Europäische Werte und musikalische Wiederbelebungsversuche

Unfuck the EU (Pt. 06): Alli Neumann

Alli Neumann hat den deutschen Pop die letzten Jahren ganz schön auf den Kopf gestellt. Auf ihrem Debütalbum „Madonna Whore Komplex“ manifestiert sie nun die Vielschichtigkeit ihrer Person, trägt ihre feministische und musikalische Diversität offen zur Schau. Fort mit den Grenzen im Kopf, frei sein, um jeden Preis – und um sicherzugehen: Wir reden nicht von einer egoistischen Freiheit, wie sie von Querdenker*innen gefordert wird, sondern einer humanistischen Eigenverantwortlichkeit. Wie zerbrechlich diese Selbstbestimmung ist, wurde Alli Neumann in den letzten Monaten als Deutsch-Polin besonders vor Augen geführt. Im Interview sprechen wir über ihre internationale Identität, Queerness in Polen und ihre feministische Entwicklung. Von Rosalie Ernst.

Foto: Clara Nebeling / Bearbeitung: Rosaie Ernst

Zur letzten EU-Wahl warst du total aktiv und die europäische Identität zelebrierst du auf deinen Konzerten in diverse Anmoderationen (zum Beispiel bei “Wir fahren mit dem Zug“). Was bedeutet das Thema denn für dich?

ALLI NEUMANN: Für mich ist die europäische Identität in gewisser Weise ein Seelenfrieden. Ich bin eine Person, die sich insgesamt sehr europäisch identifiziert: In Polen aufgewachsen, dann nach Deutschland in eine Region, in der die dänische Minderheit lebt und mein Vater ist Deutscher mit litauischen Wurzeln. Für mich gab es diese Grenzen also nie, weder im Kopf als auch in der Familie und meinem persönlichen Leben. Wenn dann aber staatlich Grenzen dazwischen gelangen, dann entsteht eine emotionale und familiäre Unfreiheit. Und dazu kommt dann noch ein Wertschätzen der vielen kulturellen Einflüsse. Entweder man kapselt sich ab oder man erkennt eben diesen großen Mehrwert einer vielfältigen Gesellschaft und der Andersartigkeit an.

Wie lief das in deiner Familie denn vor der Europa-Osterweiterung 2004? Kannst du dich erinnern, was das für deine Familie bedeutete?

Für uns konkret hat es natürlich ganz pragmatisch die Reise nach Polen schwer erleichtert. Aber für meine polnische Familie hat es viel verändert, z.B. dass man seitdem unbefristet überall in der EU arbeiten kann, weil viele polnische Familienmitglieder sich nicht ausschließlich mit polnischen Jobs finanzieren können. Das ist für beide Seiten natürlich ein totaler Zugewinn, dass die Arbeitssituationen erleichtert wurden. Wir haben in Deutschland einen extremen Pflegenotstand und woanders Menschen, die aber Arbeit brauchen. Warum sollte man also die Grenzen nicht öffnen und einen gemeinsamen Arbeitsmarkt schaffen, um gegenseitige Lücken füllen zu können.

Auf Insta hattest du vor etwa zwei Jahren auch mal einen Aufruf gestartet und versucht Treffen zu organisieren, um die deutsch-polnische Community zu stärken, weil du das bisher nicht so stark erlebt hattest. Hat sich das seitdem für dich verändert?

Für mich persönlich war es auch erst mal wichtig, meine deutsch-polnische Identität nach außen zu tragen und dann Kontakt aufzunehmen. Auch dass ich auf meinen Konzerten polnische Lieder gesungen habe, hat mein Publikum verändert. Ich kenne mittlerweile mehrere polnische Organisationen und politische Communities, in denen wir als politischer Stammtisch zusammenkommen. Das ist allerdings eher eine traurige Erscheinung aufgrund der aktuellen Lage und hat in der Regel mit Protestaktionen gegen die Abtreibungsverbote oder die Einschränkungen der LGBTQIA+ Rechte zu tun. Ich würde mich aber auch freuen, wenn es mehr Veranstaltungen für die polnische Community in Deutschland gäbe, die etwas unbeschwerter sein können. Treffen, wo man zusammen kommt, um nostalgisch zu sein, zu kochen, zu singen und auch die polnische Sprache zu sprechen.

