Critical Listening & Pop-Feminismus

Opening Show (Photo: Lennart Brauwers)
Auch in diesem Jahr bewies das Reeperbahn Festival wieder, dass es zu den allerbesten Popveranstaltungen in ganz Europa gehört. Vom 17. bis zum 20. September verwandelte sich der coolste Teil von Hamburg zu einer faszinierenden Mischung aus Konzertfestival, Convention, Award-Show und Diskussionsort; großartige Musikacts zu jeder Stunde, dazu spannende Talks und ein Publikum, das ebenso aus Industrieleuten wie wissbegierigen Musikfans besteht.
Bruce Springsteen mit Dr. Carsten Brosda
Schon die Opening Show, die im Stage Operettenhaus stattfand, konnte sich sehen lassen. Moderiert von der großartigen Clara Amfo, wurde den Zuschauer*innen hier innerhalb von 60 Minuten so einiges präsentiert – stets mit „Imagine Togetherness“, dem diesjährigen Festivalmotto, im Kern des Ganzen: Dr. Carsten Brosda (Senator für Kultur und Medien der Stadt Hamburg) hielt mal wieder eine fantastische Rede, die – wie es sich gehört – am Ende auf eine Pointe rund um Bruce Springsteen hinauslief; auch Festivalleiter Detlef Schwarte kam zu Wort und ging auf die Geschichte des Reeperbahn Festivals ein. Der (mir vorher tatsächlich unbekannte) Starsänger Calum Scott war nicht so wirklich mein Ding, dafür war die Performance von Future Female Africa – mit SheebahKarungi, Femi One, Die P, Onejiru, Mayonde, Anna Bassy, poundo, Nicole Hadfield, mari.ama und MissLeema – umso besser und strahlte vor allem Hoffnung aus. Sogar ein Astronaut war da und hat was über’s Weltall erzählt! Keine Ahnung warum – weil er im Weltall immer Musik gehört hat oder so? –, aber Astronauten sind cool… ein simulierter Raketenstart, ganz viel Konfetti, alles dabei! Bisschen übertrieben, ich lieb’s 🙂
Extrem viel Freude mit Westside Cowboy
Das erste Konzert-Highlight war für mich Westside Cowboy, die am Mittwochabend im Nochtspeicher auftraten. Wenn ich das richtig verstanden habe, war das ihre erste Show außerhalb der UK, doch das hat man dieser vielversprechenden Newcomer-Band aus Manchester – „The Gallaghers!“ rief ein Zuschauer zwischendurch in Richtung Bühne, als die Gruppe ihre Heimatstadt erwähnte – überhaupt nicht angemerkt. Das ist wirklich ein tolle Mischung, mit der die Band beeindruckte: Pixies hörte ich raus, aber mit Country-mäßiger Slide-Gitarre; Black Country, New Road hörte ich raus, aber mit mehr Punk; die frühen Arcade Fire hörte ich raus, aber bodenständiger. Es strahlte extrem viel Freude von der Bühne, die vier Bandmitglieder grinsten sich an und waren stolz auf ihre tollen Songs. Anspieltipp: „I’ve Never Met Anyone I Thought I Could Really Love (Until I Met You)“. Perfekt ist das beim besten Willen noch nicht, aber: let them cook!
Augenzwinkernder, halbironischen Post-Punk mit Getdown Services
Später abends bzw. nachts traten dann Getdown Services im Molotow auf – und wow: Was für eine ehrenlose Stimmung! Ging richtig ab! Sowohl die Band als auch das Publikum schwitzten, tranken, schwitzen weiter und tranken dann auch weiter! Absolut funky und groovebasiert ist dieses Duo, vor allem aber humorvoll. Sie tanzten lustig herum, wirkte aber nie albern, sondern einfach nur high von ihrer eigenen Freude. Getdown Services machen augenzwinkernden, halbironischen Post-Punk mit einer ordentlichen Prise Humor – und darauf scheinen die Leute momentan komplett abzugehen. Als ich einen Videoausschnitt des Konzerts auf Instagram postete, bekam ich Antworten wie „BESTE BAND!“ oder „OMG WAR DAS GEIL!“ oder „SHIT ICH WÄR AUCH GERN DAGEWESEN!“. Große Empfehlung! Funktioniert live nochmal besser als auf Platte – weil die beiden Typen von Getdown Services ultrasympathisch sind, weil man ihnen den Spaß am entertainen anmerkt, weil den Kopf auszuschalten und rumzuhüpfen nunmal das Beste ist.
