Kaput Kolumne

WE BETTER TALK THIS OVER #3: „MIRAGE“ VON FLEETWOOD MAC (1982)

“WE BETTER TALK THIS OVER” IST DIE KAPUT-KOLUMNE VON LENNART BRAUWERS, IN DER UNTERBEWERTETE, OFT ÜBERSEHENE (ODER GAR VERHASSTE) ALBEN GEFEIERTER BERÜHMTHEITEN BESPROCHEN UND NEU EINGEORDNET WERDEN. SCHLIESSLICH KANN SICH DER BLICK AUF MUSIK VERÄNDERN, JE ÄLTER SIE WIRD. ALSO: EXTREM VIEL GROSSARTIGES FINDET ZU UNRECHT KAUM BEACHTUNG – DARÜBER SOLLTEN WIR NOCHMAL REDEN.

Der Autor beim Verfassen der Kolumne (Foto: Marisa Eul Bernal)

„Each moment is a memory“

Vielleicht mal als kleiner Blick hinter die Kulissen: Es gibt natürlich Kriterien, die ein Album erfüllen muss, um als Teil dieser Kolumne seziert zu werden. So sollte der dazugehörige Artist eine gewisse Relevanz haben und für einen verhältnismäßig großen Anteil an Musiknerds verschiedener Generationen interessant sein (siehe Fleetwood Mac als Soundtrack für TikTok-Trends). Außerdem sollte sichergegangen werden, dass das beleuchtete Album auch wirklich unterbewertet ist – also dass es oft niedergemacht oder zumindest übersehen wird…

Wie eben „Mirage“ – es ist das insgesamt dreizehnte Album von Fleetwood Mac, das vierte in der legendären Besetzung aus Lindsey Buckingham, Mick Fleetwood, Christine McVie und John McVie sowie Stevie Nicks. Die Platte taucht nur in den wenigsten Bestenlisten auf, wird selbst in detaillierten Banddokumentationen schnell abgehackt (oder gar übersprungen) und wurde auch von Drummer Mick Fleetwood als „overlooked“ bezeichnet. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die Allermeisten den Titel noch nie gehört und das Cover noch nie gesehen haben. “It’s the one that got away in people’s memories – I think even ours, to a degree“, meinte Christine McVie diesbezüglich. Also ja: Unbeachtet bleibt „Mirage“ allemal, zumindest im Vergleich zu den anderen vier Alben dieser ikonischen Gruppenkonstellation.

Zu guter Letzt sollte man sich vergewissern, dass die jeweilige Platte auch genügend Material hergibt, um daran eine diskussionswürdige Geschichte zu erzählen. Hat das Album ein spannendes Narrativ, das uns etwas Augenöffnendes über die Band, uns selbst oder die damalige Musikwelt verrät? Genau da wird „Mirage“ so reizvoll, denn die Antwort scheint auf den ersten Blick ‚Nein‘ zu sein. „Mirage“ ist kein gigantischer Schritt in neue Sphären artistischer oder kommerzieller Natur; außerdem gab es grundsätzlich weniger zwischenmenschliche Streitigkeiten, für die Fleetwood Mac 1982 bereits bekannt waren (Christine McVie: “I can’t remember any nastiness on that record. It was quite an enjoyable experience. […] Everyone was getting on great.“). Doch eben diese Unscheinbarkeit kann wiederum zum Narrativ werden.

Willkommen also an dem Moment, als Fleetwood Mac sich gefragt haben, ob das auslaugende Drama ihrer interpersonellen Beziehungen weiterhin ihr Motor sein muss. Seit dem weltbekannten Hit-Album „Rumours“ – hab’s lange für selbstverständlich genommen, ist aber ein unbestreitbarer Genuss – war der Appeal dieser Band damit verbunden, dass die romantischen Verhältnisse innerhalb der Gruppe zerfielen und die Mitglieder begannen, (mal mehr und mal weniger nette) Songs über einander zu schreiben. Was Fans heute an Taylor Swift und den Breakup-Hymnen über ihre verschiedene Ex-Boyfriends lieben, funktionierte bei Fleetwood Mac schon 1977 sehr ähnlich; nur, dass sich das Ganze innerhalb einer einzigen Band abspielte. Ich hasse Biopics, mir graut es vor den anstehenden über Dylan und Springsteen, doch eine Soap Opera über die Beziehungen in Fleetwood Mac würd ich mir anschauen, vermutlich.

