Talking Musikjournalismus – Status Quo Vadis Musikjournalismus – Marc Wilde

Marc Wilde “Alles, was ich brauche, ist das Dienstreiseformular …”

Marc Wilde (beim (Halde)rn Pop

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast? (Wenn ja: um was drehte er sich? Was gefiel dir daran besonders?)

Marc Wilde: Ehrlich gesagt, nein. Das war Mitte der Achtziger. Die erste Zeitschrift, die ich regelmäßig gekauft habe, war Musikexpress /Sounds. Einige der Cover stehen mir noch vor Augen, konkrete Inhalte nicht. Später kamen die Spex, VISIONS und intro dazu. Am meisten haben mich immer die Platten- und Konzertkritiken interessiert und die diversen Listen, vor allem zum Ende des Jahres natürlich. Ich war also zwar ein regelmäßiger, aber eher oberflächlicher Leser. Von den längeren oder komplexeren Beiträgen wie in der Spex, in denen immer irgendetwas „verhandelt“ wurde, habe ich mich dennoch auch angesprochen gefühlt, wirklich zu Ende gelesen habe ich die jedoch nur selten. Ein Spex-Artikel ist aber definitiv hängen geblieben: Das war ein Artikel über Surrogat zu ihrem Album „Hell is Hell“ (2003), illustriert mit einem Titelbild, auf dem Patrick Wagner in Jesus-Pose ein Kreuz schleppt (Photo: Sebastian Meyer; Anm. d.Red). Die großspurige Inszenierung hat mich anscheinend losgelöst von der journalistischen Qualität des Artikels beeindruckt.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Vielleicht weniger ein Schlüsselerlebnis als der Moment in einer Lebensphase, in der ich mich beruflich neu ausgerichtet habe. Ein Wechsel in die Musikbranche war damit zwar nicht verbunden, aber ich habe vor nicht allzu langer Zeit die Entscheidung getroffen, meinen Job zu reduzieren, um mehr Zeit für die Familie zu haben und mich mehr mit dem zu beschäftigen, was mich erfüllt und Spaß macht. Musik hat dabei einen hohen Stellenwert. Mit einem privaten Küchenkonzert nahmen die Dinge ihren Lauf: Ich mochte den Künstler sehr, wir kamen ins Gespräch, die Idee kam auf, selbst Konzerte zu veranstalten. Wenig später habe ich das in die Tat umgesetzt und auch auf kleiner Flamme Booking gemacht. Nebenbei schrieb ich erste Rezensionen und stellte dann recht schnell fest, dass mir die Arbeit an journalistischen Formaten sehr viel mehr gefällt als für Konzertanfragen Mails an Clubs zu senden, die in aller Regelmäßigkeit ohne Reaktion im Off versandet sind.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Neben dem Prozess des Schreibens sind es vor allem zwei Dinge, die mich reizen: Zum einen die Recherche und die Möglichkeit, sich in ein Werk oder die Biografie vertieft einarbeiten zu können. Zum anderen im Gespräch mit Musiker*innen Hintergründe und Zusammenhänge aufzudecken und dies mit dem eigenen Text mitzuteilen. Sicher ist auch das eigene Fantum ein treibender Faktor sowie die Neugier, hinter die Kulissen zu blicken.

Guter Musikjournalismus bewegt sich vermutlich genau an der Stelle, wo Nähe und Distanz miteinander in Spannung stehen. Auf der einen Seite glühen Texte ja, wenn sie von Leidenschaft und Emotion durchzogen sind, auf der anderen Seite sollten journalistische Standards wie Neutralität nicht über Bord geworfen werden. Dass dies gerade dann, wenn man gern nah dran und mit dabei ist, eine Gratwanderung darstellt, hat Linus Volkmann zuletzt in seiner ME Popkolumne Linus Volkmanns Popkolumne: Ärger mit Echt, Faber und Helge Schneider (musikexpress.de) sehr ehrlich beschrieben.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Es ist zwar kein Text, sondern die Folge eines Podcasts, aber das Gespräch von Jan Müller, das er Ende 2020 mit Tilman Rossmy Tilman Rossmy – Reflektor – Podcast (podigee.io) geführt hat, hat mich in vieler Hinsicht beeindruckt und letztlich auch dazu inspiriert, selbst ein Interview mit ihm zu führen.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein?

