WE BETTER TALK THIS OVER

WE BETTER TALK THIS OVER #8: „LULU“ VON LOU REED & METALLICA (2011)

Lower East Side 2025 (Photo: Thomas Venker)

„WE BETTER TALK THIS OVER” IST DIE KAPUT-KOLUMNE VON LENNART BRAUWERS, IN DER UNTERBEWERTETE, OFT ÜBERSEHENE (ODER GAR VERHASSTE) ALBEN GEFEIERTER BERÜHMTHEITEN BESPROCHEN UND NEU EINGEORDNET WERDEN. SCHLIESSLICH KANN SICH DER BLICK AUF MUSIK VERÄNDERN, JE ÄLTER SIE WIRD. ALSO: EXTREM VIEL GROSSARTIGES FINDET ZU UNRECHT KAUM BEACHTUNG – DARÜBER SOLLTEN WIR NOCHMAL REDEN.

„If your energy starts to leak out. And people wonder what you’re all about.“
Lou Reed im Song „Iced Honey“

So sehen Lou Reed Fans aus.

Hier wird ja gerne mal weit ausgeholt… Einer der besten Songs von Lou Reed heißt „Street Hassle“, stammt aus dem Jahr 1978 und ist eine zehnminütige, von bauchigen Streichern unterlegte 3-Akte-Story voller Prostitutions-/Drogenmissbrauch, die davon erzählt, wie eine unglückliche Kombination aus beiden Untaten zum Atemstillstand führen kann. Klingt erstmal wie typischer Lou-Reed-Kram und ist genau das. Bis im letzten Teil des Songs ein unerwarteter, dem anstößigen Stil von Lou Reed eher unähnlicher Featuregast auftaucht: Bruce Springsteen. Er verleiht der Story eine weitere Perspektive und packt am Ende sogar eine Referenz zu seinem Klassiker „Born To Run“ aus („Joe, tramps like us, we were born to pay“). Doch allein die Tatsache seiner Anwesenheit ist schon hochinteressant; schließlich befinden sich der transgressive Avantgardist Lou Reed und der auf Authentizität getrimmte Working-Class-Hero Bruce Springsteen auf weit voneinander entfernten Polen der US-amerikanischen Rockmusik. Regelwidrige Coolness vs. aufrichtiger Traditionalismus. Großartige Kombination – gerade weil sie so unpassend ist. Pardon: Vermeintlich unpassend…

Merkwürdige Zusammenarbeiten waren also schon in den Siebzigern etwas, dem gegenüber Lou Reed alles andere als abgeneigt war. Der Mann packte sich einfach, was sich gut für ihn anfühlte, egal wie weit entfernt es schien; am Ende war’s eh alles Rock’n’Roll, und den liebte Lou Reed ja bekanntlich (siehe „Rock & Roll“, den huldigenden Klassiker seiner alten Band The Velvet Underground). Sicher ist – bitte entschuldigt meine Wortwahl: Lou Reed gab auch hinsichtlich seiner Kollaborationen keine Ficks. Niemand sonst war beim Überschreiten von Grenzen so stilsicher. Niemand sonst konnte Rebellion zu einer so ansprechenden Ästhetik verwandeln. Niemand sonst war Lou Reed.

Doch damals hätte vermutlich keiner für möglich gehalten, dass sich der ultraeinflussreiche Ur-Punk irgendwann mit einer Band zusammentun würde, die noch wesentlich weiter von seiner eigenen Ästhetik entfernt ist; die keinem Lou-Reed-Fan ins Haus kommen würde; die auf einem ganz anderen Rock-Planeten stattfindet… Metallica. Die subkulturell bedingten Ideologieunterschiede zwischen beiden Acts sind immens: Lou Reed steht für einen hipsterartigen und vor allem auch queeren Indie/Punk-Swag, während Metallica stattdessen aufgeblasenen und (für Leute wie mich) extrem glattgebügelten Mainstream-Metal symbolisieren. Überschneidungen gab es – zumindest auf den ersten Blick – nur wenige. Entweder du trägst coole Sonnenbrillen, rauchst viele Zigaretten und folgst Lou Reed bei seinen ungefilterten Punk-Erzählungen, oder du stehst breitbeinig vorm Spiegel und probierst dich an prolligen Metallica-Gitarrenriffs. No offence to anyone, aber nur die wenigsten stehen auf beides. Make a choice.