Jedenfalls kann man sich vorstellen, dass der aufbrausende Arbeitsprozess mit dem (vielleicht auch unbewussten) Ziel, eine melodramatische Pop-Seifenoper zu erschaffen, nicht immer angenehm und somit auch keineswegs nachhaltig ist – also war „Mirage“ gewissermaßen notwendig. Schließlich musste es weitergehen mit Fleetwood Mac. Wir haben es hier dementsprechend mit einem Album als wichtige Maßnahme, als eleganter Ausweg zu tun. Und ein eleganter Ausweg klingt nunmal weniger mitreißend als ein dramatischer Knall. Zumindest im ersten Moment.

Kritiker warfen „Mirage“ vor, dass den drei Songwriter*innen von Fleetwood Mac darauf die Themen fehlten und die Platte ausschließlich das Ziel verfolge, die Popularität der Band aufrechtzuerhalten – aber eben ohne das Drama. Konsequenzloser und weniger aufwühlend ist „Mirage“ definitiv, das kann man nicht bestreiten, doch die bescheidene Unaufdringlichkeit des Albums ist gerade das, was es so attraktiv macht. “It was just a bunch of people playing“, meinte Mick Fleetwood mal und traf den Nagel auf den Kopf: Die fünf Musiker*innen spielen hier einfach und eben nicht um ihr Leben. Auch mal ganz angenehm. „Mirage“ ist also im bestmöglichen Sinne Hintergrundmusik und verdeutlicht, wie großartig es sein kann, wenn etwas mühelos klingt. Ein Song wie „Oh Diane“ ist derartig simpel, subtil und unprätentiös, dass er theoretisch langweilig sein müsste. Weil es aber eine der grandiosesten Bands der Siebziger-/Achtzigerjahre ist, über die wir hier reden, verzaubert „Oh Diane“ mit einer stilsicheren Gelassenheit.

Die Fotografin beim Fotografieren des Autoren (Foto: Marisa Eul Bernal – magic, wie Fleetwood Mac, right?)

Essenziell ist es obendrein, „Mirage“ als Reaktion auf seinen ultraweitläufigen Vorgänger zu betrachten. Wo „Tusk“ sich über 74 Minuten breitmacht und auf chaotische Weise durch diverse Stilrichtungen hüpft – kein Song ist wie der vorherige, das insgesamte Feeling ist vor allem experimentell und vorwärtsgewandt – bleibt „Mirage“ eher verhalten. Diese Entwicklung vom wildwuchernden Doppelalbum zum genügsamen Kleinwerk ist eine, die es in der Popwelt häufig gibt: Nach der kreativen Explosion von „Blonde on Blonde“ veröffentlichte Bob Dylan mit „John Wesley Harding“ ein schlichteres Meisterwerk; im Anschluss an das konfuse „The Life of Pablo“ hat Kanye West mit „ye“ etwas Ähnliches getan. Und das bekannteste Beispiel sind natürlich auch hier The Beatles, die als ursprünglichen Nachfolger ihres fragmentarischen Opus Magnum „The White Album“ eine direktere Bandplatte rausbringen wollten, aus der später „Let It Be“ wurde (die Coolen hören den besseren, später veröffentlichten Remix „Let It Be…Naked“). Das Motto der Beatles war damals ‚Back to the roots‘ – ebenso wie bei Fleetwood Mac zu „Mirage“-Zeiten. “It would be fair game to say the album kind of went backwards“, meinte Mick Fleetwood mal zum Rolling Stone. Zurückhalten und -blicken kann guttun.

