EM GUIDE – Marc Wilde traveling kaput

TRAVELLING KAPUT III – Anti-Klimax in Washington DC

Marc und André – wiedervereint vorm Black Cat Club in Washington DC

„FREEZE!!!“ – mit diesem Befehl, der keinen Widerspruch duldet, werde ich im Terminalgebäude empfangen, als ich das erste Mal amerikanischen Boden betrete. Alle Menschen um mich herum sind von einer auf die andere Sekunde wie eingefroren, als stünde eine grüne Wolke am Himmel. Keiner soll sich rühren. Dank des vehementen Auftritts des Sicherheitspersonals, klappt das auf Anhieb.

Fünfzehn Jahre ist das nun her: Ich befand mich zusammen meiner heutigen Frau Anke am internationalen Flughafen von Los Angeles, eine mehrwöchige Rundreise durch Kalifornien lag vor uns.

Bei meinem zweiten Amerika-Aufenthalt reise ich allein. In Mission für das Kaput-Magazin begebe ich mich an die Ostküste, um über ein Konzert der japanischen Punkband Otoboke Beaver zu berichten. Washington erreiche ich, aus Island kommend, am Freitagabend. Die Ankunft verläuft geräusch- und reibungslos. An der Passkontrolle werden mir diesmal keine lästigen Fragen gestellt und ich lasse auch meinen Rucksack mit Geld und Ausweisen nicht am Gepäckband stehen, wie einst in L.A.

United States of Guitar, Hard Rock Cafe Washington DC

Am Ausgang nimmt mich ein alter Freund in Empfang. Mitte der Neunziger haben wir zusammen in Bonn studiert. Inzwischen ist André mit einer Amerikanerin verheiratet und lenkt in Washington und Umgebung die Geschicke eines amerikanischen Umzugsunternehmens. Unzählige Tage und Stunden haben wir damals in der leicht verschnarchten ehemaligen deutschen Hauptstadt am Rhein zusammen verbracht. Pommes und Bier vom Imbiss 2000 geholt und uns in kleinen Wohnungszimmern die Zeit mit Filmen, Freihanteltraining und dem Rezitieren absurder Wissenschaftsprosa (von Ulrich Schödlbauer) vertrieben. Zeit, die wir eigentlich in den Hörsälen der Philosophischen Fakultät hätten verbringen sollen. Abends haben wir uns mit von 0,5-Liter-Dosen ausgebeulten Jacken in den Zug gesetzt und sind zu Konzerten nach Köln gefahren – ins Underground, ins Gebäude 9 oder zum Sonic Ballroom. Kurz: Wir waren über viele Jahre unzertrennlich und haben uns dann irgendwann verloren. Ende letzten Jahres kam dann plötzlich wieder ein Lebenszeichen von André. Der Plan sich wiederzusehen, war schnell gefasst – was wäre besser geeignet als ein Konzert? Der Tourplan von Otoboke Beaver und die von der Kaput-Redaktion genehmigte Dienstreise boten die Gelegenheit.

2004-er Chevy Silverado

Mit Andrés rotem Pickup, einem 2004-er Chevy Silverado, fahren wir nach Washington rein. Aus dem Seitenfenster sehe ich die Lichter der Großstadt, irgendwo spielt gerade Kim Gordon. Wäre ich ohne Umweg über Island geflogen, hätte ich das Konzert noch mitnehmen können.

Aber was hätte ich verpasst: Mein Stop-over in Reykjavik war jeden Augenblick wert – von der Kulisse im Sechserzimmer abgesehen.

 

Wir biegen in das Hafenviertel am Potomac River ein, in dem ich die nächsten Tage bei André und seiner Frau Nicole wohnen werde. In dem Stadtteil im Südwesten hat sich in den letzten Jahren einiges getan. Spätestens seitdem viel Geld in die Gegend am Hafen („The Wharf“) geflossen ist und die herausgeputzte Uferpromenade von teuren Hotels, Restaurants und Konzertstätten umsäumt ist, sind die Preise in die Höhe geschossen. Es gibt in den USA wenige Orte, die so stark von Gentrifizierung betroffen sind, wie der Bezirk Waterfront. Eine traditionelle Grenzlinie verläuft an der Fourth Street Southwest; dahinter liegen die einfachen, zweistöckigen Backsteingebäude, in denen die Teile der ärmeren Bevölkerung untergebracht sind, die es sich gerade noch leisten können. Dort, wo vor einigen Jahren der Einzelhandel mit seinen alteingesessenen Läden präsent gewesen ist, hat sich inzwischen die Filiale einer Supermarkt-Kette breit gemacht. Von der Wohnung meiner Gastgeber aus hat man einen direkten Blick auf die schmucklose Glasfassade mit der Leuchtreklame von Safeways. Wer hier einkaufen geht, kann schon am gesichtstätowierten Sicherheitspersonal erkennen, dass mit allem gerechnet werden muss. Nicole erzählt, wie vor einiger Zeit ein Mann am Eingang angeschossen wurde, nur wenige Meter von ihr entfernt. Auch André hat mit dem Gebrauch von Schusswaffen Erfahrung; sein Truck ziert ein markantes Einschussloch.

