Record of the Week

Kim Gordon “The Collective” + Die Top Ten Gordon Songs

Kim Gordon
“The Collective”
(Matador)

Es ist natürlich ein Statement, ein Album – das zudem am Weltfrauentag veröffentlicht wurde – mit einem Track namens „BYE BYE“ zu eröffnen. BYE BYE in Versalien geschrieben, damit erst gar keine Missverständnisse aufkommen. Der Text eine Aufzählung: „Hoodie, toothpaste, brush, foundation, Contact solution, mascara, lip mask, eye mask (…)“. Kim Gordon, einstige Mitbegründerin und Bassistin der legendären Art-Noise-Band Sonic Youth, will all das nicht mehr. Mit Wucht und Wut haut Gordon Dinge und Dienstleistungen in die Tonne, die uns der Kapitalismus für unerlässlich halten lässt.

Neben assoziativen Stream-of-Consciousness-Lyrics gibt es auch vergleichsweise explizite Texte wie in „I’m A Man“. In diesem Song eignet sich Gordon eine breitbeinig-hohle Mackerposition an und verhöhnt diese gleichzeitig: „Don’t call me toxic / just because I like your butt“, lässt Gordon ihren man sagen und bringt mit wenigen Worten aktuelle Debatten um sogenannte Incels (involuntary celibate / unfreiwillig enthaltsam) auf den Punkt. Fordernd-feministisch-physisch wird Gordon in Tracks wie „Shelf Warmer“ („… pet me on the inside“), „Psychedelic Orgasm“ oder „It’s Dark Inside“: „They don’t teach clit in school like they do lit / Pussy Riot / Pussy Galore“, auch hier baut sie aus wenigen hingeworfenen Worten ein ganzes Assoziationsuniversum. Die Musik dazu ist dunkel schlingernd und kraftvoll, auf fragmentierten Trap-Beats surfend, die Producer Justin Raisen ursprünglich Rapper Playboi Carti zugedacht hatte und dann als zu abgefahren für Carti befand. Aber genau richtig für die 70-jährige Kim Gordon, die auf ihrem zweiten Soloalbum „The Collective“ keinerlei Zugeständnisse macht.

Mit Raisen arbeitete Gordon schon 2019 bei ihrer ersten Soloplatte „No Home Record“ zusammen, jetzt führen sie die Kooperation weiter – zu zweit, ohne weitere Beteiligte. Sie habe keine Lust mehr auf quälende Abstimmungen mit Bandmitgliedern, sagte Gordon kürzlich in einem Interview. Über die dreißig Jahre mit Sonic Youth und ihre Rolle als „Girl In A Band“ schrieb Gordon 2015 im gleichnamigen Memoir, in dem sie auch ihre gescheiterte Ehe mit Bandkollege Thurston Moore verarbeitete. Gordon wollte nie die coole Rockmusikerin sein, als die sie in die Musikhistorie eingegangen ist. Eher sieht sie sich als Bildende Künstlerin, die auch Musik macht und auch schreibt. Eine Ikone der Underground-Kultur ist sie dennoch, vielleicht die bedeutendste Underground-Musikerin überhaupt, die sich nie damit begnügte, der weibliche Teil einer zu drei Vierteln männlichen Band zu sein. Mit Lydia Lunch gründete sie die No-Wave-Band Harry Crews, mit Bill Nace das Noise-Duo Body/Head Gordon, sie launchte die Kleidungsmarke X-Girl.

Bequem könnte sich Kim Gordon auf ihre Meriten zurückziehen, doch auf „The Collective“ präsentiert sich eine Künstlerin, die völlig unerschrocken neues Terrain betritt. Die zeitgenössische Klänge nicht adaptiert, sondern neu erfindet und mit voller Kraft in die Umlaufbahn schießt. Experimentelle, lauernd-verzerrte Gitarrensounds kombiniert mit dystopischem Trap, man hört Verweise auf Industrial der frühen Achtziger und Hyperpop der TikTok-Ära, ein scheinbares Chaos. Aber „The Collective“ hat ein Programm, einen deutlichen Plan. Die kaum tanz-, aber spürbaren Beats der ersten Albumhälfte zersplittern gegen Ende immer mehr, um sich im letzten Track „Dream Dollar“ in einem switch-off-Geräusch aufzulösen.

Trotz der Sperrigkeit wirkt der Sound warm und tief, nicht im Sinne modischer Wellness, sondern selbstbewusst. Sich-selbstbewusst. „The Collective“ entstand in Los Angeles, wo die in New York geborene Gordon aufwuchs. Mit diesem Album erschafft sie ihre eigene Version des California Dreaming: BYE BYE!

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Die Top Ten Gordon Songs von Christina Mohr: 

Sonic Youth: “Kool Thing”

Kim Gordon: “I Don’t Miss My Mind”

Ciccone Youth: “Into The Groove(y)”

Sonic Youth: “Teen Age Riot”

Sonic Youth: “Little Trouble Girl”

Kim Gordon: “Air Bnb”

Sonic Youth: “Youth Against Faschism”

Harry Crews: “Distopia”

Body/Head: “Abstract”

Kim Gordon: “BYE BYE”

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