Europäische Werte und musikalische Wiederbelebungsversuche

Unfuck The EU (Pt. 5): Provinz

8. September 2021,

hrend die Europäischen Werte am Boden liegen, versuchen immer mehr Musiker*innen laut zu werden und selbst den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Mehr und mehr Hymnen begleiten die Demonstrationen, die Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit fordern Werte, auf die man sich einst geeinigt hatte. In dieser neuen Serie trifft die Autorin Rosalie Ernst für Kaput europäische Künstler*innen und spricht mit ihnen über Haltung in der Musik, die Europäischen Werte und Aktivismus

Bearbeitung: Rosalie Ernst

Provinz kann man ganz ohne Übertreibung als Shootingstars der deutschen Bandszene beschreiben. Mit sehnsüchtigen Lovesongs haben die vier Jungs vom schwäbischen Dorf kurz nach ihrem Schulabschluss viele Herzen erobert. Ihr Studioalbum „Wir bauten uns Amerika“ traf einen Nerv und es dauerte nicht lange, bis sie ihre erste ausverkaufte Tour feiern konnten. Im Juni haben sie mit einer EP „Zu spät um umzudrehen“ nachgelegt. Politische Positionen, die vorher nur für echte Fans ersichtlich waren, haben nun einen Weg in die Songs gefunden. Nach Auftritten auf Demonstrationen gegen Moria und Instagram Videos auf dem Fridays for Future-Kanal, haben Provinz mit der „Hymne gegen euch“ Tacheles gesprochen – oder etwa nicht?!

Auf eurer neuen EP zeigt ihr mit Hymne gegen eucherstmals in der Musik Haltung. Was hat euch inspiriert und den Anstoß dazu gegeben ?

Vincent: Wenn man Reichweite erlangt wächst einfach die Verantwortung und bei mir auch das Bedürfnis das für eine Sache zu nutzen, die Substanz hat. Gleichzeitig ist in dieser Pandemiezeit eine komische, diffuse Wut entstanden. In meinem Bauch war ein Gefühl der Frustration und Aggression. Sowas kenne ich sonst überhaupt nicht von mir und damit war ich auch nicht allein. Viele haben gemerkt, dass irgendwas scheiße läuft, und zwar so richtig! Der Punkt, an dem ich angefangen habe den Text zu schreiben, war dann doch aber sehr konkret: Ich habe wieder etwas über eine riesige Querdenker-Demo gelesen und währenddessen saß unser Tontechniker allein zu Hause. Ihm fehlte jegliche Zukunftsperspektive, während diese Menschen ungeschützt zu Tausenden durch die Straßen ziehen konnten.

Obwohl das Gefühl super stark ist, bleibt ihr textlich doch erstaunlich vage und wolltet explizit nicht mit dem Finger auf Leute zeigen. Hattet ihr Angst, dass das gegen Euchauch von einer anderen Seite instrumentalisiert werden könnte, so wie es bei der #allesdichtmachen-Kampagne der Deutschen Schauspielriege passiert ist?

Ja, da hast du Recht, und es fiel uns ziemlich schwer da auf einen Nenner zu kommen. Wir haben lange darüber gesprochen, ob es nicht doch konkreter werden sollte oder ob der Song in sich verständlich ist. Aber für uns hat es sich letztlich nur so, wie die Lyrics jetzt auch geworden sind, authentisch und gut angefühlt. Im Zentrum sollte das Gefühl stehen und diese Wut war nicht auf ein einzelnes Ding herunterzubrechen. Natürlich gibt es Themen, die man einfach schlecht findet und verurteilt, aber es ist viel Arbeit sich eine feste Meinung zu bilden und Themen ganz und gar zu durchdringen. Ich fand es dann schöner das Gefühl des ‚Sich-Unverstanden-Fühlens’ zu transportieren, weil es ehrlicher und universeller ist. Aber das stimmt schon, musikalisch hört es sich erstmal so an, als würde man eine große Ansage machen; die klare Position ist dann aber eher nur in den Zwischentönen. Ich denke mit der Bildsprache im Video ist die Lesart dann aber auch eindeutiger geworden.

Wie viel schwieriger ist es denn, wenn da eine ganze Band hinter so einer Message steht oder stehen sollte und nicht nur ein Solo Act?

