Nachruf / Liebeserklärung

David Lynch & Wir

von Levin Mertelsmann (Grafikdesigner)

Prolog: I’m Seeing the Future and It’s Looking Very Bright – von Lennart Brauwers

Was übrig bleibt, ist wie immer eine Frage… Wo fängt man an? Denn David Lynch war so vieles: Träumer, Macher, Kaffee-Connaisseur, absurd populärer Surrealist, Fan von Billy Wilders „Sunset Boulevard“, liebenswerter Sympath mit der weltbesten Sprechstimme, einer der großartigsten Filmemacher jemals. Man könnte ewig so weitermachen, doch im Kern war David Lynch vor allem eins (zumindest für mich, die Pluralität an Gedanken zu Lynchs Schaffen sollte in diesem Artikel deutlich werden): Optimist.

Dass sich unter der schimmernden Oberfläche eine dreckige, widerwärtige Welt versteckt, will Lynch uns zwar in der ersten Sequenz von „Blue Velvet“ mitteilen, aber bringt ihn das zum Erstarren? Die Liebe in „Wild at Heart“ scheint unbesiegbar zu sein, selbst die von Elend geplagte Laura Palmer scheint am Ende von „Twin Peaks: Fire Walk with Me“ eine Art Erlösung zu erfahren, nie wirkt sein aufwühlendes Werk pessimistisch. „In Heaven, everything is fine.“

Ideen seien das Allerwichtigste, betonte er immer wieder und glaubte fest daran, dass diese auch kommen werden; egal wie absurd sie sein mögen. Sie fliegen einfach rum in der Welt. Selbst dann, wenn sie brennt. Das ist eine ganz eigene Form von Optimismus. Zu wissen, dass die Welt – oder ein Lebenswerk – schier unendliche Tiefen besitzt und niemals ausgeschöpft werden kann. Keiner wird dir Antworten geben, danach zu suchen ist das, worum es geht. Wir haben uns die Filme von David Lynch nochmal angeschaut. Und dann? Hatten wir Ideen.

 

„Eraserhead“ (1977) – von Jan Jekal (Kulturjournalist, u.a. Rolling Stone, ZEIT)

Was tot sein sollte, windet sich, und was leben sollte, stirbt. Das Hühnchen auf dem Teller sprudelt Blut, und die Kreatur, die ein Säugling sein könnte, wimmert unaufhörlich. In der Ferne rauschen die Fabriken. Das moderne Leben ist hier ein abstoßender Albtraum, ein widerlich-witziges Ausharren in den Schattenwelten dunkler Wohnungen, wo die einzige Erlösung tief im Heizkörper wartet. Ein Horrortrip, der zum Glück nur 89 Minuten läuft – noch eine Minute länger und man würde wahnsinnig. Als Spielfilmdebüt zählt David Lynchs „Eraserhead“ zu den souveränsten überhaupt: Aus jeder Einstellung, jeder Soundscape, jeder Irritation spricht eine klare künstlerische Idee, mit völliger Überzeugung umgesetzt. Die Motive seines Lebens – das morbide Traumwandlerische, das Unheimliche im Banalen; eine Tonspur, die gegen die Bilder arbeitet – formuliert Lynch hier schon aus. Dieser eindringliche Experimentalfilm eines Filmstudenten ist bereits beides: Der Auftakt zu einem großen Werk und seine Vollendung.

„The Elephant Man“ (1980) – von Justus Sartorius (Filmkritiker)

Szene zu Beginn des Films: Frederick Treves (Anthony Hopkins) nährt sich John Merrick, um ihm den Sack über den Kopf abzuziehen – Blende auf Schwarz, Schnitt: Die Kamera fährt aus dem Lichtschein einer Lampe, wir befinden uns in einem Saal. Vor einem aufgestellten Schleier steht Merrick, der Elefantenmensch, und wird beleuchtet: Die Kamera ist hinter dem Vorhang positioniert, man sieht also nur seinen Schatten. Das Irritierende an der Szene ist, dass wir doch schon in einer vorangegangenen die Entstellungen Merricks gesehen haben. Warum also nochmal dieses Schattenspiel? „The Elephant Man“ wird als Lynchs zweiter Langspielfilm oft für seine verhältnismäßige Bodenständigkeit hervorgehoben, im Vergleich zu seinen späteren Filmen sei er klassischer erzählt. Allerdings wird in diesem frühen Moment klar, dass Lynch typische Konventionen des Hollywood-Kinos übernimmt – hier spannt er beispielsweise nach bekannten Mustern Spannungsbögen auf –, aber nur, um sie dann dezent zu irritieren. Das ist eigentlich das Entfremdende an seinen Filmen, nicht die klar identifizierbaren Traumsequenzen.

