EM GUIDE – Interview

Heinrich Horwitz: „Mir hat das Angst gemacht, wie schnell sich Gesellschaft auch durch Sprache formiert, wie Hass durch Sprache entsteht und sich manifestiert“

Heinrich Horwitz / Courtesy Heinrich Horwitz

Seit dem 30. Oktober bietet Burg Hülshoff – Center for Literature eine Online-Lesegruppe zu “LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer an. In zehn Sitzungen, die  jeweils von einer anderen Person geleitet werden, wird das Buch gemeinsam gelesen und diskutiert.

In Ergänzung zu einem Interview mit Jenny Bohn und Jörg Albrecht, die gemeinsam das Programm der Burg Hülshoff verantworten, sprach Thomas Venker mit der Regisseur:in, Choreograf:in und Schauspieler:in Heinrich Horwitz über das Werk von Victor Klemperer und die Lesegruppe.

Als Einstiegsfrage würde mich interessieren, wann und in welchem Kontext du das erste Mal mit dem Werk von Victor Klemperer in Berührung gekommen bist.

Heinrich Horwitz: Das muss während des Studiums gewesen sein. Ich habe Schauspielregie an der Ernst Busch studiert und hatte da mit Professor Thomas Wieck einen Dramaturgie-Professor, der ganz viel Brecht unterrichtet hat – und in der Beschäftigung mit Brecht kam Klemperer auch vor, was ich zum Anlass nahm, ihn nochmals ganz zu lesen.
Ich bin ja Aktivist*in für queere Sichtbarkeit in der Kunst und Kultur. Als die gendersensible Sprache angefeindet wurde, insbesondere als in Bayern und in Hessen Verbote ausgesprochen wurden, da habe ich mich auch an das Buch erinnert und nochmals reingelesen.
Diese beiden Zeiten in meinem Leben waren auf jeden Fall die Momente, wo ich mich damit innerlich und aber auch äußerlich beschäftigt habe.
Aber wann ich das erste Mal diesen Text gelesen habe? Ich bin ja in einer Familie deutscher Exiljuden aufgewachsen, da kursierte der Text sicherlich, da wurde auf jeden Fall darüber gesprochen. Es gab also frühe Berührungen, aber so ganz genau kann ich mich nicht erinnern.

Als Regisseur*in, Choreograf*in und Schauspieler*in sind Worte ja ein ganz natürlicher Teil deiner täglichen Arbeit. Auch wenn in künstlerische Arbeit oft auch konkrete Analysen gesellschaftlicher Zustände einfließen – und in deine eigene künstlerische Arbeit sowieso –, ist eine Textsammlung wie „LTI – Notizbuch eines Philologen“, die sich so konkret an den politischen Verhältnissen im 3. Reich abarbeitet, jedoch noch mal ganz anders positioniert, zunächst da Klemperer die persönlichen Erlebnisse während des 3. Reiches mitverarbeitet hat, zum anderen, da es sich um ein im Moment der Publikation des Textes bereits – zum Glück – nicht mehr existierendes Schreckenssystem handelte.
Wie hast du das Buch beim ersten Lesen empfunden?

Dadurch dass dieser Text chronologisch und fast tagebuchartig angelegt ist, also eine Art von Aufzeichnung ist, hat er mich schon sehr berührt. Die Zeitgleichheit von politischer Analyse und Erleben, von Nähe und Distanz zeichnet ihn aus, manchmal ist er trotz allem ja auch fast humorvoll. Die Art wie Klemperer schreibt, das hat mich tief berührt, das weiß ich noch. Und auch sehr bewegt.
Und dann weiß ich, dass ich doch recht angstvoll auf diese Dinge geschaut habe. Mir hat das Angst gemacht, wie schnell sich Gesellschaft auch durch Sprache formiert, wie Hass durch Sprache entsteht und sich manifestiert.
Der Text von Klemperer hat für mich auch viel mit meiner Arbeit für queere Sichtbarkeit zu tun. Da gibt es Ähnlichkeiten. Die gendersensible Sprache schafft auch eine Lücke, einen Leerstand, der Menschen wahnsinnig macht, oder total wütend zumindest. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Inhalte, sondern darum wie Sprache benutzt oder eben nicht benutzt wird. Und das finde ich erschreckend.

