25 aus 2000-2025

Fünf Tage vor Schüttung: Interpol „Turn on the Bright Lights“

Die Autorin im Interpol Shirt

Interpol
„Turn on the Bright Lights“
(Matador)
Wir schreiben den Sommer 2002. Mein damaliger Freund und ich wohnen in Barmbek, und es ist nicht so, dass wir das Leben auf – ich sach ma – großem Fuß leben. Gerade ich hangele mich mit scheiße bezahlten Jobs durch die Gegend und bin selbst mit 26 noch auf das Wohlwollen meiner Großeltern angewiesen, die mir ab und an einen Fuffi in die Post stecken oder nach einem Essen über den Tisch schieben. Es ist Ende des Monats, und aus irgendwelchen Gründen gehen wir trotzdem in den hässlichen Riesen-Saturn am Hamburger Hauptbahnhof, scharwenzeln durch die DVD- und CD-Abteilungen, gucken rum, hören rein.

Vor einigen Tagen hatte ich in meiner Mittagspause eine Konzertankündigung von einer Band gelesen, die im Logo spielt: Interpol. Auf dem Foto sieht man vier junge Männer mit Sonnenbrillen und Anzügen, die in unterschiedliche Richtungen schauen. Im Text steht was von „düster“, „melancholisch“, The Smiths, Chameleons und Joy Division und außerdem „New York“ und „The New Cool“ oder so. Aha, denke ich. Klingt ja super – und nur zwölf Euro Eintritt! Aber dann: schade, leider Zeitung von vorgestern, also verpasst. Egal, was soll’s, eh keine Kohle da.

An einer der „GEHEIMTIPP!“-Hörstationen fällt mir ein Cover auf. Es ist schwarz, darauf eine blutrote Leinwand (eines Autokinos vielleicht?), darüber steht der Name der Band – Interpol – und der Albumtitel: „Turn On The Bright Lights“.
Ich bin eine Ästhetin. Ich kaufe, höre oder leihe gerne Bücher, Filme und Platten, wenn mir das Cover gefällt – und meistens habe ich mit meinem Instinkt auch recht. Dank eines ansprechenden Covers konnte ich schon oft Schönes, Neues, Abstruses entdecken. Und ich find’s super, dass die Band, die ich erst kürzlich in meiner Mittagspause in der Zeitung sah und dann ja doch nicht sehen durfte, einen spitzenmäßigen Sinn für Ästhetik hat. Jedenfalls spricht mich alles an.

Normalerweise setze ich mir bei den Vorhörstationen immer nur mal kurz den Kopfhörer auf und skippe alle 20 bis 30 Sekunden einen Song weiter. Hier, aus irgendwelchen Gründen, skippe ich erst auf die Eins zurück. „Untitled“ heißt der Opener des Albums. Eine hallige Gitarre spielt B-Moll, D, A-Moll; ein Schlagzeug und ein Bass setzen nach ein paar Takten ein, und unter mir oder über mir tut sich irgendwas auf – ich falle oder schwebe.

„Surprise, sometimes, will come around / Surprise, sometimes, will come around / I will surprise you sometime, I’ll come around / When you’re down.“

Das ist der ganze Songtext. Eine zweite Gitarre setzt über die erste drüber, und ich habe von Kopf bis Fuß Gänsehaut. Ich bin nicht mehr im Saturn – ich bin in New York, ich bin am Meer, ich bin auf einer Beerdigung, ich sitze in einem Keller, ich weine, ich schlafe, ich habe Sex, ich träume – alles auf einmal.
Ich höre den Song komplett durch und starre wie ein debiler Trottel Löcher in die hässlichen Saturn-Regale mit den ganzen Scheißbands. Ich bin erleuchtet. Von mir aus kann der ganze Laden hier abbrennen – ich werde nur diese CD unter Einsatz meines Lebens raustragen.

Zweiter Song: „Obstacle 1“. Bitte was?! „NYC“, „PDA“ – ich drehe DURCH.