Critical Listening mit den Streaming Services
Donnerstags begann mein Reeperbahn-Tag eher runterziehend, aber auch sehr lehrreich: Im Talk „Critical Listening: The Problems with Streaming Culture – Streaming Saved the Global Recorded Music Business but not Musicians“ ging es um die unmoralischen Aspekte von Musikstreaming – und ja: so ziemlich alle Aspekte von Musikstreaming sind unmoralisch. Johann Scheerer ist extrem gut darin, seine Gedanken auf selbstbewusste und ermutigende Weise rüberzubringen, und Liz Pelly, die zuletzt das großartige Buch „Mood Machine: The Rise of Spotify and the Costs of the Perfect Playlist“ geschrieben hat, war ebenfalls extrem eloquent und erwähnte paradoxe Fakten zu Spotify & Co., die mich wirklich zum Nachdenken gebracht haben. Moralisch sind Streamingdienste natürlich verwerflich, sie sind schlecht für Artists und für Konsumenten, vor allem sind sie extrem uncool… Warum benutzen wir den Quatsch überhaupt noch? Sind wir wirklich so süchtig? Muss es nicht bessere Alternativen geben? Möglicherweise ist die Lösung tatsächlich, einfach wieder zurückzurudern. Back to the roots. Dass junge Menschen in dieser Hinsicht unsere letzte Hoffnung sind, machte der Talk ebenfalls deutlich. Ich könnte zu diesem Thema noch ewig weiterschreiben, doch am besten kauft ihr euch einfach das erwähnte Buch von Liz Pelly. Wenn wir alle etwas reflektierter sind, was dieses Thema angeht, dann wird sich letztendlich auch eine Lösung herauskristallisieren!
Pop-Feminismus mit Billigen Plätzen
Eine weitere Empfehlung möchte ich für das Buch „Billige Plätze – Gender, Macht und Diskriminierung in der Musikbranche“ von Rike van Kleef aussprechen, das dieses Jahr im fantastischen Ventil Verlag erschienen ist und von der Autorin auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival vorgestellt wurde. Sie hat schon in beeindruckend vielen unterschiedlichen Bereichen der Musikindustrie gearbeitet, wodurch sie einen sehr breiten Einblick über die Zustände in verschiedenen Feldern bekommen und eigene (Diskriminierungs-)Erfahrungen gemacht hat. In ihrem Buch schafft Rike van Kleef ein wichtiges Bewusstsein für Gender-bezogene Diskriminierung in der Popwelt und bemerkt/bemängelt nicht nur Missstände, sondern geht aktiv dagegen vor. Bei ihrer Reeperbahn-Veranstaltung verteilte sie außerdem Handlungsempfehlungen und ließ die Leute so nicht deprimiert zurück. In diesem Buch wird konkret vorgeschlagen, wie wir etwas ändern können – ein wichtiges Werk des Pop-Feminismus!
Evil E & Wu-Tang mit Julian Brimmers
So, noch eine Empfehlung! Der Film „Evil-E – Eva Ries und der Wu-Tang Clan“, den die beiden Regisseure Julian Brimmers und Jermain Raffington auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival vorgestellt haben, erzählt davon, wie eine junge Frau sich plötzlich im Kreis der besten Rap-Gruppe aller Zeiten wiederfand. Es ist wirklich ein großartiger Film, den man sich online anschauen kann. Und genauso gut war der von Simon Vogt moderierte Talk, der im Rahmen der Filmveröffentlichung beim Reeperbahn Festival stattfand: Eva Ries – schon das tolle Buch „Wu-Tang Is Forever: Im engsten Kreis der größten Band der Welt“ erzählte von ihren Abenteuern – ist wirklich komplett badass; das ist mir nochmal umso mehr aufgefallen, als ich sie in Person gesehen habe. Wie diese Musikmanagerin mit Bands wie Nirvana oder eben dem Wu-Tang Clan umgegangen ist, bleibt einmalig. Ihren Anekdoten hätte ich noch stundenlang zuhören können.