Der Autor in London.

Wobei, Entscheidung ist Quatsch. Du suchst dir keine Subkultur aus, nein, sie sucht sich dich aus; und ich bin halt ein Indie/Punk-Kid, das war schon immer so, hängt vermutlich mit meiner Sozialisation oder angeborenen Präferenzen zusammen. Leider (?) ist es nun einmal so, dass viele Musikhörer wie ich das Metal-Genre als eine Art Feinbild wahrnehmen – wenn auch als Feindbild, das man irgendwie lustig findet, doch beim besten Willen nicht für voll nehmen kann. Sorry, aber man will ja ehrlich sein… Ich erinnere mich schwammig, wie ich mit betrunkenem Kopf mal Freunden erzählte, ich würde selbst deutschen Ballermann-Schlager besser finden als Metal. „Die meinen das immerhin nicht ernst“, hab ich wahrscheinlich gesagt und dann zurecht (!) Gegenwind bekommen. Heutzutage, in Zeiten des Streamings und der damit einhergehenden Gleichmacherei, ist ein solches Schubladendenken doch völlig veraltet, oder? Nö, für mich und viele andere bleibt das topaktuell. Tatsächlich: Im Vergleich zum Indie-Rock oder Punk ist das Metal-Genre noch viel ‚exklusiver‘ und bedachter darauf, wer dazu gehört und wer nicht. „The music divides us into tribes“, sangen Arcade Fire auf ihrem 2010er Meisterwerk „The Suburbs“. Sehr, sehr wahr.

Zurück also zu meiner Erschrockenheit darüber, dass der damals 69-jährige Punk-Gott Lou Reed gemeinsam mit den klischeebehafteten Muckimännern von Metallica ein Kollaborationsalbum veröffentlicht hat. „Lulu“ heißt der Spaß und erschien 2011 – es ist das letzte Album, das Lou Reed zu Lebzeiten veröffentlicht hat. So verwirrt wie ich als Indie-Fan von dieser Kollaboration war, so waren das (wie angedeutet) auch die Metal-Heads; es ist immer eine Frage der Perspektive, für beide Parteien wirkte das Ganze ziemlich komisch. Die Indie Kids: „Warum hat Lou Reed nicht eine coole Band wie Deerhunter oder Animal Collective als Begleitgruppe gewählt?“ Und auf der anderen Seite die Metal-Heads: „Wer ist dieser alte Opa, der da über die Gitarrenriffs von Metallica brabbelt?“ Aufgrund der beschriebenen Subkulturkämpfe ist „Lulu“ ein spannendes Diskussionsthema, schon bevor man eine Note gehört hat. Allein über die verrückte Existenz dieser Platte lässt sich viel schreiben… Und dann der erste Song, „Brandenburg Gate“. Für Metal- und Indie-Fans könnte er aus völlig unterschiedlichen Gründen befremdlich sein. So waren viele Metal-Heads über die ungewöhnliche Vortragsweise und ungefilterten Lyrics von Lou Reed empört – „I would cut my legs and tits off“, lautet die erste Zeile –, wohingegen die Indie-Kids eher wenig Gefallen an dem Over-the-top-Geballer von Metallica fanden. Beide Parteien konnten wenig mit „Lulu“ anfangen, sie hassten das Album geradezu. What a shame.

(Die Lyrics basieren teilweise auf einem Drama des deutschen Schriftstellers/Dichters Frank Wedekind, wodurch das gesamte Projekt noch bizarrer wird. Denn so erhält die Platte einen dritten Kollaborationspartner, der kaum ins Bild zu passen scheint.)