Wo ist überhaupt mein Freund? Ich laufe im Schweinsgalopp zu den DVDs. Ich sage: „Ich glaube, ich hab ’ne neue Lieblingsband“ und zerre ihn hinter mir her zu den CDs und zeige mit dem Finger auf das Cover: „Diese da.“
„Ah, okay, cool – nimm die doch mit“, sagt er, und er hat ja auch recht. Allerdings ist es ungefähr fünf Tage vor Schüttung, und es gilt abzuwägen: eine CD oder fünf Tage Frühstück auf der Arbeit – oder halt Schwarzfahren. Es dauert circa eine Minute, und ich stehe mit der CD am Bezahltresen und sage „LOS, BEEIL DICH, DU SATURN-HUNDESO…“ – nein, das sage ich natürlich nicht. Ich zahle 14,99 Euro mit dem letzten Zwanni, den ich habe, und feure wenige Minuten später den U-Bahn-Fahrer an, mit 1000 km/h Richtung Barmbek zu fliegen.

Zu Hause dann gleich rein in die CD-Schublade. Es ist die gleiche Magie wie eben noch. Ich brenne die CD vorsichtshalber gleich ein, nein zweimal und ziehe sie mir parallel auf meinen MP3-Player (128 MB). Die kommenden Wochen werde ich nichts anderes hören als diese Band. Zu „Stella Was a Diver and She Was Always Down“ heule ich, zu „Roland“ tanze ich, „Leif Erikson“ erschlägt mich mit seiner Schönheit: „She says it helps with the lights out / Her rabid glow is like Braille to the night.“
Was für ein Satz. Heute noch.

Ich beginne, mich zu kleiden wie die Band – kaufe Schlipse, schwarze Anzughosen, Hemden. Ich kaufe mir Gitarren und kriege zum Geburtstag später einen Bass geschenkt und versuche, alles nachzuspielen – mäßig erfolgreich.
2004 bringt die Band ihren Nachfolger „Antics“ heraus – erneut brenne ich lichterloh. Im Zuge dessen sehen wir die Band auch endlich das erste Mal live, in einer nicht ausverkauften Markthalle in Hamburg, mit Bloc Party als Vorband. Ich kann mich kaum an eine Minute des Konzerts erinnern, so aufgeregt war ich. Später fahren wir noch mit Paul Banks und Carlos Dengler zusammen Taxi, da sie nicht wissen, wo ihre Aftershow-Party stattfindet (Spoiler: in der sehr guten Weltbühne von Tino Hanekamp), und ziehen danach alle Mann/Frau über den Kiez und erleben Dinge … aber das steht auf einem anderen Blatt. Auch lerne ich auf dieser Tour eine Gruppe Leute kennen; später werden wir zusammen der Band nachreisen, und auch heute noch besteht Kontakt (hi an dieser Stelle!), auch wenn sich meine Leidenschaft mit den Jahren etwas beruhigt und gewandelt hat. Leider erreicht mich die Band seit den letzten drei Platten nicht mehr – aber wir alle werden älter und entwickeln uns weiter.

Doch die Tür zu der Welt, die Interpol mir aufgeschubst hat, war eine der zwei, drei wichtigsten in meiner musikalischen Ich-Werdung. Postpunk war Anfang der 2000er noch nicht ganz so ein inflationärer Begriff wie heute – es braucht manchmal ja bloß einen Hall-Effekt und etwas Attitude, und schon wird die Postpunk-Fahne geschwenkt – und wurde erst durch Bands wie eben Interpol, The Strokes oder Bloc Party in einen zweiten Frühling überführt.

Jedenfalls begann ich nach „Turn On The Bright Lights“ intensiv, die Achtziger-Originale zu entdecken. Klar, Joy Division und The Cure kennt ja nun wirklich jeder, aber Bands wie The Chameleons, Mission of Burma, Talking Heads, The Fall, Wipers et al. waren mir nur am Rande ein Begriff. Auch der gute deutschsprachige Kram aus Düsseldorf, Berlin und Hamburg – Abwärts, Nichts, Mittagspause und die ganzen „Verschwende deine Jugend“-Bands – war ein nimmer versiegender Quell der Freude.
Hundertprozentig würde ich heute nicht so auf Bands wie Die Nerven, Pisse, Friends of Gas oder Messer stehen (oder sie vielleicht sogar gar nicht kennen?), wenn es diesen einen Tag bei Saturn nicht gegeben hätte. Der uncoolste Ort, um eine der coolsten Bands aller Zeiten – oder jedenfalls für ein paar Jahre – zu entdecken.

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