Liebe, Witz und Neuerfindung – The Hidden Cameras sind zurück!

Joel Gibb aka The Hidden Cameras (Photo: Max Zerrahn, courtesy of The Hidden Cameras)
„Brontosaurus Law“, die neue Single von Joel Gibb aka The Hidden Cameras, erschienen im Vorfeld des kommenden Albums „BRONTO“, kreist um die unaufhaltsame Wucht der Zeit, die scheinbare Unvermeidlichkeit des Lebens und unser ewiges Ringen, darin Sinn zu entdecken. Gibb verabschiedet sich vom Herzschmerz und übt sich in Selbstliebe. Doch wie immer bei ihm schwingt Humor mit: Der Song eröffnet mit einem donnernden Dino-Schrei, der gleichzeitig auf den phallischen Hals des Urzeitwesens verweist. Diese Spannung – zart und verspielt, ernst und doch ironisch – macht die Rückkehr von The Hidden Cameras so spannend.
Beltane, das keltische Fruchtbarkeits- und Liebesfest, stellt mit dem Maibaum ein phallisches Symbol dar – Sinnbild für Wiedergeburt und Leidenschaft. Phallische Zeichen ziehen sich durch die Kulturgeschichte: mal verehrt, mal verdrängt. Die Römer beteten Priapus an, Kirchenväter kämpften später mit diesem Erbe – ein Konflikt, der bis heute nachhallt. Ist das für dich Provokation oder Ausdruck von Liebe?
Joel Gibb: Ich weiß nicht genug über das Thema, um besonders klug zu antworten. Phallische Symbole liegen im Auge des Betrachters. Was nicht als Phallus gedacht ist, kann trotzdem so gelesen werden.
Mit „BRONTO“ – „Donner“ auf Griechisch – legen The Hidden Cameras ein Album vor, das Pop neu vermisst. Joel Gibb hat eine unkonventionelle Meta-Dance-Pop-Platte geschaffen, inspiriert von seiner Wahlheimat Berlin – und flankiert von Remixen, produziert von unter anderen Pet Shop Boys und Vince Clarke. Pulsierende Basslines, soulige Pianofiguren und melancholische Streicher (arrangiert und eingespielt vom langjährigen Weggefährten Owen Pallett) prägen „How Do You Love?“ – ein bittersüßer Balanceakt zwischen Euphorie und Schmerz, also mitten ins Herz der Disco gezielt. Die Pet Shop Boys machten daraus einen emotionalen Disco-Banger, voller jubelnder House-Pianos und himmelhochjauchzender Streicher. Die zweite Single „Undertow“ hüllte Vince Clarke in funkelnde 80er-Synth-Pop-Gewänder im typischen Yazoo-Stil – Ohrwurm-Garantie.
DIe Pet Shop Boys und Erasure haben – neben Soft Cell und Bronski Beat – queere Menschen in den 80ern sichtbar gemacht, weit über die Community hinaus. Trotz Thatcher-Ära-Homophobie gab es in mancher Hinsicht mehr Offenheit als heute, wo rechte Politiker:innen mit Hass wieder Kasse machen. Wer hat dir persönlich Mut gegeben? Und welches Stück ist dein persönliches Highlight in den Diskografien von Vince Clarke/Erasure oder den Pet Shop Boys?
Joel Gibb: Ich war ein Kind in den 80ern und mochte sowohl Depeche Mode als auch die Pet Shop Boys. Welche Songs? „Just Can’t Get Enough“ von Depeche Mode und „What Have I Done to Deserve This?“ von den Pet Shop Boys.
Mit seinem siebten Studioalbum „BRONTO“ reiht sich Joel Gibb in die Traditionslinie von Lou Reed bis David Bowie ein. Entstanden ist ein Werk, das zwar von Berlin inspiriert wurde (wo der in Kanada geborene Musiker seit über zehn Jahren lebt), aber in der alten der Disco-Metropole München zusammen mit dem Produzenten Nicolas Sierig (Joasihno) aufgenommen wurde. Heraus kam ein elektronisches Meta-Dance-Pop-Album für die Nacht. Clubs waren immer Orte des Widerstands und der Gemeinschaft in der queeren Geschichte. „BRONTO“ setzt genau dort an: als Hommage – und zugleich als Fortführung.
München bringt man in Sachen queere Musik sofort mit Freddie Mercury in Verbindung. Wie auch sein Biopic zeigte, suchte er hier die schwulen Clubs auf und fand dort die Inspiration für sein erstes Soloalbum. Mercury sagte einst: „I had a lot of ideas bursting to get out, and I wanted to explore musical areas I couldn’t really pursue within Queen.“ Hast du mit „BRONTO“ eine ähnliche Befreiung erlebt?