Aus alter Tradition decken wir uns im Supermarkt mit Dosenbier ein: Pabst Blue Ribbon – mit bester Empfehlung von Frank Booth. Wer unter uns Boomern erinnert sich nicht?

Bevor wir das Programm für die nächsten Tage planen, bringen wir uns auf den neuesten Stand. Ich erfahre, dass André neben seinem Hauptjob ebenfalls musikjournalistisch unterwegs ist. Während ich es als Autor bei Kaput inzwischen bis zum Auslandskorrespondenten gebracht habe, schreibt André für ein legendäres Hardcoremagazin und leitet von seiner Wohnung aus die ZAP-Außenstelle Washington. Dies bringt ihm unter anderem Post eines Verschwörungstheoretikers aus Oberbayern ein, der verschlüsselte Botschaften auf gelochten Karteikarten sendet. Breitere Resonanz hat Andrés Konzertbericht über The Chisel im Union Stage Club gefunden – eine englische Punkband, die bei den inzwischen leider gängigen „Free Palestine“-Bekundungen nicht stehen bleiben wollte und einen Abweichler aus dem Publikum erst als „Zionist Cunt“ beschimpft hat, um ihn dann dem prügelnden Mob im Moshpit zu überlassen. Die 400 Kommentare unter dem Facebook-Artikel dokumentieren sehr gut den – zuletzt von Jens Balzer so treffend beschriebenen – Riss, der sich gegenwärtig durch die linke (Musik-)Szene zieht, wenn es um die jüngsten Auswüchse des israelisch-palästinensischen Konflikts beziehungsweise dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober geht.

Zurück zu leichteren Themen: Tattoos. Während Andrés Körper nur noch wenig freie Flächen bietet, habe ich bisher keinen Grund gesehen, mir Tinte unter die Haut stechen zu lassen. Auch wenn es durchaus einen geben würde: Ich erzähle André von dem Buch zu meinem runden Geburtstag, das Anke mit zahlreichen Ko-Autor*innen aus meinem persönlichen Umfeld in mühevoller Kleinarbeit zusammengestellt hat. Titel: „50 Sachen, die Marc mit 50 gemacht haben sollte.“ Darunter ein Beitrag meiner besten Bonner Freunde, die mir den Besuch eines Tattoostudios zum (nicht ernst gemeinten) „Geschenk“ machen und das Motiv dafür gleich mitliefern: das Emblem vom „Hasensprung“ in Oestrich-Winkel. Wer jemals – so wie wir – die Tür zu dieser von außen unscheinbaren Kneipe öffnet, wird den Abend nicht vergessen. Versprochen! Wider Erwarten findet André an dem Motiv des Hasen Gefallen, und so fassen wir zu später Stunde den Entschluss, meinen Aufenthalt in Washington für eine bleibende Erinnerung zu nutzen.

Aber erst einmal Sightseeing. Am kommenden Tag fahren wir in den Nordwesten der Stadt in die Gegend rund um die U-Street. Ursprünglich war dies ein Hotspot der afroamerikanischen Musikszene. Duke Ellington wuchs in dem Viertel auf, diverse Jazzgrößen wie Louis Armstrong oder Ella Fitzgerald zog es in die Clubs am so genannten Black Broadway. In den Achtzigern schlug hier das Herz des East Coast Punk. Vor allem Ian McKaye – Mitbegründer des einflussreichen Dischord-Labels und Sänger erst bei den Teen Idles und Minor Threat, später bei Fugazi – gab dem DC-Hardcore ein Gesicht. McKaye spielte außerdem eine wegweisende Rolle für die Entstehung der Straight Edge-Bewegung, die den hedonistischen Lebensstil der damaligen Punkszene in sein Gegenteil verkehrte und den konsequenten Verzicht auf Drogen und Alkohol einforderte. Erkennungsmerkmal: ein großes „X“, das im Zuge der Alterskontrolle Minderjährigen in den USA auf den Handrücken gemalt wird, damit sie kein Alkohol bekommen.

