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Travelling Kaput I – mit gesengten Schafsköpfen, Bjarni Daníel & Marc Wilde

„Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat?“, so eine der Fragen, die mir Kaput-Chefherausgeber Thomas Venker in seiner Reihe „Talking Musikjournalismus“ gestellt hatte.

Meine Antwort: „Ein Konzertbericht zu Otoboke Beaver. Die spielen bald in Washington. Schreibe ich gern für Kaput drüber.“ Als das Interview unter dem Titel „Alles, was ich brauche, ist das Dienstreiseformular“ online geht, reiche ich meinen Kostenvoranschlag ein: Frankfurt-Washington, Direktflug Lufthansa, vierstelliger Betrag. Prompt und ohne damit zu rechnen, erhalte ich eine Mail mit einer alternativen und weitaus günstigeren Reiseroute: Icelandair, mit Zwischenstopp in Reykjavík. „Das wäre klassischer Old School Musikjournalismus“, schreibt die Redaktion. „Wenn du dir den buchst, zahlt Kaput und druckt eine dreiteilige Reportage“. Ich lecke Blut: Island? War ich noch nie. Die verrückten Japanerinnen live auf der Bühne erleben, unbedingt! Und Washington? Da wohnt ein alter Freund von mir, den ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Deal.

 

Das Ganze liegt nun ein halbes Jahr zurück. Wie viele Blätter ich seitdem aus meiner IBM 1961 Selectric I gerissen und in die Ecke geworfen habe, da ich einfach nicht den richtigen Dreh gefunden habe, aus der Fülle des Materials einen ansprechenden Beitrag zu formen. Und je mehr die Zeit verstrich, umso mehr schwand die Überzeugung, überhaupt noch etwas abgeben zu können.

Einen Konzertbericht veröffentlichen, Monate nachdem das Ereignis stattgefunden hat – in einem Online-Magazin? Krasser können journalistische Standards nicht brechen. Aber im Sommerurlaub beschert mir die Freiheit der Berge den Perspektivwechsel. Ist nicht vielleicht gerade das der neue „Old School Musikjournalismus“: sich aus der Aktualitätsfalle befreien und das Erlebte aus der zeitlichen Distanz reflektieren, bevor man sich an die Schreibmaschine setzt? Einen Versuch ist es wert.

 

Island – mehr als ein Zwischenstopp

Ankunft Reykjavík. Es ist kalt und nieselt. Ich nehme den Flughafenbus und schaue aus dem Fenster. In nicht allzu weiter Entfernung ist der Rauch des Vulkans zu erkennen, der seit Wochen in Island vor sich hin brodelt.
Endstation BSÍ. Der am Stadtrand gelegene Busbahnhof dient als Verkehrszentrum mit Anbindung an die Innenstadt. Der erste Eindruck in dieser Parkplatzszenerie ist trist, der Himmel so grau wie der Beton. Irgendwo habe ich gelesen, dass es in dem Terminalgebäude das traditionelle Gericht Svið geben soll. Die gesengten Schafsköpfe lasse ich links liegen und steige in den Minibus um, der mich zum Hostel bringt. Das KEX liegt direkt am Meer und ist zugleich eine angesagte Konzertlocation. Beim Einchecken fühle ich mich jedoch um Jahrzehnte zurückversetzt; im Hintergrund läuft „What’s Up?“. Verschämt erinnere ich mich daran, dass ich Anfang der Neunziger selbst Kaufopfer dieser seelenlosen 4 Non Blondes-CD geworden war. Ungefähr so lange ist es auch her, dass ich das letzte Mal die Nacht mit fremden Menschen in Stockbetten verbracht habe. Die Vergangenheit ist meine Zukunft: Passend zur Mission des Old School Journalismus hatte ich mir ein Sechsbettzimmer mit Gemeinschaftsbad gebucht. Keine gute Entscheidung. Die nervtötenden Schnarchgeräusche aus dem Nachbarbett rauben mir zwei Nächte lang den Schlaf.

Am Abend findet mein erstes Interview statt. Ich bin im KEX mit Bjarni Daníel verabredet – den Kontakt hatte Ása Dýradóttir für mich hergestellt. Sie arbeitet für Reykjavík Music City, einer vom Kulturministerium geförderten Einrichtung, die im Rahmen des Stadtmarketings lokale Musiker*innen und Bands fördert. Angefunkt hatte ich sie aber in erster Linie, weil Ása Bassistin bei Mammút ist. Die Band hatte 2017 beim Haldern Pop Festival mein Herz erobert. Vor allem die Gesangsperformance von Katarina Morgensen hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck. Mit beschwörenden Gesten verwandelte sie das Spiegelzelt in einen mythischen Ort: Plötzlich tauchte in der tanzenden Menge ein junger Mann mit Pferdemaske auf, daneben ein Gnom, der mich aus roten Kaninchenaugen wissend angrinste.

