zu dürfen, u.a. neben Charlotte Gneuß mit “Gittersee” oder Necati Öziri mit “Vatermal”. Überhaupt habe ich tolle Kollegen persönlich kennengelernt, wie etwa Tijan Sila, dessen Roman “Radio Sarajevo” mich dieses Jahr sehr berührt hat.

Du hast Musik veröffentlicht und jetzt dein erstes Buch – wie unterscheiden sich die Szenen beziehungsweise Märkte für Künstler*innen abseits der ganz großen Verlage oder Labels? Alles dasselbe in grün oder fundamental verschieden?

Das war schon echt eine Offenbarung für mich. Auf Spotify werden jeden Tag weltweit aktuell ungefähr 120.000 Songs hochgeladen – ich schätze mal, Tausende davon im deutschsprachigen Raum. Laut Börsenverein erscheinen umgerechnet pro Tag etwa 195 neue Bücher. Da sieht man also schon allein mengenmäßig, womit man konkurriert. Einerseits ist es heute leichter, Musik zu machen, weil man im Prinzip nur einen Laptop braucht – andererseits wird dadurch die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering, im Digital-Dschungel wahrgenommen zu werden. Als Indiemusiker:in bastelt man Insta-Ads, bewirbt sich per Credit Points bei Plattformen wie etwa SubmitHub um Rezension oder sitzt wie ein Volldödel vor irgendwelchen Playlist-Formularen, muss einem Roboter beweisen, dass man ein Mensch ist, klickt an, ob das Mood deiner Single “mellow melancholic” oder doch eher “like tea on a rainy day” ist, nur in der Hoffnung, dass man ein paar Klicks bekommt in einer Sphäre, wo Algorithmen uns eh zum Narren halten. Das kann sowas von frustrierend sein.
Als davon geplagte Indiemusikerin war es für mich daher echt heilsam, dass der Literaturmarkt verglichen mit der Musikbranche überschaubarer ist, analoger, mit klassischeren Strukturen. Es tut gut, mit echten Menschen zu tun zu haben, statt mit irgendwelchen Tools. Aber natürlich ist für Nachwuchsautoren die Hürde größer, überhaupt dahin zu kommen, etwas veröffentlichen zu dürfen. Ich freue mich, untergekommen zu sein bei der renommierten Frankfurter Verlagsanstalt von Dr. Joachim Unseld, dem Sohn des ehemaligen Leiters des Suhrkamp Verlags. Manchmal möchte ich Freudentränen weinen, nicht wie bei der Musik alles allein machen zu müssen, sondern dass da so tolle Kolleginnen sich etwa um Pressearbeit und Marketing kümmern.

Oft nur eine Floskelfrage, bei dir allerdings immer wieder hochbrisant: Was planst du als nächstes?

“Hochbrisant” klingt so toll aufregend für jemanden, der hauptsächlich wie ein Eremit vorm Laptop oder am Klavier sitzt, aber das Kompliment nehme ich gern an! Im Frühling 2024 erscheint mein zweites Album “I Am Water” – die erste Single daraus, ein exklusives Cover des 90er-Hits “Underwater Love”, ist bereits draußen. Außerdem habe ich gemeinsam mit einer Gruppe von Kreativen die Oper “Bosnia, I Love You” komponiert und geschrieben, für die wir derzeit ein weiteres Stipendium suchen, um sie bald auf die Bühnen bringen zu können zwischen Berlin und Sarajevo. Stay tuned!

Interview: Linus Volkmann

::: Ariana Zustra “Tot oder lebendig” (Frankfurter Verlagsanstalt 2023)

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