André führt mich zum Black Cat – ein Club, der Anfang der Neunziger von Dante Ferrando, Drummer der Hardcore-Band Gray Matter, gegründet wurde. Ein weiterer Schlagzeuger, der junge Dave Grohl, hatte bei der Finanzierung angeblich ebenfalls seine Finger im Spiel. Neben dem 9:30 Club im benachbarten Shaw-Viertel gilt das Black Cat bis heute als eine der angesagtesten Locations für Konzerte im Independent- und Alternative-Bereich. Und Ian McKaye mischt sich wohl auch weiterhin gerne unters Publikum. Ich solle doch am Sonntag mal Ausschau nach einer roten Pudelmütze halten, meint André.

BEN’s CHILI BOWL

Langsam macht sich Hunger breit. Anstatt zum Lunch ins Ben’s Chili Bowl einzukehren – ein alteingesessener Burger-Laden, in dem sich auch Prominenz aus Politik und Kultur gern blicken lässt – entscheiden wir uns für die nächste Bar: das Solly’s. Zeit für Bloody Mary.

SOLLY’S

Wo wir gerade bei Dave Grohl waren: Der habe ja auch, erzähle ich André, seinen Beitrag dazu geleistet, dass die Band, deretwegen ich bis nach Washington gereist bin, mehr als einem kleinen Kreis von Eingeweihten bekannt sei: „It’s the most fucking intense shit, you’ve ever seen” hat die einflussreiche Rockgröße in einem Interview über Otoboke Beaver gesagt. Klar, dass dies für die Japanerinnen einem Ritterschlag gleichkommt und zentraler Bestandteil des Bandmarketings geworden ist. Was in meinem Fall gut funktioniert hat. Ich zeige André auf dem Handy ein Video, das vor einer Weile scheinbar grundlos in meine Timeline gespült wurde: „I checked your Cellphone“ heißt der Song, in dem sich in wenig mehr als einer Minute geballte Energie entlädt. Oder besser gesagt: Wut. Schnell wie ein Shinkansen drischt Khaokiss auf Hi-hat und Snare ein, begleitet von einem nicht enden wollenden „Why? Why? Why? Why?“. Auf textlicher Ebene fliegen nach dem aufgedeckten Liebesbetrug Haushaltsgegenstände durch die Gegend, auch Streichhölzer kommen zum Einsatz (wenn ich die fremden Schriftzeichen richtig übersetzt bekomme). Weit über eine halbe Million Klicks hat der Clip.

 

 

Im Vorfeld meines Kaput-Trips hatte ich Kontakt zu George Damnably, Label-Chef und Manager von Otoboke Beaver, aufgenommen. Bei dem Versuch, ein Interviewtermin zu bekommen, stoße ich jedoch auf Granit. Die Band würde kein Englisch sprechen, und während der Tour sei es sowieso schwierig, erklärt George. Auch den Wunsch, für meinen Reisebericht ein Backstage-Foto zu machen, lehnt er höflich aber bestimmt ab: Die Japanerinnen würden auf der Straße häufig gemobbt und verschwänden daher nach den Konzerten lieber direkt in den Bus. Kontakte müssten auf ein Minimum reduziert werden, schließlich wolle man sich auch nicht erkälten, schreibt er.

Die Bilder aus Nashville, die einige Tage nach ihrem Auftritt in Washington auf dem bandeigenen Instagram-Kanal gepostet werden, sprechen eine andere Sprache. Aber ich will nicht klagen: Im Nachgang erhalte ich zumindest Antworten auf meine schriftlich eingereichten Interviewfragen. Die sind allerdings aufgrund der KI-gestützten Übersetzung vom Englischen ins Japanische und zurück „lost in translation“. Ein Foto wird mir zwar ebenfalls zugemailt, aber auch das schockt nicht; nehme ich besser das mit Jack White.

Otoboke Beaver & Jack White (Copyright Instagram Otoboke Beaver) 

Aber wo waren wir stehen geblieben? Nach der dritten Bloody Mary fühle ich mich leicht benebelt, das Zeitgefühl habe ich längst verloren. Brüche im Bericht sind die logische Folge.

Also springen wir direkt weiter zum Sonntagabend: Wir befinden uns am Eingang des 9:30 Clubs. Doch dort geht es nicht nahtlos weiter; ich habe meinen Personalausweis vergessen. „No Alcohol“ wird mir humorlos zu verstehen gegeben, und dann malt mir der gestrenge Kartenabreißer auch noch das Kreuz auf die Hände. Ich sehe es positiv: Nie war meine Straight-Edge-Credibility größer, als an diesem Abend, an diesem Ort! Müssen mir André und Nicole das Bier halt auf Umwegen zukommen lassen. Aber auch sie haben Probleme mit dem Alkohol: Ein am Tresen stehendes Studentenpärchen fühlt sich in der Sicht zur Bühne gestört. Es kommt zur lautstarken Auseinandersetzung. Eine eigenwillige Interpretation von „Safe Space“ auf einem prall gefüllten Punkkonzert, denke ich, und bahne mir derweil den Weg zu einem Mann mit roter Mütze, der etwas teilnahmslos am Rande des Geschehens steht. Ich nehme Kontakt auf und blicke ihn erwartungsfroh an, aber Ian McKaye ist es leider nicht. Wäre auch zu schön gewesen. Von der koreanische Vorband mit dem passenden Namen Drinking Boys and Girls Choir bekommen wir ebenfalls kaum noch was mit. Alle Hoffnungen ruhen auf Otoboke Beaver. Vorhang auf, die Show beginnt.

Otoboke Beaver live in Washington DC

EPILOG

Zugegeben, liebe Leser:innen, ein offenes Ende ist häufig mit Enttäuschung verbunden und ein Anti-Klimax nicht jedermanns Sache. Aber soll ich jetzt wirklich von einem Konzert berichten, das vor über einem halben Jahr stattgefunden hat, jenseits des Atlantiks? Wer Lust bekommen hat, die schrillen Japanerinnen live zu sehen, möge sich besser selbst ein Bild machen. Und auf Reisen gehen. Wie mir ihr Manager George mitteilte, sei es nämlich um Otoboke Beaver in Deutschland nicht gut bestellt. Was in erster Linie an den hiesigen Bookern läge, an bestehenden Vorurteilen Frauen und BIPoc gegenüber sowie an den zu niedrig angesetzten Gagen.

Soviel lässt sich aber verraten: Ihren Geschwindigkeitsrausch bringt die Band aus Kyoto auch live konsequent rüber. Sängerin Accorinrin und Yoyoyoshie, die zweite Frontfrau, die Gitarre spielt und ebenfalls singt, ziehen das Publikum mit theatralischer Mimik und musikalischer Wucht problemlos in den Bann. Und wer seinen Blick auf die besessene Schlagzeugerin richtet, wird eh nur fassungslos staunen können. Einen angenehmen Ruhepol bildet dagegen die etwas in sich gekehrt wirkende Bassistin Hirochan, die barfuß auf einem flauschigen Teppich tänzelt. Ihr blau gefärbter Flokati gehört anscheinend ebenso zum Bandequipment wie der überlebensgroße Plastikbiber, mit dem Yoyoyoshie gegen Ende der Show über die Crowd surft. Und Humor haben sie offenkundig auch. Etwa wenn Accorinrin gesteht, dass ihr das amerikanische Essen auf Dauer Probleme bereite: “Hamburger, pizza, fries – all delicious but heavy poo”.

Es fehlt noch was? Ja, das stimmt: Tattoo Paradise. Den Abstecher in den Laden mit dem Motto „Good tattoos aren’t cheap. Cheap tattoos aren’t good“ haben André und ich uns für den Schluss aufgehoben. Nun trägt er einen Evil Bunny auf dem Bein, und ich habe mir das Motiv vom „Hasensprung“ hinten auf die Schulter ritzen lassen. Selbst kann ich mein Tattoo daher nicht sehen, dafür bräuchte ich einen Spiegel oder die Augen der Anderen.

Und ach, meine lieben Bonner Freunde, das geht an euch: Ganz billig war das mit dem Tattoo nicht. Ungefähr so teuer wie ein Flug von Frankfurt (über Island) nach Washington und wieder zurück. Die Rechnung kommt, ganz old school, mit der Post.

 

Unser Marc am Ziel seiner kaputen Träume vorm Capitol. Mal sehen, wo es ihn als nächstes hinzieht. 

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