Wir bleiben beim Elefantenmenschen vielleicht an dessen scheinbarer Bodenständigkeit haften, an der Einfachheit der Handlung oder der Sentimentalität des Endes. Aber eigentlich verunsichert Lynch hier schon so radikal, wie er es in seinen folgenden Werken macht. Man blickt nur nicht richtig hin. Auch hier geht Lynch bereits sehr medienreflexiv in Bezug auf die Form des Films vor. Wessen Blick? Das ist wohl eine der Kernfragen von Lynch. Und die wird auch hier schon gestellt. Durch wen sehen wir eigentlich auf das tragische Schicksal von John Merrick? Durch den bürgerlichen, mitleidigen Erzieher, wie er am Anfang auf den verbrannten Körper eines Arbeiters hinabblickt und gleichzeitig durch den kalten aufklärerischen der Wissenschaft? Ist nicht alles eindeutig überschattet durch das Ökonomische, durch Formen der Unterhaltungsindustrie? Schließlich ist es kein Zufall, dass der Film zeitlich im Aufblühen des Kapitalismus spielt. Gleichzeitig sind es auch Bilder der Geburtsstätten des Films, die hier aufgerufen werden: der Jahrmarkt, die Fabrik (auch sonst ein beliebtes Motiv bei Lynch).

Am Ende gehört wohl der Blick auf den Schatten, als Projektion, zu den meisterhaften (Trug)Bildern eines so großen Werks – ein Werk, das stets eine Reflexion über das Trügerische des Films zentriert, ohne dies für das Publikum befriedigend auflösen zu können. Und ohne den Vorhang endgültig zu heben.

„Dune“ (1984) – Daniel Schröckert (Kino+/Rocket Beans)

David Lynchs „Dune“ wird immer einen Platz in meinem Herzen haben. Ich habe ihn damals im Kino gesehen. Im selben Jahr wie „Return of the Jedi“. Er war so alles andere als „Return of the Jedi“. So schmierig, so pompös, so widerlich, finster, irre und abgehärteter als die weit, weit entfernte Galaxis. Und dafür hab ich ihn immer respektiert. Auch wenn er mir nicht ganz so geil gefallen hat wie die Rückkehr der Jedi-Ritter. Dennoch kam ich nie und komme ich auch weiterhin nicht von ihm los. Es mag der Faktor Lynch sein. Es sind aber auch die Designs, die Ausstattung, die Musik von Toto, die Zurückeroberung von Arrakis oder die Würmer. Es ist diese hineinziehende Lynch-Welt, die ich fühlen, schmecken, riechen und greifen kann. Und vielleicht liegt und lag es auch schon immer daran, dass hier eine Droge zum mächtigsten Instrument des Universums gemacht wird. Vielleicht war Lynch der einzig richtige Falsche, der sich an diesem Stoff verheben und daraus trotzdem einen nachklingenden Rausch erschaffen konnte. Vielleicht hätte es seine späteren Filme aber auch nie gegeben, wenn das hier ein Hit geworden wäre. Wer weiß das schon. Also halte ich es wie Frank Herbert, der von Buddha lernte: the mystery of life isn’t a problem to solve, but a reality to experience. Und diesen wüsten Planeten erlebe ich immer wieder gern.