Wie geht es denn der Community, in der du so aktiv bist, jetzt gerade in Polen? Ich nehme mal an, dass die ähnlich politisch und queer ist, wie deine Bubble hier.

Viele Menschen habe ich erst durch die Proteste und die Problematik in Polen kennengelernt. Die meisten sind also Aktivist*innen oder Künstler*innen, zu denen ich den Kontakt gesucht habe, um sich gegenseitig zu unterstützen. Tja, wie geht es denen… Ich weiß nicht, ob es da so eine allgemeingültige Antwort gibt, da jede*r anders mit dem Druck umgeht, aber im Großen und Ganzen: Angestrengt. Die Proteste gegen die Abtreibungsgesetze gehen jetzt auch mittlerweile einige Jahre und auch der Struggle der LGBTQIA+ Szene ist seit zwei Jahren sehr akut. Wir sind aber an einem Punkt, an dem es langsam wieder besser wird: Einige der LGBTQIA+ freien Zonen wurden wieder aufgelöst und ich habe das Gefühl, dass die polnische Regierung den gesellschaftlichen, aktivistischen Druck spürt. Ich bin total dankbar für jede Person, die auch außerhalb von Polen Petitionen unterschreibt, Demos vor den Botschaften besucht, denn das ist ein wichtiges Druckmittel, das wir in Europa haben, das nicht zu unterschätzen ist.

Hast du denn das Gefühl, dass es da Rückhalt seitens der EU gibt? Es gab ja zum Beispiel Sanktionen seitens der europäischen Union.

Generell bin ich nicht so ein großer Fan von Sanktionen, da diese u.a. die europäischen Coronahilfen betroffen haben. Jedes Land macht eigene Entwicklungen durch, und da finde ich es schwierig, gerade so numerisch zu urteilen. Hilfreicher wäre es, wirklich zu schauen: Wie können wir den Betroffenen dieser Gesetze helfen? Was für Angebote können wir schaffen, um jungen Frauen aus Polen eine Abtreibung zu ermöglichen. Da gibt es schon einige tolle Organisationen wie zum Beispiel „Ciocia Basia“ die Schwangeren Reisen nach Deutschland ermöglichen, um Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen. Es wäre doch toll, wenn das nicht immer die Aufgabe von Aktivist*innen ist, sondern auch durch staatliche Mittel gefördert wird. Man sollte auch trans Menschen, für die der Leidensdruck in Polen zu groß ist, ein klares Signal geben, dass sie Willkommen sind und sichere Orte für sie schaffen. Für viele geht von den Straßen in Polen eine tatsächliche Gefahr aus, da es eine gut vernetzte Hooliganszene gibt, die augenscheinlich queere Menschen körperlich angreifen. Und alle, die sich dagegen einsetzen, die gesellschaftliche Normen herausfordern und sich für den Fortschritt einsetzen, müssen wissen, dass sie im Notfall auf uns zählen können!

Auf der Tincon hattest du gesagt, dass politische und gesellschaftliche Botschaften für dich sinnstiftend sind, wenn es darum geht eine Person des öffentlichen Lebens zu sein. Ist dein Antrieb da eher kreativer oder aktivistischer Natur, gerade wenn es um deine öffentliche Persona geht?

Für mich ist es generell sehr schwer, Musik von Politik und Aktivismus zu trennen. Ich bin in dem Dunstkreis von Ton Steine Scherben aufgewachsen und habe dadurch gelernt Musik als ein Tool zu verstehen, das Denkanstöße liefert. Da kann ich also keine richtigen Grenzen ziehen. Natürlich freue ich mich, dass ich jetzt als Berufsmusikerin auch andere Möglichkeiten habe, meine Ideen sowohl zeitlich als auch finanziell umsetzen zu können. Aber der politische Mehrwert bleibt für mich auf jeden Fall ein Antrieb, um das eben nicht nur hobbymäßig für mich zu machen.