Was bei der Recherche für meine Reise schnell deutlich wird: Kaum ein anderes Land hat eine so lebendige Musikszene auf kleinem Raum zu bieten wie Island. 390.000 Einwohner zählt die dünn besiedelte Insel, die über die weltweit höchste Dichte an Künstler*innen verfügen soll. Würde sich der Reichtum eines Landes nicht nach dem Bruttoinlandsprodukt, sondern nach dem kreativen Output bemessen, Island läge in den Statistiken weit vorne.
Dennoch – die Protagonisten im popkulturellen Spektrum lassen sich an einer Hand abzählen: Sigur Rós, Múm, Of Monsters and Men. Und natürlich Björk. Seit vielen Jahren strahlt ihr Werk weit über die Grenzen Islands hinaus. Reflexartig werden die vielen anderen weiblichen Stimmen aus Island mit Björk verglichen. Das ging auch der Sängerin von Mammút irgendwann auf die Nerven, wenngleich die Verbindungen nahe liegen: Morgensens Vater war Bassist bei KUKL, der Band, in der Björk noch vor ihrem Durchbruch mit den Sugarcubes gesungen und ihre ersten Konzerte außerhalb von Island gespielt hat. Unter den wenigen Leuten, die Mitte der Achtziger die beiden KUKL-Konzerte in Berlin besucht haben, war auch Max Goldt, der in seinem Buch „Wie man einen weißen Anzug trägt“ die Präsenz von Björk – auf und außerhalb Bühne – eindrucksvoll zur Sprache bringt.

Zurück in die Gegenwart: Der Verdacht liegt nahe, dass sich die heutige Generation isländischer Musikerinnen im Schatten dieses Glanzes nicht gesehen fühlt und irgendwann auf Distanz zur Übermutter Björk geht. Ich treffe allerdings während meines Aufenthaltes in Reykjavík niemanden, der nicht voller Achtung von ihr spricht. Auch mein Gesprächspartner im KEX nicht.

12 Tónar

Wer in die Grassroot-Szene Islands eintauchen möchte, sollte sich mit Bjarni Daníel treffen. Er ist nicht nur Sänger und Gitarrist bei Supersport!, eine der vielen aufstrebenden Indiebands, die regelmäßig im KEX oder in den beiden Plattenläden Smekkleysa und 12 Tónar auftreten, sondern auch Gründer von Post-Dreifing. Das DIY-Netzwerk bietet Nachwuchskünstler*innen unterschiedlicher Genres eine Plattform; regelmäßig werden Konzerte organisiert und Sampler herausgebracht, auf denen vielversprechende Acts ihre Stücke veröffentlichen.

12 Tónar

Außerdem ist Bjarni Host von zwei Radio-Shows für den isländischen Rundfunk. Es macht Spaß ihm zuzuhören: Ich lerne seine musikalischen Vorbilder, Newcomer und Nischenbands aus Island kennen. Er erzählt mir von Ægir, der in Reykjavík einen Kellerraum für Underground-Konzerte, Bandproben und Aufnahmen zur Verfügung stellt. Er spielt außerdem in verschiedenen Bands Schlagzeug und macht mit seinem Soloprojekt experimentelle Musik.

Ægirs letztes Album BRIDGES II ist in der Dunkelheit einer isländischen Winterwoche entstanden; es umfasst 21 Tracks und ist 10 Stunden lang. Wir reden über den Sound der isländischen Sprache; ich erfahre, dass Englisch für Bjarni auch trotz der womöglich besseren Aussichten auf internationalen Erfolg, keine Alternative ist, um sich künstlerisch auszudrücken.
Ob er mit Supersport! auch bereits in Deutschland aufgetreten ist, frage ich ihn als wir auf die Terrasse eine rauchen gehen. Ja, in Hamburg, Monheim am Rhein und Kusel. Hat er jetzt wirklich Kusel gesagt? Es ist nicht lange her, dass es mich selbst an diesen abgelegen Ort in der pfälzischen Provinz verschlagen hat, als ich Bands für Konzerte im dortigen Kulturzentrum Kinett vermittelt habe. Die Welt ist klein, nicht nur in Island.

Zum Abschluss bitte ich Bjarni, mir noch ein paar Songs auf meine Island-Playlist zu packen. Dann verabschieden wir uns. Draußen ist es dunkel. Als ich aus dem Fenster schaue, ist vom Meer nichts mehr zu sehen. Ein interessanteres Naturschauspiel bietet sich mir in unmittelbarer Entfernung vor einem wandfüllenden Bücherregal – dort wo sonst Bands auf kleiner Bühne ihre Konzerte spielen. Was hier auf Leinwand live übertragen wird, sind die Eruptionen von Fagradalsjfall, des seit einigen Monaten aktiven Vulkans, der in nur 40 Kilometern Entfernung Lava in die Luft speit.

Neugierig scrolle ich meine Playlist runter, um nachzusehen, was Bjarni mir hinterlassen hat. Sagt mir alles nichts. Das Stück einer Band namens Stirnir hat einen guinnessbuchverdächtigen Titel: „yureioskdcvnbvcxsodifhdnsdkcmv“. Es überrascht mich nicht, als ich herausfinde, dass Ægir hier Schlagzeug spielt. Der nächste Song heißt „My knee against kyriarchy“ und ist von BSÍ. Ich denke an meine Fahrt vom Flughafen und den gleichnamigen Busbahnhof zurück. Zeit ins Bett zu gehen. Noch ohne zu ahnen, was mich erwartet begebe ich mich auf den Weg ins Sechserzimmer. Sind in Island Menschenopfer nicht weiterhin gesellschaftlich akzeptierter Teil naturreligiöser Praktiken, frage ich mich mehr als einmal in schlafloser Nacht.

ENDE TEIL 1

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