Ich habe zwar Schauspielregie studiert an der Ernst Busch, aber ich hatte immer ein Unbehagen der Sprache gegenüber – und das obwohl oder gerade weil ich aus einer Theaterfamilie komme. Ich bin mit dem Kanon des deutschen Sprechtheaters aufgewachsen, mit diesen ganzen Schinken, den teilweise auch total mysogynen Stoffen, wo vor allem cis-männliche, weiße, heterosexuelle Charaktere vorkommen. Das fand ich schon als Kind suspekt. Auch wie meine Lehrer*innen mit mir gesprochen haben. Ich erinnere mich an Unterrichtseinheiten in der Schule, in denen ich mich gefragt habe, warum die so sprechen?
Deswegen habe ich noch während des Studiums angefangen, viel mit Tanz zu arbeiten – ich habe neben dem Theater noch Tanz-, Musik- und Choreografie-Ausbildungen. Ich war sehr inspiriert, plötzlich nur noch mit dem Körper arbeiten zu dürfen.
Genau genommen fange ich gerade erst wieder an mit Text zu arbeiten,
Vielleicht durch meine Auseinandersetzung mit Oper. Ich erlebe Sprache eher verletzend und ausgrenzend, wenig inklusiv und mit denkend oder öffnend. Dabei geht es mir nicht nur um gendersensible Sprache, sondern auch darum, dass bestimmte Wörter nicht mehr benutzt werden sollten. Beim Lesen von Klemperer musste ich viel an diese Auseinandersetzung denken. Insofern ist es ein sehr zeitgenössisches Werk, an dem man sehr viel ablesen kann.

Wo du deinen Aktionismus eben schon angesprochen hast: Deine Arbeiten stehen für queer-feministisches Empowerment und das Unterfangen, politische Verantwortung in künstlerisches Schaffen zu übersetzen. Nicht nur die aktuellen Entwicklungen in den USA lassen einen mit Skepsis auf die Zukunft schauen. Es scheint, als ob viele positive gesellschaftliche Entwicklungen, die wir in den vergangenen zehn Jahren auf den Weg gebracht haben, von regressiven Kräften wieder rückgängig gemacht werden könnten. Was bedeutet ein solches Drohklima für deine Arbeit?

Ich habe schon Angst, dass das auch bei uns Auswirkungen hat. Ich habe gerade Besuch von einer befreundeten Person aus New York, die mir erzählt hat, dass teilweise trans Personen die Hormontherapie in Krankenhäusern verweigert wird. Trump reglementiert das, verbietet die Medikamentenausgabe. Das finde ich schon gruselig, wenn ja auch in Deutschland vermehrt gesagt wird, dass es nur zwei Geschlechter gibt.
Das Friedrich Merz gendersensible Sprache im öffentlichen Raum verbieten will, damit folgt er ja der CSU in Bayern. Wir sind also nicht so weit weg davon, dass das passieren kann. Ich finde das Tempo dessen, und auch die Heftigkeit überfordert, man kommt gar nicht mehr hinterher. Vorgestern habe ich gelesen, dass er jetzt auch aPlastikgeschirr wieder einführen will und dass es keine Papierstrohhalme mehr geben soll. Ich habe das Gefühl, ich gucke so eine wirklich mittelmäßige Comedy-Show von vor 20 Jahren.
Auch hier in Deutschland sind Teil dieses Turbokapitalismus und dieser Individualisierung, auch bei uns fehlt es an heterogenen Diskursräumen – und das hat zur Folge, dass man sich schnell irgendwelchen Headlines zugehörig fühlt, ohne genau zu wissen, was das eigentlich wirklich für mein eigenes Leben bedeutet, aber auch das Leben aller anderen. Davor habe ich massive Angst. Also ich sehe unsere Demokratie auf jeden Fall in Gefahr gerade.

Es fällt eine ja nicht leicht, den Sprachdiskurs um das Gendern zu greifen zu bekommen, da er so weit weg ist von den sonstigen gesellschaftlichen Erfahrungen im Umgang mit Sprache. Was ich damit meine: es ist ja nicht so, dass ein Großteil der Bevölkerung sonst so großen Wert auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Sprache legt, die meisten benutzen ein sehr limitiertes Set-Up aus wenigen Wörtern. Diese Brutalität mit der das Gendern abgelehnt wird, steht in keiner Relation zur sonstigen Unsensibilität für Sprache.