„Blue Velvet“ (1986) – von Florian Prasser (Mitarbeiter der Videothek „Traumathek“)

Zum ersten Mal siedelt David Lynch einen Film in der scheinbaren Normalität der Gegenwart an – in der Welt der amerikanischen Suburbs, mit ihren Reihenhäusern, weißen Gartenzäunen und Blümchenkleidern. Obendrein greift er bewusst die Muster des klassischen Film noir auf, wenn er seinen Helden Jeffrey (Kyle MacLachlan) mit jugendlicher Unschuld Detektiv spielen lässt, nur um ihn in eine Welt aus Gewalt und sexueller Perversion zu stürzen, die dessen Fassungsvermögen völlig übersteigt. Denn in dieser Welt regiert Frank (Dennis Hopper): eine Kreatur von wilder, irrationaler Aggression und eine von Lynchs unsterblichen Schreckgestalten. „Blue Velvet“ zeigt uns, dass nicht nur die Sicherheit der Suburbs durchlässig geworden ist, sondern auch die Vertrautheit alter Hollywoodmythen. Dahinter verbergen sich Albträume, aus denen es kein einfaches Erwachen mehr gibt. Trotz sonnendurchflutetem Happy End wissen wir am Schluss, dass von der vermeintlichen Normalität nicht mehr viel übrig ist. Now it’s dark…

„Wild at Heart“ (1990) – von Prof. Dr. Marcus Stiglegger (Filmwissenschaftler)

„I love you, Sailor“ – „I love you Lula!” Als „Wild at Heart“ frisch aus Cannes die Leinwände heimsuchte, war es dieser schnulzige Liebesschwur, der einst das junge Publikum in den Bann zog. Angesiedelt in einer hemmungslos übertriebenen und irrealen Camp-Welt wird das übermütige Liebespaar Sailor (Nicolas Cage) und Lula (Laura Dern) quer durch die USA von den Gangsterschergen von Lulas Mutter verfolgt. Die Melancholie von Angelo Badalamentis Soundtrack untermalt ein wildes Kaleidoskop aus Rock’n’Roll-Spirit, Sex, blutiger Gewalt, Straßenromantik und anderen Amerikana. Die Schlangenlederjacke mag Sailors Symbol für den „Glauben an die Individualität“ sein, doch hat er sie frech von Marlon Brandos „Mann in der Schlangenhaut“ übernommen. Und nachdem er einen aufdringlichen Punker im Club zurechtgewiesen hat, singt Sailor selbstverständlich Elvis für seine Liebste und alle Frauen schmelzen dahin. „Wild at Heart“ ist der verspielteste von Lynchs Filmen, ein Kultfilm der frühen 1990er, märchenhaft, brutal und irritierend – eine adoleszente Antwort auf den „Wizard of Oz“.

Intermission: „Shot in the Back of the Head“ (Moby) – von Rinko Heinrich (laut.de)

Die Filme von David Lynch waren für mich immer ein langsamer, dafür umso intensiverer Aufbau; die Hauptfigur muss erst einmal die Hölle erleben, um am Ende doch eine Erlösung zu erfahren. ‚Erleben‘ ist eigentlich ein gutes Stichwort, da ich seine Kunst immer mehr als Erfahrung denn als intellektuelles Verstehen wahrgenommen habe. Es war stets das große Unbehagen, das mich von Anfang an faszinierte. „Twin Peaks“ habe ich als Kind absolut nicht verstanden, aber dennoch eine faszinierende, unaussprechliche Bedrohung gespürt. So erging es mir auch mit MTV, das für mich als Provinzkind wie ein Portal in eine ebenso surreale Welt wirkte. Mobys „Go“ lief Anfang der Neunziger auf Heavy Rotation; der merkwürdige, traurige Synth-Sound blieb direkt in meinem Kopf. Der prägnante Drei-Akkord-Sound war stark von Angelo Badalamentis Arbeit für den „Twin Peaks“-Soundtrack beeinflusst und brachte Richard Melville Hall den internationalen Durchbruch. Viele Jahre später schrieb er sein Idol an und fragte David Lynch, ob dieser nicht ein paar Einfälle für seinen Song „Shoot In The Back Of The Head“ habe. Es war eine Zeit, in der Moby von seiner Mainstream-Phase wieder abrücken wollte; Hollywoods Anti-Held erschien ihm als kongenialer Partner. Lynch schickte ihm nicht nur das angeforderte Archivmaterial zurück, sondern gleich ein ganzes Storyboard. In dem Video sieht man ein Destillat von Lynchs Arbeiten: ein surrealer Film-Noir-Trip mit einer merkwürdigen Gegensätzlichkeit aus eigenwilligem Humor, fühlbarer Einsamkeit und unterschwellig sexueller Note. Es wirkt wie eine Kritzelei aus dem Schulheft eines Außenseiters, der sich mit seinen Tagträumen aus dem konformistischen Unterricht befreit. David Lynch blieb immer dieses Außenseiter-Kind: neugierig, mit einem großen Herz für andere Individualisten.