Von „Werkskatalog“ möchte ich nicht sprechen, dafür bin ich noch nicht lang genug dabei. Die meiste Zeit und viel Herzblut ist aber in meine Serie „NDW – Die Zukunft ist Vergangenheit“ geflossen, für die ich letztes Jahr eine Nominierung beim „International Music Journalism Award“ erhalten habe. Ich habe mich auch deshalb sehr über die Auszeichnung gefreut, weil mein Interview mit Annette Benjamin  das erste gewesen ist, das ich überhaupt geführt habe.

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Ich habe über einen langen Zeitraum Artikel in Musikzeitschriften gelesen, ohne auf den Autorennamen zu achten. Erst seitdem ich selbst schreibe, habe ich da einen anderen Blick drauf, nehme mehr war, auch außerhalb von Print.

Den Reflektor-Podcast habe ich bereits erwähnt. Ich mag das in die Tiefe gehende Format und man merkt, wie intensiv sich Jan Müller vorbereitet. Dadurch, dass er auf Augenhöhe mit den Musiker*innen sprechen kann, stellt er auch noch einmal eine ganz andere Nähe her.

Jens Balzer möchte ich nennen, ich lese gerade sein Buch „High Energy“, wo er mit popkulturellen Analysen zu den Achtzigern einen weiten Bogen spannt und das Jahrzehnt auch gesellschaftspolitisch einordnet.

Eine schöne Art zu schreiben hat, wie ich finde, auch Rebecca Spilker, deren Kritiken im Musikexpress ich gerne lese und die kürzlich im Kaput-Magazin einen starken, sehr persönlichen Text zu Geschlecht- und Machtverhältnissen geschrieben hat.

Last not least: Linus Volkmann. Ich schätze die Haltung und mag den Humor, der aus seinen Texten spricht. Und den Stil: Wie er es über die Jahre hinweg geschafft hat, seine fantasiereichen Sprachbilder frei von den Klischees des Musik(kritiker)jargons zu halten, weiß der Teufel.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Man sieht ja, dass die klassischen Magazine an Relevanz und Reichweite verloren haben und in der Musikbranche wohl nur noch die allerwenigsten von Veröffentlichungen im Printbereich allein leben können. Also muss man sich breiter aufstellen und erfinderisch sein: sich für andere Formate und Kanäle öffnen, moderieren und Podcasts machen, es mit Newslettern oder Abo-Plattformen probieren usw. Oder man deckt über die Musik hinaus ein breiteres Themenspektrum ab. Damit kann vielleicht auch Kreativität freigesetzt werden, aber es ist natürlich trotzdem bedauerlich, dass Musikjournalisten nicht mehr so einfach wie zu goldenen VIVA-Zeiten ins Flugzeug gesetzt werden, um Interviews mit ausländischen Stars zu führen. Digitalisierung und Zoom sind natürlich auch schuld.

Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat? Kaput biete sich im Rahmen der Serie gerne dafür an.

Unveröffentlicht ist der Beitrag nicht, aber in meinem Kopf. Ein Konzertbericht zu Otoboke Beaver, eine bunt schillernde japanische Punkband, all female. Die spielen bald in Washington. Schreibe ich gern für Kaput drüber. Alles, was ich brauche, ist das Dienstreiseformular …

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Keine Ahnung, zu TikTok kann ich nichts sagen, da war ich noch nie. Instagram erscheint mir ein geeigneter Kanal zu sein, um das Interesse von Leser*innen zu wecken oder journalistische Beiträge in anderen Medien anzuteasern. Das ist aber vermutlich viel zu fantasielos gedacht. Was mir als eigenes Format auf Instagram gefällt, sind die Coverlover-Clips von Nilz Bokelberg, dem ich sowieso sehr gern zuhöre – auch in seinem NBE-Podcast.

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

Die Frage hat sich für mich bisher nicht gestellt. Mit dem Angebot von Amazon-Gutscheinen (Wert: 10 Euro pro Plattenkritik) eines Online-Musikportals schien mir jedenfalls keine aussichtsreiche Berufsoption verbunden gewesen zu sein. Geschrieben habe ich dennoch. Man nimmt ja vieles in Kauf, wenn einem die „Arbeit“ Spaß macht, aber als dann auch die Kommunikation mit dem Chef-Redakteur anstrengend wurde, habe ich das sehr schnell wieder sein gelassen.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

Es gibt für mich nichts zu bereuen.

Letzter musikjournalistische Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat. 

Da ich Fan von langen Formaten bin: Der Podcast über Tocotronic “This Band is Tocotronic” (Podcast in der ARD Audiothek von Stefanie Groth) hat mir zuletzt sehr gut gefallen, die neun Folgen habe ich in einem Rutsch weggehört.

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