Für mich hat das viel mit Gruppenbildung zu tun. Ich muss da an Hannah Arendt denken, die in ihren Texten über Ausgrenzung über Gruppenbildung nachgedacht hat – es wird ein Feindbild kreiiert, wodurch sich Gruppen formieren können. Das ist auf jeden Fall eine einfachere Form der Verbindung, als einen Konsens zu finden oder auch sich darauf zu einigen, nicht einer Meinung zu sein und das zu legitimieren. Und ich glaube, deshalb funktioniert das so gut.
Dass in Deutschland jetzt gerade im Wahlkampf die ganze Zeit die Asylpolitik und die Menschen mit Migrationshintergrund im Zentrum stehen, lenkt ja davon ab, dass wir wirklich andere Probleme haben. Dass niemand mehr über die Klimakrise redet ist doch sehr erstaunlich. Die steigende Anzahl an Femiziden, Gewalt an marginalisierten Gruppen. In meiner Lesegruppe ging es ja um dieses Kapitel, in dem Klemperer über das Feindbild des Juden spricht – das wird ja relativ oft singulär benutzt. Der Jude! Wir führen einen Krieg gegen den Juden – und weil wir uns gegen den wehren müssen, marschieren wir in Polen ein.
Es gibt im LTI eine Form von Verteidigungshaltung gegenüber etwas Fremden, etwas Gefährlichen, etwas was hassend ist. Und dagegen muss sich gewehrt werden. Das erinnert schon viel an die Ausgrenzungspolitik, die wir gerade erleben.

Wie hast du das „Close Reading zentraler Textstellen“ mit der Lesegruppe empfunden?

Es war eine sehr schöne Erfahrung.
Ich habe das Gefühl, dass gerade in der Kultur, so wie ich sie erlebe, relativ viel Sorge besteht.
Das hat ganz viel mit den Sparmaßnahmen zu tun, aber auch damit, wie so eine Politik dann Einfluss auf Programm und Ästhetik haben könnte. Wie doll mischen die sich dann ein? Wie sehr sind überhaupt noch an der Kultur interessiert? Es wird aktuell deutlich, dass die CDU kein großes Interesse an Kultur mehr hat.
Insofern hat es mir gut getan, mich mit diesen 50 Personen – von denen vielleicht 15 partizipiert aktiv waren – anderthalb Stunden lang präzise so einem Inhalt zu widmen. Es war hart, den Text laut zu hören, das ist doch verletzten, schmerzvoll. Das ging glaube ich allen so – und gleichzeitig waren alle sehr dankbar, ob so unterschiedlichen Inputs.
Wir haben auch viel über das Verbot der gender-sensiblen Sprache gesprochen – und was für heilsame Proteste dagegen es geben könnte. Es hat allen Lust bereitet, gemeinsam zu denken. So einen öffentlichen Denkraum gibt es nicht oft.

Inwieweit konntest du bei den Teilnehmer:innen unterschiedliche Perspektiven auf „LTI – Notizbuch eines Philologen“ feststellen?

Es waren auf jeden Fall sehr unterschiedliche Altersgruppen dabei. Eine Person aus Israel war da. Ich hatte das Gefühl, die Teilnehmer*innen sind aus sehr unterschiedlichen Bundesländern gekommen, mit sehr unterschiedlichem Vorwissen.
Klar, es gibt natürlich einen Konsens, da sass niemand von den neuen Rechten oder so.
Es war ein sicherer Ort, an dem Menschen Lust haben sich auszutauschen. Ich hatte schon das Gefühl, dass alle die Aktualität dieses Werks verstehen, dass wir uns gerade an so einem Punkt befinden – nachdem die Brandmauer gefallen ist, Merz gesagt hat, es sei ihm egal, dass so viele Leute auf die Straße gehen – an dem es gut ist, nochmals genauer hinzugucken.

Ich war am Sonntag vor zwei Wochen auf der Demo am Reichstag in Berlin und auch da wurde er auch zitiert. Und wie du es ausgeführt hast, es ist aktuell so, dass der Text und unser Diskurs sehr nach bei einander sind.

Ja, total.
Wir haben auch ein bisschen über die Zeit seit dem 7. Oktober gesprochen. Weil für mich als deutsch-jüdische Person, die – wenn man überhaupt über sowas sprechen kann – ein eher christliches passing hat (wenn man es aus einem Queer-Term formulieren möchte), plötzlich das jüdisch sein so präsent ist. Und das zum ersten Mal in meinem Leben.
Ich habe mich künstlerisch auch schon früher damit beschäftigt und bin mit vielen verbunden, mit denen ich darüber rede, aber es war nie so, dass es ein Teil meiner sichtbaren Identität ist wie das Queer-Sein.
Ich würde das nie so formulieren, aber es gibt eine Art queer passing, also wenn ich angeguckt werde, dann sieht man, dass ich nicht so eine heteronormative Cis-Person bin. Es gibt auf jeden Fall einen Glitch, wenn ich den Raum betrete. Dann heiße ich auch noch Heinrich.
Ich habe ganz viele jüdische, israelische Freund*innen in Berlin, die sagen, wir wollen ja gar nicht als die israelischen Juden markiert werden, sondern als Berliner Mitbürger*innen oder so.
Ja, insofern ist das Buch sehr aktuell gerade.

Anschließend auf meine Einstiegsfrage: Hast du das Gefühl, dass das Alter der Lesenden einen Einfluss auf ihre Wahrnehmung der Texte hat? Es ist ja schon so, dass eine Person, die das Buch 1950 das erste Mal gelesen hat, es anders wahrnimmt als eine Person, die es Ende der 70er Jahre zum ersten Mal liest und eben jemand, der es heute zum ersten Mal liest. Das Alter hat einen Einfluss.

Das kann ich so genau gar nicht sagen, also was jetzt die Teilnehmer*innen betrifft.
Ich selbst bin ja 41, das heißt, ich bin noch in einer Zeit aufgewachsen, in der in der Schule vor allem der Holocaust behandelt wurde. Das Thema war also – unabhängig von meiner direkten Betroffenheit – sehr präsent. Wir haben, wenn ich es richtig erinnere, Teile des Buchs von Viktor Klemperer in der Schule im Geschichtsunterricht gelesen, ebenso natürlich Anne Frank und Hannah Arendt. Ich weiß nicht, wie das aktuell ist.
Es gab in der Gruppe einen großen Konsens darüber, dass es ein wichtiger Text ist – und dass es wichtig ist, diesen nun wieder stark präsent zu machen. Diesbezüglich gab es nicht so große Unterschiede zwischen den Lesenden. Es macht aber sicherlich einen Unterschied, ob man direkt oder eben nicht wirklich direkt betroffen ist, ob es Verbindungen zur Vergangenheit über Eltern, Großeltern oder andere gibt.

Du hast vorhin den Humor kurz auch angesprochen, der teilweise in einigen Segmenten drin steckt. Die Frage ist natürlich schwer hypothetisch, aber denkst du, dass sich Klemperer beim Schreiben bewusst war, dass die Chance besteht, dass seine Texte nicht historische Erinnerungen bleiben, sondern wieder zu Beiträgen zu einem antifaschistischen Dialog werden könnten, ja würden?

Das glaube ich mit Sicherheit, ja. Ich glaube, alle Menschen, die in so einer Zeit geschrieben haben, sind davon ausgegangen, dass es ein Werk wird, das warnt und die Zeit überdauert. Warum schreibt man sonst? Es ist eine Form des Überlebens.
Ich weiß, dass in meiner Familie viel darüber geredet worden ist, dass es damals eine große Verzweiflung gab, nicht zu wissen, wie lange dieser Krieg dauern wird und natürlich auch wie er ausgeht. Es gab eine Endzeitstimmung. Das steckt tief in dem Buch drin. Es gibt verschiedene Stellen in dem Buch, in dem es so ganz konkret darum geht, dass man nicht mehr weiß, ob man es wirklich überlebt oder nicht. Die Präzision und die Genauigkeit dieser Abschrift ist so hingebungsvoll, dass ich mir das gut vorstellen kann, dass Klemperer davon ausging, dass dieses Werk überlebt und überdauert und zeitgeschichtlich eine Wichtigkeit bekommt.

Die Frage meint aber nicht nur das, sondern dass das Werk tatsächlich auch wieder gebraucht wird im antifaschistischen Kampf, eben weil die Zeiten wieder so schlimm werden, dass sich die Geschichte zu wiederholen droht.

