„Das Wichtigste bei MF DOOM war, dass er in einer sehr falschen Welt authentisch war“
MF DOOM zählt zu den rätselhaftesten und genialsten Persönlichkeiten im HipHop – ein außergewöhnlicher Rapper voller Widersprüche, Tiefgang und schrägem Humor. Das Buch „MF DOOM – Chroniken einer HipHop-Ikone“ beleuchtet all diese Facetten und zählt zu den herausragenden Musikbüchern des Jahres 2025.
Kaput-Autor Lennart Brauwers spricht mit S.H. Fernando Jr. (alias SKIZ), dem Verfasser des Buches, sowie dem Übersetzer Julian Brimmers über die komplexe Welt des maskierten Supervillains. Dabei geht es um die unverwechselbare Authentizität des Künstlers, seine klare Trennung von Rap- Karriere und Privatleben – und noch vieles mehr.
Lennart Brauwers: Wann und wie seid ihr zum ersten Mal mit der Musik von MF DOOM in Berührung gekommen? Vielleicht fangen wir mit dir an, SKIZ.

SH Fernando Jr (Photo: Cheryl Kinion)
SKIZ: Ich kannte MF DOOM zum ersten Mal noch aus der Zeit, als er Zev Love X war, Teil der Gruppe KMD. Sie brachten um 1989 oder 1990 ihr erstes Album „Mr. Hood“ heraus und bewegten sich damit sehr in derselben kreativen Richtung wie andere HipHop-Acts der Zeit – etwa De La Soul oder der Rest der Native Tongues Bewegung. Es war eine freundlichere, sanftere Form von HipHop als der meiste Gangsta-Rap von damals. Danach verlor ich sie für einige Jahre aus den Augen – bis 1999, als ich von diesem Typen MF DOOM hörte. Er hatte sich komplett neu erfunden, seine Stimme und seinen ganzen Stil verändert. Das hat mich umgehauen.
Julian Brimmers: Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Teenager die Juice gelesen habe – das war damals das große deutsche Rap-Magazin. Dort gab es eine Rezension zu „Operation: Doomsday“, die vier Kronen vergab – wir hatten Kronen, keine Mikrofone – aber der Tonfall wirkte ein wenig zurückhaltend. Also habe ich mir das Album nicht sofort angehört. Dann sagte mir ein Freund, ich müsste vorbeikommen, weil er etwas von MTV oder Viva Zwei aufgenommen hatte. Damals lief das Video zu „?“. Das war das erste Mal, dass ich DOOM gesehen habe. Ich hatte überhaupt keinen Kontext. Mein Eindruck war einfach: Das klingt sehr roh. Ich dachte nur: „Wer ist dieser Typ mit der Maske und dem Machete?“ Es war super seltsam, aber gleichzeitig faszinierend.
Wie kam das gesamte Buchprojekt eigentlich zustande? Wann hat es angefangen, und was war die Grundidee dahinter?
SKIZ: Ich hatte gerade mein Wu-Tang-Buch „From the Streets of Shaolin: The Wu- Tang Saga“ fertiggeschrieben und reichte das Manuskript am 1. Januar 2021 ein. In der Nacht davor – an Silvester 2020 – hörte ich die Nachricht, dass MF DOOM gestorben war. Später erfuhren wir, dass er tatsächlich schon zwei Monate zuvor, an Halloween, gestorben war. Das hat mich richtig getroffen. DOOM war ein Zeitgenosse von mir – etwa zwei Jahre jünger – und die Nachricht, dass ein 49- jähriger Mann gestorben war, hat mich überrascht. Ich kannte ihn nicht persönlich, hatte seine Arbeit aber über Jahre verfolgt. Da ich gerade das Wu-Tang-Buch fertiggestellt hatte und nach einem neuen Projekt suchte, begann ich, mich mit DOOM zu beschäftigen. Ehrlich gesagt war ich mir nicht sicher, ob überhaupt jemand daran interessiert wäre. Ich dachte, DOOM sei zu underground. Ich war so ein bisschen in meiner eigenen Schreibblase und hatte keine Ahnung, wie groß DOOMs Reichweite wirklich war. Er erinnerte mich sehr an J Dilla – ebenfalls eine Underground-Figur, die mit Top-Künstlern arbeitete. Es gab ein Dilla-Buch, also dachte ich: Wenn es ein Dilla-Buch gibt, sollte es auch ein DOOM-Buch geben.