„Twin Peaks: Fire Walk with Me“ (1992) – von Lennart Brauwers (Kulturjournalist)

Sowohl von den „Twin Peaks“-Serienzuschauer*innen, die sich damals mehr Antworten und weniger Fragen wünschten, als auch von kinofokussierten Lynch-Fans wurde der Prequel-Film „Fire Walk with Me“ als Enttäuschung aufgefasst. Es schien so, als hätten die Leute genug von seiner Ästhetik gehabt, auch Quentin Tarantino meinte damals: „David Lynch had disappeared so far up his own ass that I have no desire to see another David Lynch movie until I hear something different.“ Ja, „Fire Walk with me“ mag der lynchigste aller Lynch-Filme sein; jedoch ganz bewusst, so ist David Lynch (in seiner Rolle als schwerhöriger FBI-Agent Gordon Cole) auch die erste Person, die wir in diesem Meisterwerk zu sehen bekommen. Es folgt ein Film, der in zwei Parts aufgeteilt ist. Er beginnt als Film noir und wird zur ultraoriginellen Mischung aus Horror, Highschool-Story und Familiendrama der heftigsten Art. Dabei ist es Lynch besonders wichtig, die Protagonisten Laura Palmer – in der Serie sah man sie fast nur als Leiche – zu humanisieren und mit immenser Empathie auf sie zu blicken. Sie glaubt, dass ihr das Glück im Leben vorenthalten sei. „The angels wouldn’t help you, becaue they’ve all gone away“, sagt sie einmal. Und was sehen wir dann als allerletzten Shot? Laura Palmer im Red Room, gemeinsam mit Agent Dale Cooper. Daneben? Ein Engel. „In Heaven, everything is fine“.

„Lost Highway“ (1997) – von Maria Odoevskaya (Autorin, Poetry Slam, Podcasterin)

Der Fremde sagt, ihr seid euch bereits begegnet. Bei dir zu Hause, sagt er am Telefon, und du siehst ihn vor dir mit deinen eigenen Augen. Du hast ihn eingeladen. Deine Frau ist tot und du mit ihr auf dem Bildschirm, und in ihren Eingeweiden findest du nichts, was du halten kannst. Dick Laurent ist tot. Der Fremde richtet die Kamera auf dich und fragt nach deinem Namen. Deine Frau ist ein blondes Werbegesicht und gehört nicht dir, sondern Gangsterbossen und Pornographen. Deine Frau ist ein Pin-up mit rostrotem Haar und ängstlichem Blick, in dem du dich spiegelst, und einer Vergangenheit, die dich nicht enthält. Du sitzt am Steuer. Du sitzt im Todestrakt. Deine Frau nimmt sich deinen neuen, jugendlichen Körper und flüstert, dass du sie niemals haben wirst. Die Hütte in der Wüste explodiert, Kiss Me Deadly, ewiger Rekurs. Du sitzt am Steuer und die Scheinwerfer beleuchten nur die nächsten gelben Streifen auf dem Asphalt, blinde Gegenwart in einem schwarzen Nichts. Sie ist dir entronnen.