Ja, das glaube ich.
Er wusste ja, dass es den Judenhass schon vor den Nazis gab.
So sehr ich immer daran glaube, dass man die Muster durchbrechen kann, ist es am Ende doch vielleicht so, dass wir in einem zirkulären Weltbild gefangen sind, das sich immer wieder wiederholt. Das Glück besteht dann darin, an der richtigen Schlaufe rauszukommen.
Aber ich würde mir wünschen, dass dem nicht so ist.

Heinrich Horwitz in „Flipper“, Ballhaus Ost, 16.06.23 (Photo: Maria Bolz) / Courtesy Heinrich Horwitz

Du hast vorhin deine generelle Skepsis gegenüber Text angesprochen. Was bedeutet das denn
Inwieweit, was bedeutet das für deine Arbeiten mit Texten? WIe näherst du dich diesen an?

Du meinst in meiner Theaterarbeit?
Ich habe einfach sehr lange nicht mit Texten gearbeitet. Es ist so, dass ich mich schon immer sehr schwer getan habe mit Texten zu arbeiten. Für meine Diplomarbeit an der Ernst Busch habe ich mich mit den Tagebüchern von Vaslav Nijinsky befasst. Nijinsky war Balletttänzer und Choreograf, man kann sagen er war einer der ersten Revolutionäre des klassischen Balletts – und er war ein schwuler Mann, der eine Frau geheiratet hat, um überhaupt diese Karriere als Solo-Tänzer zu machen. Vaslav Nijinsky hat durch die Erfahrungen des 1. Weltkriegs, aber eben auch seine internalisierte Queerness eine psychische Erkrankung bekommen, er ist schizophren geworden. Er hat dann in drei Wochen seine 200 Seiten dicken Tagebücher verfasst, ein Werk, das total hermetisch ist, eine krasse innere Logik besitzt. Nijinsky hat danach nie wieder gesprochen, war 30 Jahre in der Psychiatrie und hat kein einziges Wort gesprochen – und auch nie wieder getanzt. Er hat sich allem Ausdruck verwehrt.
Ich habe diese Tagebücher zwar in meiner Diplomarbeit behandelt, aber niemand hat die Texte gesprochen, beziehungsweise wir haben ein paar Sachen übersetzt, ein schwedischer Schauspieler hat sie auf Schwedisch gesprochen, und eine finnische Tänzerin und eine weitere Person auf Französisch. Wir haben also Fremdsprachen benutzt, aber wirklich super fragmentarisch. Der Text wurde zur Choreografie – die Sprache verwandelt sich in einen Raum.
Danach habe ich nur noch ganz wenig mit Text gearbeitet, sondern eher mit Ensembles für zeitgenössischer Musik. Das heißt, ich habe mich wirklich vom Text total abgewandt,Sprache auf der Bühne nicht oder nur ganz zart benutzt, so dass man sie kaum hören konnte. Ich erinnere mich an Arbeiten von mir, wo die Spieler*innen so leise gesprochen haben, dass man sie nicht verstanden hat.
Ich habe erst kürzlich wieder angefangen mit Text zu arbeiten, über die Beschäftigung mit griechische Mythologie. Ich versuche da einen
queerfeministischen Zugang zu finden. Unser Amazonenprojekt, für das viel Text produziert wurde, so eine Art spekulativer Science-Fiction.
Ich selber spiele ich aber im Sprechtheater, also spreche auf Bühnen –ich bin viel verletzt im Sprechtheater, wenn ich da sitze und die mich so anschreien von der Bühne. Das ja schrecklich. Es fehlt an einer anderen Sprache, nicht nur was die Form angeht, sondern auch die Inhalte.
Das ist meine große Kritik – kommend von meinem queeren Aktivismus –: es fehlt an diversen Geschichten, inklusiverer Sprache, an positiven, utopistischen Geschichten.

Danke für das spannende und offene Gespräch, Heinrich. Als letzte Frage: Was steht als nächstes bei dir an?

Ich will eine Geheimloge gründen: eine queer-feministische Geheimloge. Freimaurerei für Menschen mit Marginalisierung. Wir sind noch dabei, uns einen Namen zu geben. Es ist auch noch unklar, ob man irgendeiner Berufsgruppe zugehörig sein muss, oder wie wir das kenntlich machen, dass man weiß, was gemeint ist und in was für einer Tradition es steht. Im Zuge dessen habe ich überlegt: es muss auf jeden Fall einen Poetik Kreis geben, einen Lesekreis – einfach weil mir die Erfahrung jetzt so viel Spaß gemacht hat.

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