Stimmung off mit Dry Cleaning
Etwas enttäuschend war leider ein Konzert, auf das ich mich eigentlich total gefreut hatte: Dry Cleaning im Uebel & Gefährlich. Schuld daran war aber überhaupt nicht die Band selbst! Nein, das Problem war erstens die Technik – passiert, manchmal ist halt der Wurm drin – und zweitens das Publikum. Nachdem die Band zu Beginn schon Technikprobleme hatte, riefen während der Show immer wieder irgendwelche Boomer, dass man die Sängerin Florence Shaw nicht hören könne. Irgendwann lief dann irgendein Blödmann zur Bühne und sprach die Band darauf an: „We can’t hear you!“ Wie blöd kann man sein? Als ob die Band daran etwas ändern könnte! Die reagierten auch völlig zu Recht etwas patzig: „We’re busy here“, antworte Shaw in seine Richtung, während der Bassist Lewis Maynard sichtlich abgefuckt vom Blödmann aus dem Publikum war. Danach war die Stimmung leider – sagen wir – etwas off. Es kam leider nicht so richtig Energie auf, das Publikum war verwirrt und die Bandmitglieder machte den Eindruck, als ob sie schnell weg wollten. Check ich! Dieser Blödmann, ey! Der lief da mit einer Selbstverständlichkeit rum, die uns alle total genervt hat, und hat sich dann auch noch so breit gemacht, dass wir uns mehrmals umstellen mussten! Er dachte wirklich, dass er gerade der Einzige ist, dem das Soundproblem auffällt, und jetzt handeln müsse. Naja, ich will mich nicht weiter aufregen… Die nächste Show von Dry Cleaning wird wieder super! Der Gitarrist Tom Dowse gehört zu meinen absoluten Favoriten! Wie Johnny Marr auf Steroiden, mit einer ordentlichen Prise Keith Richards 🙂
Heilige Scheiße mit Mei Semones
Das allerbeste Konzert, das ich auf dem diesjährigen Reeperbahn Festival gesehen hab, fand ein paar Stunden davor statt: Mei Semones im Mojo Club. Erstmal: Was für eine geile Location, ich war da vorher noch nie! Und dann diese Musik, heilige Scheiße… Völlig zurecht hat Mei Semones bei der diesjährigen Reeperbahn-Ausgabe auch den Anchor Award gewonnen, denn solche Musik hab ich vorher wirklich noch nie gehört. Eine Mischung aus Jazz und Indie-Rock, immer wieder gab’s komplexe Melodieläufe von E-Gitarre und Streichern, dann ein Schlagzeugsolo, dann ein Basssolo, und trotzdem blieb diese Musik immer zugänglich und kompakt. Hier wird geflext, ja, aber weil da bei Mei Semones so einfach aussieht, kommt das total sympathisch rüber. Nichtmal für einen kurzen Momentan war das Konzert langweilig, Zuschauer*innen mit geringer Aufmerksamkeitsspanne wurden hier immer wieder belohnt. Auch die hochinteressante Mischung aus englischen und japanischen Songtexten sorgte dafür, dass die Songs in jeder Sekunde originell blieben. Ich frag mich: Wie schreibt man solche Musik? Immer, wenn ich mir diese Frage bei einem Artist denke, aber in meinem Kopf nicht zu einem Ergebnis kommen kann, weiß ich: Ich hab’s hier mit ganz besonderer Musik zu tun. Von Mei Semones werden wir sicherlich noch sehr viel hören. Bin jetzt Fan!
Zu guter Letzt: Glückwunsch an alle, die dieses Jahr beim International Music Journalism Award gewonnen haben. Kaput-Chef Thomas Venker und ich waren ebenfalls nominiert, doch Kaput ist in diesem Jahr leider leer ausgegangen. Dann gewinnen wir halt nächstes Jahr!








