ANIQO: „The Call“
Anita, was kannst du zur Genese des Songs sagen?
Anita Goß: Ich habe den Song bereits kurz nach der Veröffentlichung von meinem ersten Album „BIRTH“ geschrieben, im Spätsommer 2022. Ich habe zu dem Zeitpunkt gerade Island besucht und war fasziniert und mitgerissen von der Fulminanz, der Schönheit, aber auch der Gewalt der Natur, die zugleich einen tiefen Respekt und Ehrfurcht in mir ausgelöst hat. Von den Gletschern, Vulkanen, Wasserfällen geht eine unbeschreibliche Magie für mich aus – sie flüstern tief verborgene Geheimnisse, die man nur verstehen kann, wenn man ganz genau hinhört.
Ich glaube in diesem Gefühl liegt der Ursprung von „The Call“. Ich habe einige Recording-Anläufe mit dem Song gehabt – bei mir Zuhause, im Studio, habe MusikerInnen eingeladen, mit zu arrangieren, und letztlich im Studio X Berlin gemeinsam mit Dirk Feistel aufgenommen. Der Song hat noch eine Weile geruht, bevor ich 2023 entschloss, die Drums nochmal neu mit Nici Ziel zu recorden. Ich wollte sie kräftiger – denn mit dem Bass, den ich auch schon im Demo als wichtigen Teil mit der linken Hand am Piano definiert habe, haben auch die Drums einen wichtigen tief-erdigen Ursprungs-Effekt für mich. Sie symbolisieren für mich das Dröhnen in Mutter Erde, während die Gitarre als auch die Backing Vocals von Gloria einen überirdischen Ruf symbolisieren. Ich mit meiner Stimme und mit dem Piano und Synthiesounds bilden die Mitteltöne – das Klingen in der 3D-Welt, in der Materie, in der wir hier gerade leben, die Stimmen die in mir und durch mich kommunizieren mit dem oben, mit dem unten.
Es ist für mich ein sehr spiritueller Song, in dem es sicherlich darum geht, Balance zu finden zwischen den Rufen, die man wahrnimmt, und am Ende der eigenen Stimme zu folgen, die irdisch und überirdisch zugleich ist.
Ich war lange unsicher mit dem Song, hatte aber Anfang des Jahres den Call, ihn endlich zu veröffentlichen. Mit Gloria de Oliveiras Label La Double Vie hat sich ein Zuhause für die Veröffentlichung gefunden. Ich schätze das Label sehr, und da Gloria ja auch Backings gesungen hat, machte es total viel Sinn, es hier zu veröffentlichen – im geschützten Rahmen eines Künstler:innen-Kollektivs.

Fällt es dir generell leicht Bilder zu deinen Songs zuzulassen und finden?
Ich würde schon sagen ja. Visionen für neue Songs sind bei mir oft mit mehreren Sinnen verbunden – ich fühle, höre und sehe sie. Manchmal verändern sich diese Bilder im Laufe des Prozesses, doch die Essenz oder das Gefühl, das ich symbolisieren möchte, bleibt.
Bei dem Artwork von „BIRTH“, das ich auch selbst produziert habe, wollte ich zum Beispiel die miteinander verwobenen Schatten- und Lichtaspekte der Seele zum Ausdruck bringen. Vorher wusste ich allerdings nicht, dass ich auch Fotografie integrieren und es schließlich ein Selbstporträt werden würde.
Manchmal setze ich die Visionen auch genau so um, wie ich sie ursprünglich gesehen habe, wie etwa in meinem Video zu „Love Life“, in dem ich durch Berlin laufe und Passant:innen auf der Straße umarme.
Generell liebe ich es, zu fotografieren und Filme zu machen, auch wenn ich sie „nur“ als Teil meiner Musik begreife. Musik ist für mich persönlich die unmittelbarste Ausdrucksform. Alles andere webt sich darum herum.
Und konkret in diesem Fall?
In diesem Fall haben sich die Bilder in meinem Kopf im Laufe der Zeit verändert. Geblieben ist die Idee der Verbindung zum Ursprung und Universum durch die eigene Stimme. Nachdem ich Anfang des Jahres entschieden hatte, den Song zu veröffentlichen, wusste ich auch, dass ich ein Artwork und ein Video brauche bzw. kreieren möchte.
Im Sommer habe ich Portugal besucht und dort auch Jill besser kennengelernt, die sowohl auf dem Artwork von „The Call“ als auch neben mir im Video zu sehen ist. Jill wurde für mich zur Muse, weil sie tief mit Mutter Natur verwurzelt ist und zugleich mit dem „Himmel“, mit einer überirdischen Kraft, verbunden scheint. Hier schließt sich der Kreis zum Song: das Verbinden der Dinge durch die eigene Mitte. Die Bilder kamen dann von selbst. Die Kamera wurde zu meinem Instrument, um das Licht von Jill einzufangen.

Einem Zitat von dir – „I am working on „Earth, Love and Variations“ – entnehme ich, dass der neue Song wohl schon bald Gesellschaft bekommen wird.
Ja, das ist der Titel meines neuen Albums, das bereits fertig produziert ist. Aber „The Call“ ist nicht Teil davon, sondern symbolisiert den Übergang zu einer neuen, lichtvolleren musikalischen Ausdrucksform. Es ist ein Album, gefüllt mit Liebe, und genau darum geht es auch: um Liebe in all ihren Formen – von der Liebe zu sich selbst, über das Verliebtsein bis hin zur universellen Liebe – aber auch von der Schönheit im Abschied und Loslassen.
Ich bin sehr glücklich, dass ich es mit Bill Ryder-Jones aufnehmen konnte. Sein letztes Album „Iechyd Da“ war ein wichtiger Wegbegleiter für mich, und auch sein Titel „Don’t Be Scared, I Love You“ habe ich damals rauf und runter gehört. Bill ist sehr feinfühlig und hat die Intention meiner Songs verstanden und mit genau den richtigen Ideen und Arrangements bereichert. Ich kann es kaum erwarten, das Album mit der Welt zu teilen, sobald sich das richtige Team für die Veröffentlichung gefunden hat. Ich liebe es so sehr.
Du ziehst temporär nach Portugal? Wohin? Warum?
Ich bin jetzt wieder, wie auch schon im Sommer, in der Nähe von Sintra und Lissabon, in einem kleinen, wunderschönen Ort fußläufig zum Meer. Hier gibt es nicht viel: einen kleinen Supermarkt, ein, zwei Cafés und viel Natur. Berlin funktioniert für mich nicht mehr für längere Zeit – die Lautstärke und die momentane Energie halte ich nur bedingt aus. Deshalb ein längerer Aufenthalt an einem Ort, der mich gerufen hat. Ich suche eine neues zu Hause für immer. Vielleicht wird es Portugal, es kann aber auch sein, dass ich nach zwei Monaten entscheide, dass es doch England oder? werden soll. Auf jeden Fall versuche ich hier mich zu fokussieren, zu erden, zur Ruhe zu kommen und mich auf die Veröffentlichung des neuen Albums vorzubereiten. Alles, was ich zum Kreativsein brauche, habe ich auch dabei: meine Stimme, meinen neuen Synth und meine Kamera.
Was ist denn dein Lieblingssong bislang aus 2025?
Ich bin momentan nicht so auf den aktuellen Stand, was Neuveröffentlichungen betrifft – aber alle Songs vom neuen Kae Tempest Album.
Zwar nicht aus diesem Jahr, aber momentan eine meiner Lieblingskünstlerinnen und große Inspiration: Alice Coltrane mit Keshava Murahara:





