EM GUIDE — Interview –Online-Lesegruppe zu "LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer

“Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen”

Seit dem 30. Oktober bietet Burg Hülshoff – Center for Literature eine Online-Lesegruppe zu “LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer. In zehn Sitzungen, die  jeweils von einer anderen Person geleitet werden, wird das Buch gemeinsam gelesen und diskutiert.

Jenny Bohn und Jörg Albrecht, die gemeinsam das Programm der Burg Hülshoff verantworten waren so freundlich, Thomas Venker ein paar Fragen zu beantworten. 

 

Jenny und Jörg, zum Einstieg kurz gefragt: Könnt ihr die Aktivitäten der Burg Hülshoff in fünf Sätzen zusammen fassen? Und was ist eure Rolle auf der Burg Hülshoff?

Jenny-Bohn (Foto Fritz Beck)

Burg Hülshoff – Center for Literature (CfL) ist der Programmbetrieb der Annette von Droste zu Hülshoff-Stiftung. Für uns ist Literatur ein Fest, Anlass für Begegnung und im besten Fall Auslöser leidenschaftlicher und anhaltender Gespräche. Im Programm des CfL verbinden sich Veranstaltungen, Residenzen, Forschung, partizipative Programme sowie zwei Museen: Burg Hülshoff, Haus Rüschhaus. Hinzu kommt unsere Digitale Burg als Ort der Teilhabe im Internet. Wir erinnern nicht nur als einzige Institution bundesweit in diesem Umfang an das Werk einer Schriftstellerin, sondern nehmen auch ihr Leben und ihre Zeit als Anlass, um das Jetzt und das Morgen zu befragen.
Wir sind gemeinsam verantwortlich für das Programm. Mit Kolleg*innen machen wir Ausstellungen, Lesungen, Performances, Vermittlungsprogramme und vieles mehr. Besonders hervorzuheben ist unser jährlich stattfindendes Droste Festival. Dieses Jahr vom 18.-28. Juni mit dem Titel The Landlords’ Game, was der Titel des Spiels ist, dass Monopoly zugrunde liegt und von einer Frau erfunden wurde.

Aktuell veranstaltet ihr eine zehnteilige Online-Lesegruppe zu “LTI – Notizbuch eines Philologen“ von Victor Klemperer. Nach Ende der Pandemie lassen haben sich zwei Hauptreaktionen auf das während dieser Zeit hauptsächlich digitale Kulturleben beobachten lassen: Erstens die völlig Abkehr von den digitalen Orten und Wiederzuwendung zu rein persönlichen Begegnungen. Zweitens die Wertschätzung der gemachten Erfahrungen und Integration in das Post-Pandemie-Programm. Ihr habt Euch ja offensichtlich für zweiteres entschieden. Könnt ihr den Weg, der dazu geführt hat, kurz darlegen?

Der digitale Raum ist für uns nicht erst mit der Pandemie entstanden. Die Pläne für unsere Digitale Burg lagen vorher schon in der Schublade, denn eins ist doch klar: Sprache verändert sich derzeit besonders stark, und diese Veränderungen geschehen auch im digitalen Raum. In unserem Alltagsleben lassen sich digitale und nicht-digitale Erfahrungen auch schon gar nicht mehr trennen. Daher ist es für uns wichtig, Literatur nicht davon abzukoppeln. Wir spiegeln Dimensionen nicht gegeneinander aus. Für uns stehen Texte in gedruckter und digitaler Form miteinander, nicht gegeneinander.

 Ich sagte es, ausgewählt habt Ihr Euch “LTI – Notizbuch eines Philologen“ des jüdischen Romanisten Victor Klemperer. Wieso gerade ihn und dieses Buch?

Jörg Albrecht (Foto: Ute-Friederike Schernau)

Wir besprechen in der Online-Lesegruppe Klassiker, die uns dabei unterstützen die Gegenwart verstehen, besprechen zu können. Klemperer tut in seinem Text etwas, das außergewöhnlich ist: Er reflektiert, dass die NS-Diktatur erst durch die Sprache gelingen und bis in die Körper aller Menschen vordringen konnte. Er tut dies sowohl während der NS-Zeit als auch kurz danach. LTI ist 1947 erschienen. Klemperer untersucht mit Scharfsinn und Humor, obwohl er als jüdische Person in extremer Weise vom nationalsozialistischen Terror betroffen war. Die Wiederkehr von Formen des Faschismus und des nationalsozialistischen Denkens im öffentlichen Diskurs heute wird ganz genau greifbar, wenn wir Klemperer lesen.

„LTI“ ist lateinisch für “Lingua Tertii Imperii” und bedeutet “Sprache des Dritten Reiches“. Was kennzeichnet diese Sprache für euch?

„Worte können wie winzige Arsendosen sein: sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun – und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
In Kürze könnten wir sagen, die LTI hat zwei Bewegungen: Sie emotionalisiert einerseits stark, schafft Hass gegenüber den verfolgten Bevölkerungsgruppen, euphorisiert für Krieg und Tod, stumpft aber Empathie und Zärtlichkeit gleichzeitig auch ab. Diese Emotionalisierung greift oft Motive und Mythen der Vergangenheit, auf Germanentum, Romantik, auch auf Christliches zurück. Andererseits leiht sich die LTI Wörter der Moderne, greift technische Begriffe auf, will für Fortschritt stehen. Beide Bewegungen manipulieren Menschen und vergiften die Sprache. Bis heute.

Das Buch ist 1947 erschienen, also nur zwei Jahre nach Ende des nationalsozialistischen Regimes. Wie schätzt ihr den Einfluss der Nähe zu den schrecklichen Ereignissen und der damit verbundenen Aneignung der Deutschen Sprache auf das Buch ein?

Victor Klemperer war Professor in Dresden. Er hat im Nationalsozialismus nach und nach sein Leben verloren. Er verliert seinen. Job, darf keine Bibliotheken mehr betreten, wird sozial ausgegrenzt und immer weiter in seinen Rechten beschränkt. Als Mann einer Arierin war er zwar geschützter als andere Juden und Jüdinnen, und dem Bombenangriff auf Dresden scheint er zu verdanken nicht am Ende doch noch deportiert worden zu sein. Was ihm bleibt ist die Sprache. Und so macht der Philologe sich den Gegner zum Untersuchungsobjekt.

„Ich ließ mich damals nicht irremachen, ich stand jeden Morgen um halb vier auf und hatte den vorigen Tag notiert, wenn die Fabrikarbeit begann. Ich sagte mir: du hörst mit deinen Ohren, und du hörst in den Alltag, gerade in den Alltag, in das Gewöhnliche und das Durchschnittliche, in das glanzlose Unheroische hinein … Und dann: Ich hielt ja meine Balancierstange, und sie hielt mich …“

Klemperer fängt 1933 an bestimmte Notizen mit dem Kürzel LTI in seinem Tagebuch zu verzeichnen. Aus diesen Notizen entsteht das Buch: ein erschütterndes und doch auch humorvolles Protokoll. Immer wieder schildert er alltägliche Erlebnisse und Beobachtungen. Er schreibt zum Beispiel über Todesanzeigen in Zeitungen und zeigt: Die Diktatur war bis in scheinbare Kleinigkeiten wie schwarze Balken hinein Menschen verachtend. Klemperer zieht auch die großen Linien. Antisemitismus sieht er in Verbindung mit der deutschen Philosophie und Literatur der Romantik. Wir sprechen immer wieder darüber, dass wir nicht begreifen können wie Klemperer nach allem was ihm wiederfahren ist, nur zwei Jahre nach Kriegsende, dieses Buch schreiben konnte. Es ist ein so wichtiges Buch, ein Zeugnis, dass viele Parallelen zur Gegenwart aufzeigt. Und uns mit unserer aktuellen Situation des erstarkenden Faschismus in Europa konfrontiert: wie antidemokratisches Denken und Sprechen in den Alltag einsickert.