„The Straight Story“ (1999) – von Alexander Göbel (Music Rights Manager)

David Lynch verzichtet in „The Straight Story“ auf seine surrealistischen Elemente und erzählt stattdessen die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte vom 73-jährigen Alvin Straight, der auf seinem Rasenmäher 240 Meilen durch die USA fährt, um seinen erkrankten Bruder zu besuchen. Wie der Titel schon verraten lässt, wird hier alles auf direktem Wege erzählt. Vom Anfang bis zum Ende strahlt der Film eine nachdenkliche und melancholische Stimmung aus, doch typisch für Lynch findet sich trotzdem immer noch eine zweite, meist humorvolle Ebene, was die sentimentale Grundstimmung nie ins Kitschige abdriften lässt. Im gemächlichen Tempo erleben wir wie Alvin auf seiner Reise immer wieder verschiedene Menschen trifft, die zunächst von ihm und seinem Gefährt verunsichert scheinen. Am Ende dieser Aufeinandertreffen stellt man jedoch fest, dass in diesen kurzen Begegnungen immer wieder Themen wie Vergänglichkeit, Gemeinschaft und Versöhnung aufgegriffen werden. Getrieben durch die eigens diagnostizierte Dickköpfigkeit, sitzt Alvin jedoch schon wieder auf seinem Rasenmäher – und während er an den endlosen Feldern des mittleren Westens vorbeifährt, haben wir kurz Zeit, um über unser eigenes Leben nachzudenken.

„Mulholland Drive“ (2001) – von Aida Baghernejad (Kulturjournalistin, Moderatorin)

Obwohl er gar kein gebürtiger Angeleño war, hat kaum jemand Los Angeles so gut in Film gefasst wie David Lynch – und nirgends präziser als in „Mulholland Drive“. Schließlich ist es wirklich gruselig, nachts die kaum und oft genug gar nicht beleuchteten Serpentinen der Hollywood Hills zu befahren. Und schließlich lädt kaum eine Stadt so wunderbar dazu ein, seinen Verstand völlig und komplett zu verlieren und sich in die Einzelteile seiner Existenz aufzulösen wie die Traumfabrik Los Angeles. Kann man diesen Film über zwei Frauen, die unter seltsamen Umständen zusammenfinden und versuchen, ihre Identität zu entschlüsseln, jemals verstehen? Wahrscheinlich nicht. Schon allein deswegen nicht, weil er eigentlich als Pilotfilm für eine Serie gedacht war, aber den auftragegebenden Sender zu sehr verwirrte. Vielleicht ein Glück – „Mulholland Drive“ ist nicht trotz, sondern gerade wegen seines labyrinthinen Charakters ein Meisterwerk. Natürlich eines mit Macken, denn einen sonderlich guten Umgang mit seinen weiblichen Figuren hatte Lynch nie und nach Diversität braucht man in seinen Filmen genauso wenig zu fragen wie nach einem zusammenhängen Plot. Aber, und das ist die Stärke von „Mulholland Driv“e, er braucht das alles nicht, denn genau in diesem schwarzen Loch, das er schafft, findet sich eine tiefere Wahrheit. Welche das allerdings ist, muss jede*r für sich selbst entscheiden.

„Inland Empire“ (2006) – von Lisa Bülow (Kamerafrau)

Die scheinbar unverständliche Natur von „Inland Empire“ macht den Film zu einem polarisierenden Werk: Während manche Zuschauer von dem experimentellen Ansatz des Films begeistert sind, empfinden andere ihn als unzugänglich und chaotisch.

„Inland Empire“ ist eine Reise ohne Ziel, ein Labyrinth ohne Ausgang. Der Film beginnt nicht und endet nicht – er existiert. Sein Tempo und Rhythmus widersetzen sich jeder Konvention. Lynch schafft hier ein Kunstwerk, das vollständig in seiner eigenen Logik lebt. Es ist, als ob man einem Gedankenstrom folgt, der wie ein Traum von einer Assoziation zur nächsten springt. Es ist der Zustand des ständigen Übergangs, der den Film so besonders macht. Die Räume, die Lynch erschafft, sind vertraut und doch fremd: ein langer Flur, eine leere Straße, ein Gesicht im Dunkeln. Diese Elemente sind keine Kulissen oder erzählerische Mittel – sie sind die Essenz des Films, Fragmente eines Gefühls, eines unvollendeten Gedankens. „Inland Empire“ ist keine Geschichte, sondern ein Zustand; ein Raum, in dem wir uns verlieren und wiederfinden.