Es ist auf jeden Fall eine ziemliche Herausforderung und man muss einfach konstant miteinander sprechen. Wir sind alle vom selben Schlag und machen deshalb schon mal viele gleiche Erfahrungen. Gerade bei politischer Konsensfindung ist es sehr wichtig das bis ins kleinste auszudiskutieren und nichts offen zu lassen.
Manche sind politischer manche weniger, manche lesen viel und manche weniger und dann muss man sich gegenseitig konstant auf den gleichen Nenner bringen. Aber genau das spiegelt unser Publikum ja auch ganz gut wieder.

Eines eurer absoluten Kernthemen ist ja auch der Stadt-Land Konflikt. Wie seht ihr diesen Konflikt hinsichtlich der politischen Strukturen und Strömungen?

Konservative Werte sind hier natürlich noch deutlich stärker verankert, das fällt immer wieder auf. Gerade als Band die bis dato nur Liebeslieder und viele romantische Songs über das Land geschrieben hat, war es ein echter Schritt dann auf einmal das Große Ganze anzugreifen. Unsere Zielgruppe ist insgesamt zwar eher ein junges, wokes Publikum, aber gerade durch das Ländliche, wofür wir eintreten, gibt es auch Menschen, die in diesen konservativen Strukturen bleiben und genau das feiern.. Genau deshalb war es wichtig mal Stellung zu beziehen.

Ist das im Privaten genauso? Musst du dich oft in Diskussionen stürzen oder abgrenzen?

Ja, es gibt ziemlich regelmäßig große Diskussion, weil es zum Beispiel Großväter gibt, die andere Werte vertreten als ich. Für mich ist es sehr wichtig weiter zu diskutieren, sich auszutauschen und auch diese Reibung zuzulassen. Gleichzeitig ist es wahnsinnig schwer und kräftezehrend, ganz besonders in so einem persönlichen Umfeld. Ich bin darin nicht besonders gut, weil man die Leute nicht umdrehen kann und man von seiner Meinung aber so leidenschaftlich überzeugt ist. Umso wichtiger ist es, geduldig zu bleiben und auch manchmal das Thema zu vermeiden oder eben in Kauf zu nehmen, dass aus der Diskussion ein Streit werden kann.

Zur letzten Europawahl gab es ja eine sehr große Bewegung für die EU. Da warst du ja auch mit am Start und hattest zum Beispiel den EU-Pulli im Video zu Was uns High machtan. Wie siehst du das heute, wo die Kritik immer mehr in den Vordergrund gerückt ist? 

Ganz grundsätzlich waren wir alle total Fan von diesem Bündnis, von dem Gedanken eines Systems das über Ländergrenzen hinausgeht. Hintergrund war ja auch der Brexit und es stand eher für den internationalen Zusammenhalt Ich finde die Grundzüge auch immer noch absolut unterstützenswert und das Wertesystem ist sehr humanistisch. In der Praxis ist das aber leider gar nicht mehr der Fall. Ich sehe die EU mittlerweile eher als riesigen Verwaltungsapparat, der viel zu statisch ist, zäh läuft und Reaktionen auf Krisen eher verlangsamt. Gerade wenn man jetzt an Moria denkt, ist diese Leistung absolut schwach. Die EU hat den Ruf für Humanismus und Wohlstand zu stehen, aber die Beispiele reihen sich nur so aneinander, in denen die Versprechen nicht eingehalten werden. Mit der Basis, den Werten und der Idee bin ich absolut d’accord, aber mit der Praxis ist glaube ich aktuell kaum jemand einverstanden.

Wenn es jetzt auf die Wahl zugeht, bereitet dir das politische Klima aktuell sorgen? 

Die Grünen haben ja schon einen guten Hype und so starke Umfragewerte, wie nie zuvor. Aber gleichzeitig ist sind sie an einigen Stellen immer noch zu schwammig und unkonkret. Dass Klimapolitik im Wahlkampf so wichtig geworden ist, ist natürlich stark Fridays for Future zu verdanken. Ich bin auf jeden Fall sehr gespannt und kann mir vorstellen, dass der Zustand der letzten Jahre endlich wieder aufgebrochen wird. Das Verlangen nach einem Wandel ist sehr groß und ich hoffe einfach, dass sich das im Ergebnis widerspiegeln wird.

Interview: Rosalie Ernst

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