NDW - Die Zukunft ist Vergangenheit (Part 3)

“Dieses Unterwürfige habe ich immer abgelehnt” – Annette Benjamin im Interview

Jugendkultur besitzt etwas Universelles. Den legendären Abfahrt-Song “Rock’n’Roll Freitag” von 1979 müsste man mit ein paar neuen Begriffen und aktuellen Sounds versehen, aber vom Feeling her könnte dazu noch jede Abifete ihren Schulhof abreißen. Doch jenes Hans-A-Plast-Stück ist nicht nur Hedonismus pur sondern steht auch für feministische Praxis und Gegenkultur. Diese Aspekte hat sich Sängerin Annette Benjamin über die Jahrzehnte bewahrt und kehrte damit unlängst zurück ins hiesige Pop-Geschehen. Unser Autor Marc Wilde sprach mit einer der interessantesten Wiedergängerinnen der Neuzeit.

Hans-A-Plast der Frühphase. Foto: Ilse Ruppert

Annette, wir treffen uns heute in Berlin. Was verbindest Du mit der Stadt? Seid Ihr mit Hans-A-Plast damals auch in Westberlin aufgetreten?

ANNETTE BENJAMIN Ein paar Mal, ja. Auch im SO36. Dann haben wir mal in einer Mensa gespielt. Die Auftritte habe ich in guter Erinnerung. Berliner Fans waren toll. Nach einem Konzert übernachteten wir in einem besetzten Haus. Eine ganze Etage ein einziger großer Raum, nichts war abgetrennt. Ziemlich zentral stand eine riesige Badewanne. Und dann war da auch ein riesengroßes Bett, in dem wir mit mehreren übernachtet haben. Als Souvenir gab’s Filzläuse.

Das klingt aufregend, auch wenn ich hoffe, dass Dein derzeitiger Aufenthalt Dir etwas mehr Komfort bietet. Du bist gerade hier wegen eines musikalischen Projekts. Magst Du uns etwas darüber verraten?

Ein bisschen: Max Gruber (Drangsal) und ich haben gemeinsam mit den wunderbaren Musikern Julian Knoth (Die Nerven), Thomas Götz (Beatsteaks) und Charlotte Brandi fünf Songs aufgenommen: Max Rieger ist der Produzent – eine spannende Kollaboration, in der sehr viel Energie drinsteckt.

Hansa-A-Plast war eine der ersten deutschen Punkbands mit lauter, weiblicher Stimme und deutschen Texten. Wieviel Punk ist noch in dem aktuellen Projekt enthalten?

Punk war hierfür nur der Ursprung. Wir sind jetzt melodischer als früher. Ich mag halt melodische Gesangsführung, da ich klassischen Liedgesang mit entsprechender Stimmführung und dazugehörigem Ausdruck sehr schätze.

Hörst Du zurzeit noch Punkmusik?

Ja, am liebsten, wenn Frauen am Mikrophon stehen. Ich liebe zum Beispiel The toten Crackhuren im Kofferraum oder Amyl and The Sniffers. Aber auch Die Heiterkeit, Shirley Holmes, Fritzi Ernst, Ätna, Bärchen & die Milchbubies, Wet Leg… Ist nicht alles Punk, aber egal. Wie definiert sich heute eigentlich Punkmusik? Das fand ich schon vor 35 Jahren schwierig.

Du hast drei Töchter. Wann haben die eigentlich rausgefunden, dass Du eine Punkvergangenheit hast?

Da waren sie alle so zwischen 13 und 15 Jahre alt. Meine älteste Tochter interessiert sich am meisten für diese Art von Musik. Irgendwann ist sie in Berührung mit der Gothic-Szene gekommen und hat die entsprechenden Leute kennen gelernt, die dann auch meinen musikalischen Hintergrund einzuordnen wussten und zu ihr sagten: „Was, Du bist die Tochter der Hans-A-Plast-Sängerin?“. Später kam es dann sogar zu einer Zusammenarbeit mit der Gothic-Band Bloody, Dead And Sexy, mit der ich 2005 „Monstertanz“ neu aufgenommen habe.