„Lulu“ ist kaum weniger als ein Meisterwerk der anstrengendsten Art. Anstößige, fast schon pornographische Lyrics – inklusive körperlicher Brutalität, meist sexueller Natur – waren im Œuvre von Lou Reed nichts Neues, allerdings wurden sie in den „Lulu“-Songs auf die Spitze getrieben und mit einer weiblichen Perspektive ausgestattet: „I will swallow your sharpest cutter like a colored man’s dick, blood spurting from me!“ Komplett Hardcore ist das. „I wish you could tie me up and beat me, I beg you to degrade me“. Der Mann, der bereits in den späten Sechzigerjahren mit Songs wie „Venus in Furs“ oder „Sister Ray“ sämtliche Grenzen der Popkultur durchbrach und sie um obszöne Thematiken erweiterte (Sadomasochismus/Druuuuuuugs/etc.), schaltete auf „Lulu“ ein neues Level frei. Muss man wollen. Ich will.

Wo ich mir – wie ausgiebig beschrieben – unsicher war, ob ich das wollen würde, letztendlich aber überzeugt wurde: Der Metallica-Part des gesamten Unterfangens. Auch als prätentiöser Indie-Fan muss ich zugeben, dass die Power von Metallica unbestreitbar ist; verrückt, dass es nur eine Prise Lou Reed braucht, um das zu erkennen. „Lulu“ wirkt also gewissermaßen augenöffnend, plötzlich finde ich die pumpenden Gitarrenriffs belebend, den ergänzenden Gesang von Frontmann James Hetfield ganz funny, das Schlagzeugspiel von Lars Ulrich auf bestmögliche Weise dämlich. In Kombination mit dem emotionsgeladenen Spoken-Word-Gesang von Lou Reed entsteht auf „Lulu“ einmalige Musik, die schmerzt und herausfordert und (letztendlich) begeistert. In seiner Wirkung ist diese avantgardistische Metal/WasAuchImmer-Mischung ultraoriginell, diese Songs spucken jeglichen Konventionen ins Gesicht.

Lou Reeds Verlangen, seine treuen Fans vor den Kopf zu stoßen, war längst bekannt. „And me, I’ve always been this way, not by choice“, heißt es in einem besonders fetten Moment des (verhältnismäßig zugänglichen) Highlights „Iced Honey“; Reed kann schlichtweg nicht anders. „For worship of someone who actively despises you“, singt er in der brachialen Lead-Single „The View“ und trifft den Nagel auf den Kopf. Denn er nutzt die Lyrics hier zwar in einem anderen Kontext, lässt zwischen den Zeilen aber durchschimmern, dass ihn die Reaktion seines Publikums kaum interessiert. „Your love means zero to me“, meint er in „Cheat on Me“ – einem elfminütigen Song, der Metal-Riffs mit streicherlastigen Ambient-Passagen verbindet und dadurch einiges von mir abverlangt. Dass sich das am Ende auszahlt, war bereits bei den legendären The Velvet Underground so, aber auch schon von Anbeginn seiner Solokarriere, mit radikalen Stinkefinger-Alben wie dem aus stechendem Krach bestehenden „Metal Machine Music“ aus dem Jahr 1975. „I don’t have any fans left. After Metal Machine Music, they all fled. Who cares? I’m essentially in this for the fun of it“, hat Reed selbst mal gesagt. Seine Karriere war nicht für uns bestimmt, der Mann hatte andere Ziele. Sei dabei oder halt nicht.