Julian, wie bist du da reingerutscht?

Julian Brimmers (Photo: Kaspar Achenbach)
Julian Brimmers: Als ich eine Nachricht von Falk Schacht bekam, dem legendären deutschen Rap-Journalisten. Er sagte mir, dass ein deutscher Verlag jemanden suche, der das DOOM-Buch übersetzt. Sowas kann bei kleinen deutschen Indie-Verlagen schwierig sein; es ist ein Nischenmarkt, und man weiß nie, wie groß das Publikum sein wird. Aber wir haben beschlossen, es auf jeden Fall durchzuziehen. DOOM hat in Deutschland eine riesige Fangemeinde, und für mich ist es eine Art persönliche Mission, solche Bücher für Leser zugänglich zu machen, die 300 Seiten auf Englisch vielleicht nicht schaffen würden. Es geht nicht darum, snobistisch zu sein – es ist einfach so, dass das Lesen eines kompletten englischen Buches für viele deutsche Fans wirklich schwer ist. Mit diesem Projekt wollten wir ein Beispiel setzen. Es war eine echte Herzensangelegenheit.
Reden wir ein bisschen mehr über den Künstler MF DOOM selbst. Auf dem Papier wirkt das ganze DOOM-Ding fast zu verrückt, um wahr zu sein: Er gehört zu den begabtesten Rappern aller Zeiten, hat seine Persona aber nach einem Comic- Bösewicht gestaltet, sampelte Cartoons, bezog sich auf Godzilla … und es gibt auch etwas Tragisches an ihm. Eine wahnsinnige Mischung. Meine große Frage ist: Was war es an DOOM, das ihm ermöglichte, all das zusammenzubringen?
SKIZ: Ich denke, das Wichtigste bei DOOM war, dass er in einer sehr falschen Welt authentisch war. Wir leben in einer Ära von Fake News, Social Media – jeder zeigt ein Fake-Leben, um andere eifersüchtig zu machen. Das durchschaut man. Und man spürt auch DOOMs Echtheit. Ironischerweise stellte er sich als Comic-Charakter dar, aber für mich war er einer der realsten Künstler überhaupt. Er sprach selten direkt über sich selbst, aber irgendwie fühlte es sich immer tief persönlich an. Das ist die faszinierende Dichotomie bei DOOM. Er ist dieser überlebensgroße „Superschurke“, aber wenn man sich mit seinen Texten beschäftigt, wirkt es intim, fast so, als spräche er direkt mit einem. Sein Reimstil unterstreicht das. Und im Gegensatz zu vielen Rappern, die ständig ihren Lifestyle zur Schau stellen, kommt DOOMs Reiz von der anderen Seite. Er ist geerdet. Selbst wenn er nur wenige Details über sein Leben preisgibt, treffen diese umso stärker, weil sie so selten sind. Diese Authentizität verbindet all diese unterschiedlichen Fangemeinden.
Es ist lustig – bei ihm wirkt alles extrem authentisch, aber auf eine Art überschreitet er auch Authentizität.
Julian: Es gibt ja diesen Satz: „Die Wahrheit ist manchmal seltsamer als die Fiktion“, aber bei ihm ist es fast das Gegenteil: Durch Fiktion, durch die Maske und Persona, enthüllt er eine tiefere Wahrheit. Indem er sich hinter einer Figur versteckte, gab er sich selbst die völlige Freiheit, wirklich er selbst zu sein – zu erforschen, was ihm wirklich wichtig war. Es ist verrückt, dass das so funktioniert.
Eine Sache, die ich im Buch besonders interessant fand, ist, wie DOOM sich als fiktive Figur darstellt, aber gleichzeitig als „Jedermann“, eine Art Arbeiterheld. Wie würdest du diese Ambivalenz beschreiben?
SKIZ: Ja, das ist faszinierend – einerseits sagt er: „Ich bin der Superschurke“, andererseits repräsentiert er den normalen Menschen. Deshalb habe ich im Buch viel über die Doctor-Doom-Entstehungsgeschichte geschrieben – weil es so viele Parallelen zwischen der Comicfigur und DOOM selbst gibt. Für mich macht DOOMs Besonderheit aus, dass er sich als Autor gesehen hat. Das ist eine brillante Sicht auf Kunst: Als Autor kann man jede Figur annehmen, die man will, und jede enthält dennoch einen Teil von einem selbst. DOOM war komplex, fast schon schizophren kreativ – King Geedorah, Viktor Vaughn, MF DOOM – jede Figur drückte eine andere Seite von ihm aus. Indem er sagte „Ich bin kein Rapper, ich bin ein Autor“, gab er sich die Erlaubnis, all diese Aspekte seiner Persönlichkeit zu kanalisieren.