Joel Gibb: Ich denke regelmäßig an Freddie, wenn ich in München bin, besonders am Gärtnerplatz. Es war mir wichtig, „BRONTO“ in einer anderen Stadt aufzunehmen. München fühlt sich vertraut an, fast wie Zuhause. Außerdem gibt es dort warme elektronische Assoziationen (Moroder), die mich inspiriert haben.
Auf „BRONTO“ wechselt Joel Gibb die Outfits: Halb-instrumentale Stücke wie „Full Cycle“ und „Wie wild“ wirken wie kleine Kinoepen, irgendwo zwischen Morricone und Vangelis.

Joel Gibb aka The Hidden Cameras (Photo: Max Zerrahn, courtesy of The Hidden Cameras)
Als ich „Wie wild“ hörte, dachte ich sofort an Vangelis’ China. Lieg ich daneben – oder war das ein Bezugspunkt? Gibt es einen Filmscore, den du immer wieder privat hörst?
Joel Gibb: „Wie wild“ ist einzigartig, halb Filmsoundtrack, halb Ballade. Ich wollte an beiden Enden des Albums Stücke haben, die die Dance-Texturen brechen und Drama einbringen. Obwohl ich Vangelis und Morricone sehr bewundere, höre ich nicht regelmäßig Scores. Wenn ich wählen müsste: „Blade Runner“. Ikonisch, immer wieder hörbar.
Der dubbige Downtempo-Synth-Track „I Want You“ spielt mit einer der abgenutztesten Phrasen der Popmusik – inklusive Augenzwinkern Richtung Depeche Mode. Man hört förmlich Martin Gore in diesem Song.
Wie ist deine persönliche Beziehung zu Depeche Mode? Und zu Daniel Miller von Mute?
Joel Gibb: Depeche Mode sind ein fester Teil meiner musikalischen DNA. Ich war sieben, als ich „People Are People“ das erste Mal hörte – seitdem bin ich Fan. Ich bin seit 20 Jahren auf Mute, es fühlt sich fast wie Familie an.
Zum Abschluss schließt „Don’t Tell Me That You Love Me“ das Album – mit hallenden Streichern von Owen Pallett,. Es ist das Stück, das am meisten an die frühen Hidden Cameras erinnert – kein Zufall, denn Gibb schrieb es bereits 2007, Vocals inklusive. „BRONTO“ wird so zur Zeitkapsel, ein Gespräch mit dem jüngeren Ich.
Wenn du zurückschaust: Worauf bist du am meisten stolz? Wer ist der „wahre“ Joel Gibb – Folk-Pop-Songwriter oder Electro-Disco-Troubadour? Weißt du schon, wohin dein nächstes Album geht?
Joel Gibb: Ich glaube nicht, dass es eine „wahre“ Version von mir gibt. Ich will immer Neues probieren. Vielleicht ist es ein Fehler, nicht bei einem Genre zu bleiben – aber ich bewundere Künstler, die sich neu erfinden. Ich rede ungern, bevor Dinge fertig sind, aber ja: Es gibt schon neues Material. Es wird unerwartet.
Wird du auf der Tour zu „BRONTO“ vor allem Songs vom Album spielen, oder gibt’s auch Folk-Pop-Momente im Set?
Joel Gibb: Dieses Jahr habe ich die Shows meist so aufgebaut: Ich eröffne oft mit „Don’t Tell Me That You Love Me“, spiele dann ein Set älteren Materials mit Gitarre, danach ein elektronisches Set mit „Carpe Jugular“. Das Finale oft mit Gast. Besonders freue ich mich auf Polen – auch, weil Efterklang dabei sind.
Mit „BRONTO“ zeigt Joel Gibb, dass Pop am stärksten ist, wenn er sich neu erfindet: donnernd, verspielt, zutiefst menschlich. Zwei Jahrzehnte nach der ersten Hidden Cameras Veröffentlichung ist er noch immer auf der Suche – und beweist: Veränderung ist die einzige Konstante.
The Hidden Cameras Tourdates:
11.09. Berlin, Rough Trade Store
15.09. London, Rough Trade East Instore
03.11. Prag, Café v lese
15.11. Warschau, Niebo (Special Guest: Efterklang)
06.11. Wien, Chelsea
19.11. Berlin, Berghain Kantine
09.12. Madrid, El Sol
10.12. Barcelona, Upload
12.12. Lissabon, Musicbox