Mittlerweile sind 49 Jahre seit dem Ende des 2. Weltkriegs vergangen. Man hätte hoffen können, dass die “Sprache des Dritten Reiches“ zu diesem Zeitpunkt nur noch als verblichene Erinnerung in Zeitdokumenten existiert. Dem ist aber leider nicht so. Im Gegenteil: sie ist wieder präsenter als wir es uns je in unseren größten Albträumen hätten vorstellen können. Wird sie denn einfach nur aufgegriffen und wiederholt? – oder seht ihr da auch Veränderungen im Gebrauch?

Es ist nicht eine zu eins der selbe Sprachgebrauch. Aber es ist die Art und Weise wie über Dinge gesprochen wird. Das Wort »Remigration« zum Beispiel zeigt: In Deutschland benutzen Menschen nach langer Zeit wieder offen völkisches Gedankengut und faschistoide Sprache. Und wenn wir davon ausgehen, dass Sprache unser Bewusstsein, unseren Zugriff auf Welt bestimmt, dann müssen wir uns aktiv mit der Sprache auseinandersetzen. Und uns bewusst machen, was wir wann wiederholen. Sprache durchdringt Gesellschaft. Das ist das Schauerliche, was wir aus dem Nationalsozialismus begreifen müssen. Und wir sind als Gesellschaft nicht davor geschützt. Es ist auch zu fragen, ob sich eine deutschsprachige Gesellschaft dieser Sprache überhaupt jemals komplett entledigt hat.

„Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen – ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Essgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.“

Die Reihe läuft ja schon seit vergangenen Herbst. Sind die Teilnehmer:innen denn kontinuierlich in allen Sitzungen dabei? Und wie hat man sich den Diskurs über das Buch in der Lesegruppe vorzustellen?

Viele Teilnehmende sind kontinuierlich dabei, nicht bei jeder Sitzung, aber regelmäßig. Die jeweils moderierende Person bringt Fragen und Thesen mit. Kern ist auch immer ein Close Reading: Wir lesen gemeinsam und laut einzelne Passagen aus den jeweiligen Kapiteln zur Sitzung. Eindrücke und Nachfragen sind jederzeit willkommen. Und es entspinnt sich oft ein Gespräch, in dem die sehr unterschiedlichen Menschen sich einbringen. Mal mit autobiografischen Randnotizen, mal mit Ergänzungen aus eigener Forschung, mal mit Bezügen zu aktuellen politischen Ereignissen.

 Für die Moderation wurden Renate Birkenhauer, Özlem Özgul Dündar, Ken Yamamoto, Hanno Hauenstein, Tijan Sila, Marina Weisband, Tine Rahel Völker, Tomer Dotan-Dreyfuß, Sandra Gugić und Omri Boehm gewonnen. Was kannst du zum Auswahlprozess sagen? Und inwieweit führt das zu sehr unterschiedlichen Sitzungen?

Das ist eine Mischung an Personen, die sich mit dem Thema des Buchs beschäftigen – aus unterschiedlichen Blickwinkeln und nicht alle mit dem gleichen Vorwissen Und wir haben sehr klassisch eine Namensliste erstellt und nacheinander angefragt. Schönerweise waren fast alle Angefragten auch sofort dabei.

Gibt es schon Pläne, welches Buch als nächstes gelesen wird?

Es gibt Überlegungen, aber noch keine Festlegung. Aber sicher ist die nächste Online-Lesegruppe startet im Oktober 2025.

Die nächste Online-Lesegruppe findet am 22. Januar mit Marina Weisband statt. 

______________________________________

EM GuideThis article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de

Funded by the European Union. Views and opinions expressed are however those of the author(s) only and do not necessarily reflect those of the European Union or the European Education and Culture Executive Agency (EACEA). Neither the European Union nor EACEA can be held responsible for them.

Kaput is a proud member of the EM GUIDE network.

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!