Julian: Um nur ein auffälliges Beispiel zu nennen: Auf De La Souls „Rock Co.Kane Flow“ – ein Song, in dem DOOM zu hören ist –, rappt er in der dritten Person Singular. Das ist so verrückt, weil diese Perspektive seine Künstlichkeit noch stärker betont, vor allem im Vergleich zu den Rappern in De La Soul. Und was das „Everyman“-Thema angeht, steht das wirklich schön im Buch: Rapper präsentieren sich sowieso schon als überlebensgroß, mit Luxusleben und allem Drum und Dran. DOOM ging dagegen an, indem er nerdig, fehlerhaft und nicht cool genug war. Es
wirkte fast so, als würde er sagen: „Komm, stell dich auf meine Seite!“
SKIZ: Das ist eine großartige Beschreibung. Er hat Nerdsein cool gemacht. Vor DOOM brauchten Rapper Swagger, aber DOOM ging den kompletten Gegenkurs. Er hatte einen Bierbauch, trug keine Ketten und wollte niemanden beeindrucken. Er schuf eine Maske, um zwei Identitäten zu haben: eine öffentliche und eine private. Sein Familienleben war ihm wichtig – er hatte fünf Kinder, war seiner Frau treu und wollte diesen Bereich schützen. Ruhm kann gefährlich sein, besonders wenn man aus dem Ghetto kommt. Die Maske war also nicht nur eine ästhetische Entscheidung, sondern eine Form der Selbstbewahrung.
Julian: Und stell dir vor – er wurde ein riesiger Star, mit Millionen monatlicher Hörer auf Streamingplattformen, ohne jemals das Spiel um Ruhm spielen zu müssen. Das ist absolute Freiheit.
Wie war es, ein Buch über jemanden zu schreiben, der so privat war? War es schwierig, verlässliche Informationen zu finden?
SKIZ: Es war hart. Ich habe wohl unterschätzt, wie schwer es sein würde. Als jemand, der seit Jahrzehnten über HipHop schreibt, dachte ich, es würde einfacher. Aber DOOM war extrem privat, und sein engstes Umfeld schützte das. Selbst Menschen aus seinem direkten Kreis – seine Frau, Mitarbeiter, Freunde – wollten oft nicht sprechen. Glücklicherweise hatten einige bereits Interviews gegeben, auf die ich zurückgreifen konnte. Was mir Sicherheit gab, war, dass ich selbst in den 90ern Teil der unabhängigen HipHop-Szene war und viele Leute aus seinem Umfeld kannte – Labelbesitzer, Produzenten, DJs. Ich habe von außen angefangen und mich langsam hineingearbeitet. Am Ende habe ich etwa 50 Menschen interviewt, die mit DOOM zu tun hatten. Das half, Lücken zu schließen – etwa, was in den 90ern passiert ist, als er verschwand, oder seine Zeit in England. Es fühlte sich ein bisschen wie Detektivarbeit an. Auch wenn es schwer war, hat es unglaublich viel Spaß gemacht – neue Informationen über jemanden so Geheimnisvolles wie DOOM zu entdecken, ist extrem befriedigend.
Nachdem ihr so viel Zeit damit verbracht habt, über DOOM zu recherchieren und zu schreiben – wie viel von seinem echten Ich steckt eurer Meinung nach in seinen Charakteren?
Julian: Ich habe DOOM nie wirklich getroffen. Ich weiß nicht mehr genau, wie es war, aber einmal war ich im selben Raum mit ihm; bei der Red Bull Music Academy im Jahr 2011, während einer meiner ersten Arbeitswochen. Ich war völlig überwältigt. Aber aus allem, was ich gelesen und gehört habe, ist seine Persönlichkeit untrennbar mit seiner Kunst verbunden. Seine nerdigen Interessen, seine Obsessionen
– sie sind die Bausteine seiner Musik. Mein Lieblingsteil in SKIZ ’Buch ist, wie er DOOMs Faszination für esoterisches und mystisches Wissen beleuchtet. Diese Seite von ihm – das Anschauen obskurer Vorträge, das Eintauchen in alte Texte während seiner Zeit in England – zieht sich wie ein roter Faden durch sein späteres Werk.