Fotograf unbekannt

Wie rebelliert man eigentlich gegen eine „Punkmutter“ – BWL studieren oder Investmentbankerin werden?

Noch schlimmer: Man studiert Mathematik. Und ist nicht ganz so planlos wie die Mutter. Glücklicherweise haben die Töchter mich aber auch als berufstätige Frau und als Sängerin wahrgenommen. Von klein auf gab‘s ja den „Monstertanz“ zum Einschlafen. Angstfreie Erziehung (haha).

Und gab es eine Reaktion auf die Texte, die bei Hans-A-Plast ja nicht immer ganz jugendfrei waren?

Das war nur für die erste Tochter irritierend. Für die zwei weiteren nicht mehr. Sie fanden die Sprache zwar ungewöhnlich für ihre Mutter, aber nicht wirklich shocking, denn inzwischen lag die Punkmusik weit in der Vergangenheit. Zuhause haben wir Wert auf eine gute Sprache gelegt, aber Kinder können das sowieso gut auseinanderhalten, die Umgangssprache auf dem Schulhof und den sprachlichen Umgang innerhalb der Familie. Musikalisch sind sie mit Techno und Hip-Hop aufgewachsen – da war das mit den „schlimmen“ Hans-A-Plast-Texten nicht mehr so dramatisch.

Nach Geburt Deiner Tochter kam es Anfang 1984 zur Auflösung der Band. Dann war es lange Zeit still um Hans-A-Plast. Bis 2018, als Du beim Höhnie-Festival zusammen mit der Band Razor Smilez aufgetreten bist. Was hat Dich dazu motiviert, die Songs wieder aufleben zu lassen?

Das fing eigentlich schon an, als 2005 der Kontakt zu Bloody, Dead And Sexy zustande kam. Da habe ich mir unsere alten Sachen wieder angehört und fand die nach wie vor passend, was mich zunächst selbst etwas gewundert hatte, weil sie vor so langer Zeit entstanden sind. Und ein bisschen spürte ich diese Faszination wieder. In der Adam Riese Show in Münster wurde ich zu meiner damaligen Zeit mit Hans-A-Plast interviewt. Dadurch habe ich mich wieder viel mit diesem Teil meiner Jugend beschäftigt und hatte richtig Sehnsucht, die Songs zu spielen.

Annette Benjamin mit Slime. Foto: Tim Hackemann

Gibt es eigentlich Songs, zu denen Du heute eine gewisse Distanz hast, musikalisch oder textlich?

Ich könnte, glaube ich, fast alles noch einmal singen. Eine Zeit lang war ich unsicher bei „Polizeiknüppel“, aber auch der Text greift ja auf persönliche Erfahrungen zurück. Wie bei den meisten Texten von uns. Und damit bleiben sie für mich auch weiterhin relevant.

Man kann dieser Tage wieder eine ganze Reihe an Bands der ersten Stunde der Neuen Deutschen Welle oder aus der Frühzeit deutschen Punks beobachten, die nach Jahren der Pause wieder aktiv sind. Hast Du eine Erklärung dafür, warum Musik aus dieser Zeit wieder en vogue zu sein scheint?

Also bei mir selbst ist das sehr einfach: Ich bin gefragt worden und hab’s dann einfach gemacht. Das ist für mich eh so eine generelle Haltung, die sich durch mein Leben zieht: einfach ausprobieren, machen. Und wie das bei den anderen ist? Keine Ahnung. Vielleicht ist es dieses Gefühl, dass nicht alles so perfekt sein muss und man trotzdem Spaß haben kann. Und meine Generation verbindet viel mit dieser Zeit, Anfang der Achtziger. Das war unsere Jugend. Und die Musik drückte eine bestimmte Einstellung zum Leben aus. Die damalige Kreativität ist nicht verloren gegangen, glaube ich, war nur eine Zeit lang verschüttet.

Vor nicht allzu langer Zeit ist auch die DVD zu Eurem Rockpalast-Auftritt aus dem Jahr 1980 erschienen. Wie kam es dazu und welche Erinnerungen hast Du an den Auftritt?