Und ja, so gut wie alle waren erstmal nicht dabei. Die meisten Musikkritiker*innen – auch jene, die andere Klangherausforderungen von Lou Reed in den Himmel lobten – bekamen „Lulu“ in den falschen Hals. Der Konsens lautete: Was soll der Quatsch? Ist das ein Witz? Können die das tatsächlich ernst meinen? Schnell wurde die Platte (auch spaßeshalber) als „The Worst Album of All Time“ bezeichnet. Besonders legendär ist die Review des einflussreichen Musikmagazins Pitchfork, in dem Autor Stuart Berman schrieb, dass nichts auf „Lulu“ zusammenpassen würde, die beiden Parteien sich auf völlig unterschiedlichen Planeten befänden. „For all the hilarity that ought to ensue here, Lulu is a frustratingly noble failure. Audacious to the extreme, but exhaustingly tedious as a result, its few interesting ideas are stretched out beyond the point of utility and pounded into submission.“ Einen vernichtenden Score von 1/10 erhielt das Album von Pitchfork, was eher eine Seltenheit ist. Die Kritik des prägenden Musikkritikers Chuck Klosterman war ebenfalls eindeutig in ihrer Aussage, so nannte er „Lulu“ unhörbar und schreibt beispielsweise „If the Red Hot Chili Peppers acoustically covered the 12 worst Primus songs for Starbucks, it would still be (slightly) better than this.“ Außerdem meint er, dass „Lulu“ so klingen würde, als hätten Lou Reed und Metallica damit überhaupt gar nicht erst versucht, ihr Publikum zufriedenzustellen. Stimmt. Na und?

Dass ein aufgeladenes Album wie „Lulu“, dessen Ambition in erster Linie nicht darin besteht, dich als Hörer zu unterhalten, durchaus wertvoll sein kann, scheint übersehen zu werden. Immer seltener wird man auf so kreative Weise herausgefordert – vor allem von zwei Musikgiganten dieser Größe, die hier ihre Komfortzonen verließen und gemeinsam eine originelle, bestialische Entität bildeten. Sie brachen unsere Herzen auf eine Art, mit der wir nicht rechnen konnten. Auf „Lulu“ wurde alles überstrapaziert, man hat sich komplett auf die Verrücktheit des gesamten Projekts eingelassen. Das ist doch toll! Heutzutage stellen die allermeisten Musikkonsument*innen sofort einen Song ab, sobald er ihnen nicht direkt gefällt, und trauen sich kaum, einen Schritt in abwegige Genrewelten zu machen. Ich sage: „Lulu“ kann uns lehren, uns zu öffnen, uns künstlerisch zu foltern und unser musikalisches Schubladendenken beiseitezulegen. So wie Lou Reed und Metallica es gemacht haben.

Glücklicherweise bin ich nicht völlig allein mit meiner Liebe für „Lulu“, auch David Bowie soll ein Riesenfan des Albums gewesen sein, laut James Murphy (von LCD Soundsystem) und Laurie Anderson, der künstlerisch unerreichbaren Witwe von Lou Reed. In ihrer ebenso herzzerreißenden wie -erwärmenden Rede zu Reeds posthumen Einführung in die Rock and Roll Hall of Fame erzählte sie: „And after Lou’s death, David Bowie made a big point of saying to me, ‘Listen, this is Lou’s greatest work. This is his masterpiece. Just wait, it will be like [his 1973 album] Berlin. It will take everyone a while to catch up.’“ Auch weil „Lulu“ eben das letzte Werk ist, dass Lou Reed zu Lebzeiten veröffentlichte, ist ein frischer, unvoreingenommener Blick auf dieses gewaltige Meisterwerk essenziell.

Das Album endet mit „Junior Dad“, dem vielleicht gefühlsintensivsten Song aus Lou Reeds gesamter Karriere. Metallica liefern hier ein großartiges Chorus-Gitarrenriff mit genau dem richtigen Level an Sentimentalität, das gesamte Arrangement berührt mich zutiefst, ausgedehnte Streicher lassen Reed gen Himmel schweben. Die Musiklegende scheint sich nach einer Vaterfigur zu sehnen und gleichzeitig in den Spiegel zu schauen – ein allerletztes Mal: „Age withered him and changed him“, singt er und trägt diese Worte auf ergreifende Weise vor. Ja, das Alter hat Lou Reed verändert… wenn auch nur bedingt.
Gott sei Dank!

 

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