Das Kino ist von Natur aus ein Medium der Dunkelheit, doch bei Lynch ist Dunkelheit mehr als die Abwesenheit von Licht. Sie wird lebendig, atmet, flüstert und hält uns fest. Sie fordert uns heraus, genauer hinzusehen. Wenn die Dunkelheit alles umhüllt, offenbaren sich Details und Empfindungen, die in der Helligkeit verborgen bleiben – eine Einladung, sich auf das Unbekannte einzulassen. Lynch gelingt es, den Mangel von Klarheit in ein erzählerisches Werkzeug zu verwandeln. Erst durch Reduktion wird das Wesentliche im Schatten sichtbar.

Lynch, der für seine experimentellen Klanglandschaften bekannt ist, setzt in diesem Werk den Ton als treibende Kraft ein. Stimmen überlagern sich, unheimliche Echos und plötzliche Stille schaffen eine Klangwelt, die tief ins Unbewusste eindringt. Der Ton gleicht einem Herzschlag, mal ruhig, mal hektisch, immer präsent. Er führt uns durch die chaotische Landschaft des Films und bleibt in uns, lange nachdem die Bilder verblasst sind.

Das Digitale ist in „Inland Empire“ nicht nur Technik, sondern ästhetisches Konzept. Die grobkörnigen Bilder, Unschärfen und überbelichteten Szenen schaffen eine Textur, die mehr Traum als Wirklichkeit ist; als würden wir durch einen Schleier blicken, der uns zwingt, genauer hinzusehen. Doch je mehr wir versuchen, Details zu erkennen, desto mehr entgleiten sie uns. Lynch zelebriert die Unvollkommenheit und erinnert uns daran, dass das Kino nicht dazu da ist, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen.

Was bleibt nach „Inland Empire“? Kein Ende, keine Auflösung, keine einfache Botschaft. Stattdessen bleibt ein Gefühl, ein Zustand, eine Ahnung. Der Film ist wie ein Echo, das uns verfolgt, uns in unseren Träume aufspürt und uns mit Fragen zurücklässt, auf die es keine Antworten gibt. Er wirkt nach, zieht Kreise in unseren Erinnerungen und fordert uns heraus, uns mit unseren eigenen Wahrnehmungen auseinanderzusetzen. „Inland Empire“ ist ein Werk, das keine einfachen Botschaften vermittelt, sondern das Erleben selbst zum Thema macht. Er lädt uns ein, die gewohnte Erzählstrukturen loszulassen und uns auf das einzulassen, was zwischen den Bildern und Tönen liegt. Besonders eindringlich sind die Momente, in denen der Film uns aus jeder Vertrautheit reißt: eine Begegnung, ein Blick, eine plötzliche Verschiebung der Realität. Lynch gelingt es, das Alltägliche mit dem Unerklärlichen zu durchdringen, sodass wir nie wissen, was als Nächstes kommt. Es ist ein Spiel mit Erwartung und Überrumpelung – ein Tanz zwischen Kontrolle und Chaos. Es bleibt die Demut vor einem Künstler, der es verstand, die Kunst hinter dem Film zu bewahren und das subjektive Erleben jedes einzelnen Zuschauers spürbar zu machen.

Epilog: Drei beispielhafte Filmsequenzen – von Thomas Venker (Kulturjournalist, Publizist, Dozent, Moderator)

Mein Lieblingsfilm von David Lynch? Oder gar meine Lieblingsszene aus einem seiner Filme? Really, Lennart? Wie soll das denn gehen?

Das Gedächtnis ist ein selektiver, hoch emotionalisierter Betrieb. Es ist nicht zwingend wirklich immer die erste Erinnerung, welche die bedeutendste ist; das wissen alle, die gerne auch mal länger nachdenken. Andererseits zu lange in sich zu gehen führt leicht zu einer prätentiösen Präsentation seiner selbst, von wegen: „Ich finde die speziellste aller Szenen im Lynchschen Universum, die garantiert niemand anderes auswählt“.

Und da es bei einem Nachruf ja um alles, aber nicht um die ihn verfassende Person gehen soll, habe ich mich für die quasi zufällige Auswahl (mit Hilfe von Criterion) von drei Sequenzen entschieden, was letztlich gut zum rhizomatischen Lebenswerk von David Lynch passt.