Ja, das war eine super Idee, diese DVD zu veröffentlichen. Viele Leute hatten sich immer wieder mal nach diesem Auftritt erkundigt, auch bei mir. Und irgendwann hat der Hannoveraner Manfred Schütz, Chef des Musikverlags MIG, die Rechte gekauft und uns gefragt, ob wir mit einer Veröffentlichung einverstanden wären. Da haben wir sofort zugestimmt, weil wir diesen Auftritt im Rockpalast als äußerst lustig in Erinnerung hatten. Der war wirklich wundervoll und chaotisch. Es war unser erster Live-Fernsehauftritt.

War es nicht eher so, dass Rockpalast „bei Euch zu Gast“ war …?

…ja, so habe ich das an dem Abend angekündigt: „Der Rockpalast zu Gast bei Hans-A-Plast“. Und dann in die Kamera geschaut und meine Mutter gegrüßt. Also, wir waren schon ganz schön stolz. Und wir konnten unser Glück kaum fassen, weil wir zwar schon Songs hatten, aber eigentlich nicht genug Material und deshalb etwas Druck verspürten, die Sendezeit zu füllen. Dazu die Fans, die wir ohne Wissen der Fernsehleute durch die Studio-Hintertür hereingelassen haben.

Als Musiker ist man ja auch immer selbst Fan und orientiert sich an Vorbildern. Was war für Dich ein besonders prägender Einfluss?

Sicherlich waren X-Ray Spex prägend für mich, die ich bei einem längeren London-Aufenthalt 1978 live gesehen habe. Poly Styrene, die Sängerin, war ein besonderes Vorbild, in ihr habe ich mich gesehen. Die war etwas rundlich, ein Kraftpaket. Für mich war diese Begegnung jedenfalls ein echtes Erweckungserlebnis. Ich habe die Frau gesehen und mir gesagt, so etwas muss ich auch machen. Ich hatte aber in England keine Band und keine Ahnung von nichts. Mir war dennoch sofort klar: das ist es. Ich muss Songs schreiben, auftreten, das ist der Hammer.

Gibt es im Zusammenhang mit der Frage nach den Referenzen eigentlich einen Vergleich, der häufiger genannt wird, mit dem Du aber selbst wenig anfangen kannst?

Ab und zu wurden wir mit der Nina Hagen Band verglichen. Darin kann ich uns aber ja so gar nicht wiederfinden. Weil wir einfach keine Rockband waren. Und ich habe auch ganz anders gesungen.

Du hast schon relativ früh das Elternhaus verlassen und bist dann eine Zeit lang in der Londoner Szene abgetaucht. Was war der Auslöser dafür?

Ich habe unsere Wohnung mit 16 verlassen. Ich wollte schon weg aus Hannover, seit ich denken kann. Ich wollte reisen, ferne Länder sehen, und deshalb bin ich überhaupt erst in den Mädchenchor Hannover eingetreten. Dann organisierte meine Mutter ein Austauschjahr für mich in den USA. Als Austauschschülerin entwickelte ich aber eine ausgeprägte Abneigung gegenüber dem Leben in der Gastfamilie. High School hieß: Gras rauchen, Southern Comfort trinken, Langeweile. Das Wichtigste war rückblickend, dass ich mit Texten und Songs von Patti Smith in Berührung gekommen bin. Die fand ich cool. Als ich aus den USA wieder zurückkam, gab es leider wieder Streit zu Hause. Ich bin dann erst nach Amsterdam getrampt, mit einer Freundin, war dort ein halbes Jahr. Zunächst jobbte ich in einer Jugendherberge und dann im Hotel als Zimmermädchen. Und bin dann anschließend mit Bekannten in London gelandet, in einer WG. Das war aber eher Zufall.

Du warst in London zu einem Zeitpunkt unterwegs, als es mit der Punkbewegung gerade losging, richtig?