Das zeigt ja auch dein Album „Madonna Whore Komplex“ total gut. Da gibt es so eine krasse feministische Entwicklung, die auch ganz subtil in jedem Song spürbar ist. Waren da all die Umschwünge die im Corona-Jahr (restriktive Gesetze in Polen, Queerdenker Bewegung, Black Lives Matter, neue Metoo-Vorwürfe) auch Teil dieses Albumprozesses?

Das war ein riesiger Teil des Albums, aber vor allem meiner persönlichen Entwicklung. Die wenigsten dieser Themen waren neu für mich, aber die Intensität, in der die Debatten in den vergangenen zwei Jahren geführt wurden, war eine ganz neue. Ich habe diverse -Ismen erkannt, die ich sowohl gegen mich selbst als auch gegen andere angewandt habe und lerne immer noch viel dazu. Ich will gar nicht wissen, welchen Blödsinn ich gerade noch für selbstverständlich halte und worüber ich in einem Jahr die Hände über’m Kopf zusammen schlagen werde. Da gibt es so viele Narrative, besonders aus der Schulzeit, aus einer weißen, heteronormativen Dominanzkultur, die sehr tief in meiner Sozialisierung sitzen. Auch wenn ich schon viel abgelegt habe, bleiben da einfach viele Rudimente, von denen ich mich noch weiter befreien möchte. Denn was aus diesen Ideen immer wieder zurückbleibt, ist eine Angst und Angst ist generell ein ziemlich schlechter Berater.

Gibt es da Songs, in denen sich das auch ganz konkret zeigt?

Es ist ein generelles Mindset auf dem Album, das ich immer wieder kritisch überprüft habe. „Keine Zeit“ war auch ein absoluter Befreiungsprozess von all den Nein-Sager*innen, denen man begegnet, wenn man Demos organisiert, oder wenn man sich dafür einsetzt, dass Straßen umbenannt werden und man ein ‚Nein‘ nach dem anderen an den Kopf bekommt. Aber am klarsten geht es auf „Frei“ um die Emanzipation und auch den daraus resultierenden Selbstzweifeln und Prozessen der Befreiung.

Freiheit ist ein ziemlich gutes Stichwort. Du wirst nämlich immer wieder mit Nena verglichen und es gibt in euren Texten viele Motive die ähnlich sind. Aber gerade vor den aktuellen Bewegungen, die sich auf Freiheit berufen, frage ich mich, was unterscheidet deine Freiheit von ihrer beziehungsweise deren Freiheit?

Früher habe ich mich mehr über die Vergleiche gefreut, weil ich das bewundert habe, wie sie Freiheitskonzepte der antiautoritären Erziehung, Entwicklungsfreiheit und Pazifismus in ihren Liedern zelebriert hat. Aber Menschen verändern sich und ich finde ihr aktuelles Verhalten sehr leichtsinnig. Das hat angefangen damit, dass sie sich von Menschen aus ihrem Assoziationskreis nicht distanziert hat, die klar antisemitisch sind. Leider sind diese rechtsgesinnten Bewegungen immer ziemlich gut darin im Grunde schöne Begriffe für sich zu beanspruchen. Sie schreiben sich schöne Wörter auf die Fahne, um dann damit auf andere einzuschlagen. Und mit der Freiheit innerhalb einer Pandemie verhält es sich im Grunde genauso wie mit dem Thema Toleranz: Die Freiheit des Individuums hört da auf, wo sie die Freiheit eines anderen einschränkt. Ich bin für eine Freiheit für alle Menschen, auch wenn das manchmal bedeutet, dass sich ein Individuum zurücknehmen muss.

Interview: Rosalie Ernst

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!