SKIZ: Ja, da stimme ich zu. Ich denke, er hat viel von sich selbst in seine Figuren eingebracht – deshalb gab es auch so viele. Jede Figur erlaubte ihm, einen anderen Teil seiner Persönlichkeit auszudrücken, wie ein Romanautor, der mehrere Charaktere erschafft. Ich habe mich im Buch besonders mit dem Kapitel über die Nuwaubian Nation beschäftigt, weil ich glaube, dass dort seine Faszination für esoterisches Wissen ihren Anfang nahm. Dieses Material – UFOs, Pyramiden – fand seinen Weg in seine Lyrics. Zum Beispiel erwähnt er Edward Leedskalnin, den lettischen Einwanderer, der das Coral Castle in Florida gebaut hat. Solche Dinge hat DOOM studiert und in seine Reime eingewoben. Später im Leben interessierte ihn das Forschen und Studieren vermutlich mehr als die Musik selbst. Die Fans wollten ein weiteres „Madvillainy“, aber DOOM ging es immer um Weiterentwicklung. Er erinnert mich an Miles Davis – ständig sich selbst neu erfinden, experimentieren. Irgendwann war Musik für ihn nur noch ein Ausdrucksmittel für eine viel umfassendere Neugier auf die Welt.
Ich fand immer spannend, dass seine Karriere fast parallel zur restlichen HipHop-Welt verlief. Aber euer Buch macht auch deutlich, wie verbunden er mit so vielen verschiedenen Leuten und Szenen war. Wie sehr würdest du sagen, dassDOOMs Karriere Teil der größeren Rap-Geschichte ist? Oder ist sie eher ein eigenständiges Phänomen?
SKIZ: Ich denke definitiv, dass sie Teil davon ist. Ich sehe DOOM als jemanden aus der Goldenen Ära, dessen Einfluss bis ins 21. Jahrhundert reicht. Ich würde ihn fast in dieselbe Kategorie wie Wu-Tang stellen. Es gibt so viele Parallelen in ihren Geschichten. RZA und GZA hatten beide früh Major-Deals, wurden fallen gelassen und mussten sich neu erfinden – genau wie DOOM. Für mich trugen sie aber die ursprüngliche Energie des HipHop weiter, als es noch um Kreativität, Originalität und Innovation ging. DOOM war für mich ein Botschafter dieser ursprünglichen Ära, der sie in die nächste Generation übertrug. Er hat definitiv jüngere Rapper beeinflusst – Earl Sweatshirt, Tyler, billy woods, Mach-Hommy – man hört DOOM in allen ein Stück weit. Das ist die Kontinuität, die ich in seiner Geschichte sehe: der ursprüngliche Funke des HipHop, der weitergetragen wird.
Humor spielt ja eine große Rolle bei DOOM – fällt euch eine Textzeile ein, die ihr besonders witzig findet?
Julian: Tatsächlich habe ich eine! Ich musste sie noch einmal nachschlagen; das Lustigste ist, wenn er einfach zufällige Dinge name-dropt. Mein Lieblingsvers ist: „Catch a throatful from the fire vocal / With ash and molten glass like Eyjafjallajökull / The volcano out of Iceland / He’ll conquer and destroy the rap world like the white men.“ Der Vulkanname war 2010 schon ein Meme, weil ihn niemand aussprechen konnte, und er dachte sich einfach: „Ich reim das jetzt!“ Selbst in so einer Zeile macht er einen Witz über Kolonialismus – und es klingt trotzdem mühelos. Rappen fiel ihm irgendwann einfach zu leicht.

S. H. Fernando Jr.
„MF DOOM: Chroniken einer Hip-Hop-Ikone“
Hardcover im Großformat (160 x 235 mm)
332 Seiten mit grafisch gestaltetem Vor- und Nachsatzpapier sowie aufklappbarer Infografik mit DOOM-Diskografie – deutsche Übersetzung Julian Bremers
29,50 € (DE)
Halvmall Verlag, 2025 ISBN 978-3-9822100-7-0