Ja, das war Ende 1977, Anfang 1978. Ich bin dann auch mit meinen Freunden öfter in Pubs gegangen. Elvis Costello und Ian Dury traten dort auf, bevor sie bekannt wurden. Ich habe tolle Bands gesehen wie UB40 und eben X-Ray-Spex. Im Vortex Club. Jedenfalls war ich schnell in der Punkszene. Und dann ging dieser Streit mit den Teddy-Boys los. Also wir mussten immer wahnsinnig aufpassen, dass wir von denen nicht verkloppt werden. Die Sache mit der Musik hat mich aber nicht losgelassen. Auf dem X-Ray-Spex-Konzert hatte ich The Slits getroffen, ein weiteres Vorbild. In England gab es eine ganz starke Frauen-Szene innerhalb der Punkbewegung. Das hat mir Mut gemacht und als ich wieder zurück in Deutschland war, gründete ich eine Punkband an meiner neuen Schule. Wir hießen Slime, nicht zu verwechseln mit den heutigen Slime. Wir haben ein bisschen Sex Pistols nachgespielt, einen ersten deutschen Song komponiert und sind mit diesem Programm in unserer Schule aufgetreten – und in Hannover im Jugendzentrum Badenstedt.

Und wie kam dann der Kontakt zu Hans-A-Plast zustande? Die gab es zu dem Zeitpunkt ja schon.

Genau, das war tatsächlich nach diesem Konzert mit Slime in Badenstedt. Dort spielte auch eine Band aus der „Anti-Atomkraft“-Szene. Das waren zwei Frauen und zwei Männer, die miteinander befreundet waren. Die eigentliche Sängerin war die Schlagzeugerin, Bettina. Sie fragte mich, ob ich als Frontfrau singen würde, damit sie sich besser auf ihr Schlagzeug konzentrieren könnte. Drei Songtexte wurden mir in die Hand gedrückt: „Lederhosentyp“, „Rock’n’Roll Freitag“ und „Hau ab, du stinkst“. Ich war aufgeregt. Es fühlte sich an wie ein Vorstellungsgespräch. Wir spielten in einem Bunker-Proberaum, und ich dachte mir, was ist das denn für ein kitschiger Text: „Du bist so ein geiler Lederhosentyp“ – nee, echt nicht! Und dann habe ich das einfach rausgeschrien und ironisch interpretiert, so dass es eine andere Bedeutung bekam. Und allen hat es total gut gefallen. Auch „Rock’n’Roll Freitag“ und „Hau ab“ gingen gut ab. Wir merkten: es passt.

Habt Ihr Euch eigentlich selber als Punk-Band definiert?

Die Zuordnung fiel uns schwer. Also wir haben uns zwar schon im Punk verortet, aber Punk war damals auch viel breiter aufgestellt. Punk konnte damals alles Mögliche sein. Es ging vor allen Dingen um eine radikale Ablehnung der Spießer- und Hippie-Kultur. Ich konnte mich mit den Hippies überhaupt nicht identifizieren. Marihuana-Rauchen oder sich mit Heroin abzuschießen, fand ich schrecklich. Das war ja damals eine sehr drogenbewegte Zeit. Drogen waren einfach überall, ob Speed oder was auch immer, alles war irgendwie dabei. Für mich war Kreativität die eigentliche Droge. Die Musik hat mich eingenommen, so dass alles andere unwichtig war.

Wie wurdet Ihr denn innerhalb der Szene wahrgenommen?

Das war durchaus divers. Man warf Bier oder Flaschen und spuckte, wenn die Band nicht dem eigenen Geschmack entsprach. „Echte“ Männer bevorzugten „echte“ Punk-Bands mit „Street-Credibility“ – sehr wichtig! Bloß keinen „Kommerzscheiß“. Für viele linke Konzertgänger war Hans-A-Plast zu kommerziell – Männer und Frauen in einer Band, die alles in Eigenregie aufbauten, ein eigenes Label hatten und einigermaßen davon leben konnten, standen Anfang der Achtziger immer auch unter Verdacht, kapitalistische Ziele zu verfolgen. Unsere wirklichen Fans reisten uns aber glücklicherweise von Konzert zu Konzert hinterher und klebten Pflaster auf ihre Lederjacken. Ich fühlte mich manchmal verpflichtet, unsere Songs unterschiedlich anzumoderieren, weil vorne immer die Fans standen, die uns schon häufig gesehen hatten.