Ein Blick in den Rückspiegel stellte „Mirage“ auf verschiedene Weisen dar, so war das Album außerdem ein Versuch, den kommerziellen Erfolg von „Rumours“ zu rekreieren; denn „Tusk“, das Meisterwerk zwischen „Rumours“ und „Mirage“, war in dieser Hinsicht eher enttäuschend. „It pays ‚Rumours‘ homage“, meinte Christine McVie sogar mal im Bezug auf den Versuch, ein ähnlich monumentales, von Hits geprägtes Album zu produzieren. Auch wenn „Mirage“ zum ersten Mal seit „Rumours“ die Spitze der Albumcharts erreichte und dort fünf Wochen blieb, hat „Mirage“ nur wenig mit der melodramatischen Herangehensweise von „Rumours“ zu tun. Aus den erwähnten Gründen: „Mirage“ ist besonnen, gemächlich, affektgeladene Breakup-Streitereien sucht man hier vergebens und findet stattdessen nuancierte Geschmeidigkeit.

Wenn überhaupt ist es „Tango in the Night“, das 1987 veröffentlichte Nachfolgewerk von „Mirage“, welches Ähnlichkeiten zu „Rumours“ aufweist und sich wie eine Blockbuster-Version dieser Platte hören lässt. Zu diesem Zeitpunkt waren Fleetwood Mac endgültig den Achtzigerjahren angekommen. „Mirage“ schwebt stattdessen zwischen den Seventies und den Eighties – so als hätte es zwischen der dreckigen Echtheit des Films „Alien“ (= „Tusk“) und dem glamourösen Blockbuster-Nachfolger „Aliens“ (= „Tango in the Night“) einen weiteren Teil der Filmreihe gegeben, dessen Grundstimmung irgendwo dazwischen liegt.

„Never Going Back Again“, hieß es noch auf „Rumours“ – eine bewusste Entscheidung also, ein eiserner Wille, auf keinen Fall zurückzugehen. Doch diese Entscheidung musste Lindsey Buckingham auf „Mirage“ gar nicht mehr treffen, da ein Zurückkehren ohnehin unmöglich wurde. “Standing in the shadows, The man I used to be, I want to go back“, singt er – bis ein mehrstimmiger Chor ihm die traurige Antwort liefert: „Can’t Go Back“. Das ist natürlich unpraktisch für ein Album, das gewissermaßen als Blick in den Rückspiegel fungiert, erzeugt aber eine ganz eigene Form von Dramatik.

(Nur kurz: Es scheint oft ignoriert zu werden, dass „Mirage“ keineswegs nur Softpop der wohlgesonnensten Art ist und definitiv auch Momente vorweist, die – nun ja – weird sind. So klappert ein hartnäckiger Percussion-Sound durch die Gesamtheit von „Can’t Go Back“, außerdem ist Buckinghams Stimme hier merkwürdig abgemischt. Gleichzeitig ist es mindestens originell, mit welcher Intensität er seine Stimme verwendet, egal wie soft/breezy der jeweilige Song auch sein mag; sein Gitarrenspiel funktioniert oft ähnlich, so fängt er gegen Ende des verspielten „Eyes of the World“ plötzlich an, Metal-mäßig zu tappen. Spätestens beim kauzigen Song „Empire State“ fällt einem jedenfalls auf, dass „Mirage“ teilweise ein als Durchschnittsbürger maskiertes Album ist, das dich gerne mal verarscht.)

Ein nostalgisches Album über Nostalgie ist „Mirage“ also – ein Zurückblicken mit dem Wissen, dass eine tatsächliche Zeitreise unmöglich ist. Niemand symbolisiert die hinterher trauernde Seite der Gruppe so wundervoll wie Stevie Nicks, das blutende Herz von Fleetwood Mac. Die drei Songs, die sie für „Mirage“ beigesteuert hat, sind so unglaublich verführerisch, dass es geradezu unverschämt ist. Neben dem traumhaft-gleitenden „Straight Back“ ist da noch das Highlight „That’s All Right“. Der Song erinnert an die Countrymusik ihrer Jugend, sie schrieb ihn schon vor ihrem Einstieg bei Fleetwood Mac (mit „That’s All Right“ schafft es die Band am ehesten, tatsächlich in der Zeit zurückzureisen). Und dann ist da natürlich „Gypsy“, ein eleganter Song wie flüssiges Gold: Völlig ungezwungen erinnert sie sich an ihr vergangenes Leben in San Francisco, als Fleetwood Mac noch lange nicht in Sicht war. “A memory is all that is left for you now“, singt Nicks. Eine Erinnerung ist alles, was sie braucht.

Der Autor nach Fertigstellung der Kolumne (Foto: Marisa Eul Bernal)

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