1) „Premonitions Following an Evil Deed“ (1995): Insgesamt gerade mal eine Minute lang (was ich mal als Sequenz gelten lassen will), ist dieser verstörende Beitrag von Lynch zum hundertjährigen Jubiläum von „Train Arriving at a Station“ (von Auguste and Louis Lumière) – insgesamt 40 Regisseur:innen steuerten damals Beiträge bei, unter anderen Michael Haneke, Spike Lee, Jacques Rivette und Liv Ullmann. Axiom der Hommage: Es musste in einer einzigen Einstellung bei natürlichem Licht gedreht werden. Eine Regel, die Lynch geschickt – wie ich hier mit meinen drei Sequenzen – negierte, in dem er die Szenenwechsel (bei durchlaufendem, geheimnisvoll mäanderndem Sound, der einen in seiner schwellenden Melancholie sofort an Twin Peaks denken lässt) mit Schwarzbild und Überblendungen kaschierte. Und so die Dramatik des Films steigerte. Wir sehen zu Beginn des Films drei Polizisten, die eine Leiche auffinden, lesbar als Bezug auf den Mord an Elizabeth Short (Black Dahlia), ein Verbrechen, das Lynch (wie viele Amerikaner:innen) sehr fasziniert hat. Bevor die Eltern am Ende des Films, sozusagen im dritten Akt, über den Tod informiert werden, zeigt uns Lynch in einer Zwischensequenz Aliens (oder Zombies), die in einem Labor an Menschen experimentieren; eine Szene, die mit ihrem avantgardistisch-experimentellen Gestus und ihrer klaustrosphobischen Brutalität als Blaupause für die dritte Twin Peaks Staffel aus dem Jahr 2017 gelesen werden kann.

2) „Twin Peaks: Fire Walk with Me“: Laura kommt nach Hause und holt in ihrem Kinderzimmer rauchend und Whisky trinkend und bestens überschwänglich gut gelaunt ihr Tagebuch aus dem Versteck hinter der Kommode. Doch von einem Moment zum anderen bricht ihre (scheinbare) Selbstsicherheit zusammen – sie entdeckt, dass im Tagebuch eine Seite herausgerissen wurde – und die Angst hat nun sichtbar die Kontrolle über ihr Leben. Dazu hören wir das Stück „ A Real Indication“, eine Co-Produktion von David Lynch (Text) und Angelo Badalamenti (Musik). Niemand möchte in diesem Moment mit ihr tauschen.

3) „The Amputee: Version 1“: Es gibt zwei Versionen von diesem Kurzfilm von Lynch aus dem Jahr 1974, in denen aber beide Male derselbe Beinstumpf der Protagonistin von einer Pflegerin versorgt wird (und nicht unterschiedliche, wie man angesichts der zwei Versionen vermuten könnte). Um die Beinstümpfe geht es aber nur nebensächlich – oder eben gerade nicht, denn im Kopf setzen wir Zuschauende die Narrative zusammen und bringen die mit warmer, gleichmäßiger Stimme erzählte Rückblende eines konfliktreichen Cliquenwochenendes (die von der Protagonistin als Brief niedergeschrieben wird), ausgelöst durch unangebrachte Flirts, zusammen mit ihren amputierten Beinen. „You had it all wrong, honey“, schreibt/spricht sie an einer Stelle – und vor unseren inneren Augen rotieren verstörende Bilder von Exzisionsszenarien. Wie so oft bei Lynch sind die imaginierten Bilder unserer eigenen Fantasie, die er in uns auslöst, viel drastischer und erbarmungsloser als alles, was er uns hätte auf der Leinwand präsentieren könnten. Oder sagen wir es so: David Lynch war sich von Anbeginn seiner Filmkarriere bewusst, dass wir alle aus den gleichen Ursündesümpfen entstiegen sind – und deswegen sind seine Filme zwar von ihm directed, lebendig werden sie aber erst durch die Augen von uns Zuschauer:innen.

 

❤️ zusammengestellt von Lennart Brauwers

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