Was war denn Dein erstes „richtiges“ Konzert mit Hans-A-Plast? War das schon in der Hamburger Markthalle mit den Düsseldorfer Bands (Male, Mittagspause, DAF)? Das Festival soll ja legendär gewesen sein…

Das war eine große Party, und die Bands untereinander haben sich gut verstanden. Wobei es die experimentelleren Bands an dem Abend mal wieder schwerer hatten. Einige sind ausgebuht oder auch beworfen worden. Und für uns war es tatsächlich der allererste größere Auftritt, zumindest außerhalb von Hannover. Wir waren natürlich alle super aufgeregt. Und als wir dann auf die Bühne kamen, ging auch erstmal das Gegröle los: „Die Weiber. Ausziehen! Ausziehen!“ Aber ich hatte das Mikrofon in der Hand und konterte mit: „Ja, dann kommt doch her und zieht euch aus. Habe ich euch richtig verstanden?“ – so ungefähr. „Kommt auf die Bühne und dann denke ich mal darüber nach, was ich mit euch mache…“. Was ich daraus gelernt habe: Der Dialog mit dem Publikum ist sehr wichtig. Es war jedenfalls ein erfolgreicher Auftritt in Hamburg. Wir hatten endlich unsere paar Songs einem breiteren Publikum vorgespielt. Mit allem, was wir hatten, haben wir uns da reingeschmissen.

Foto: ar/gee gleim

Du hast die Stimmung zwischen den Bands als freundlich beschrieben. Das scheint aber nicht immer der Fall gewesen zu sein. Die Hannoveraner Szene galt als eher studentisch geprägt. Wie sah denn der Austausch mit Bands außerhalb Hannovers aus? Oder ist man dann doch eher für sich geblieben?

Also wir waren in Hannover befreundet mit den Bands unseres Labels, wie zum Beispiel Der Moderne Man und Bärchen und die Milchbubis. Ich bewundere heute noch deren Sängerin Annette. Beide Bands sind übrigens wieder aktiv. Weitere waren Rotzkotz, die 39 Clocks und die Cretins. Wir kamen recht gut miteinander aus, weil es eine gewisse Hannover-Verbundenheit gab. Mit den anderen Bands aus Düsseldorf, Hamburg und Berlin hatten wir nicht so viel zu tun. Wobei doch, zu den Düsseldorfern waren die Beziehungen freundlich. Wir sind einmal im Ratinger Hof aufgetreten und haben mit Musikern von Fehlfarben und Der Plan nach unserem Auftritt improvisiert. Der inzwischen verstorbene Szene-Fotograf Richard Gleim hat das auf seinen legendären Bildern festgehalten.

Hans-A-Plast 1980 auf dem Cover der Sounds. Foto: Ilse Ruppert

unter sich ausgemacht. Man muss ja bedenken, dass es damals noch keine sozialen Netzwerke oder Handys gab. Das Allermeiste wurde im „Jetzt“ geklärt. Natürlich konnte man vom Festnetz aus telefonieren oder eine Telefonzelle aufsuchen, um jemanden zu haten, vielleicht hasserfüllte Briefe schreiben, aber das dauerte sehr lange. Ein Austausch fand über die Fanzines statt und Musik-Magazine wie das Sounds. Deren Musikkritiker wurden gefürchtet.

Kommen wir zum ersten Album. Ihr seid nach der Veröffentlichung relativ schnell durchgestartet. Die Plattenverkäufe waren gut. Ihr habt die Labelarbeit und den Vertrieb zunächst selbst in die Hand genommen und dann, wie es heißt, auch Angebote von größeren Plattenfirmen erhalten. Stimmt das?

Ja, da gab es ein Angebot, ich glaube 1982. Es hieß: „die haben jetzt einen Deal mit der Plattenindustrie“. Aber so weit ist es nie gekommen…

Warum nicht? Habt Ihr Euch dagegen verwehrt?

Wir haben ja letztlich ein Label gegründet und einen eigenen Vertrieb gemacht, weil wir die Kontrolle über die Musik behalten wollten. Das hatten wir alles selbst aufgebaut, und da waren wir stolz drauf. Und dann kam das Angebot von der WEA. Die wollten uns einen Deal anbieten, worauf wir aber keine Lust hatten. Also hat Hans-A-Plast angefangen, absurde Forderungen zu stellen und die Verhandlungen in die Länge gezogen. Die Band hatte einen Hund, der gehörte zur Familie von Bettina und Micha. Wir forderten einen ganz besonderen Fressnapf von der Plattenfirma – aus Gold, glaube ich. Und das war es dann. Danach haben wir nie wieder was von der WEA gehört.

Das klingt nach einem großen Sinn für Humor. Ich finde ja sowieso, dass man Eurer Musik den Spaß anhört – und dies auch im Unterschied zu einigen anderen Bands aus der Zeit, die ihren straighten Anspruch mit einer gewissen Ernsthaftigkeit vor sich hergetragen haben. Womit ich Euch nun aber auch nicht in so eine Art Fun-Punk-Ecke rücken möchte…

Nein, es war uns immer ernst.

Ich beziehe mich auch eher auf die verschiedenen Soundelemente, die in den Songs drinstecken, das Spielerische in den Kompositionen und Deinen eigenwilligen Gesangsstil. Das ist jedenfalls deutlich anders als Punkmusik mit drei Akkorden.

Mit drei Akkorden haben wir angefangen. Mit der Zeit entwickelte sich die Band musikalisch weiter. Und wenn wir Platten aufgenommen haben, wurde im Studio noch viel ausgeschmückt, um eine ganze LP füllen zu können.

Das legendäre Cover Eures ersten Albums hat ja einen ernsten oder tragischen Hintergrund. Das Bild mit der Ratte hat sich jedenfalls vielen ins Gedächtnis „eingebrannt“. Wer hat sich das ausgedacht?

Die Idee mit der brennenden Ratte hatte der inzwischen verstorbene Uli Stein, ein berühmter Hannoveraner Comic-Zeichner. Der kam, glaube ich, auch aus der friedensbewegten Szene. Und für ihn stand die brennende Ratte für Radikalität. Und einer unserer Songs, „(Was tun, wenn) Es brennt“, der spiegelt das wider: die Zerstörung der Gesellschaft, eine Welt in Flammen. Man muss auch zum geschichtlichen Hintergrund wissen, dass sich die Welt damals im Kalten Krieg befand. Wir nahmen an, dass bald ein Atomkrieg ausbrechen würde. Dann gab es die RAF, in der Radikalität ja ebenfalls eine besondere Rolle spielte.

Die Ratte brannte ja wirklich, wenn man der Geschichte Glauben schenken darf. Musste sie für Eurer Cover tatsächlich ihr Leben lassen?

Nun, sie ist angezündet worden. Nicht schön.

Habt ihr dem Tieropfer live beigewohnt?

Nein, es passierte in aller Stille.

Was auch auffällt und hervorsticht sind die Texte, in denen es wiederkehrende Themen gibt: Beziehungen und Sex spielen eine zentrale Rolle, aber auch das damalige gesellschaftliche Klima. Wobei die Auseinandersetzung nicht immer direkt, sondern eher bildhaft stattfindet. Den „Polizeiknüppel“ hast Du ja bereits erwähnt. Würdest du sagen, dass diese Herangehensweise typisch für Eure Texte gewesen ist?

Ja. Ich wollte textlich nie zu platt klingen. Ich mag es nicht, stumpf die Wirklichkeit abzubilden und Parolen zu schmettern. Und andererseits führe ich Parolen in gewisser Weise ad absurdum, wenn ich singe: „ich bin ein Polizeiknüppel“, „Ich zünd mich an“ oder „Ich will nicht glücklich sein“. Ich formuliere gerne auf diese Art und Weise.

Ein weiteres Hauptthema bezieht sich auf Geschlechterverhältnisse und Rollenklischees. Es gibt ja auf der einen Seite das Stereotyp, Frauen seien zurückhaltend und schüchtern und die entsprechende Erwartungshaltung, hübsch und attraktiv zu sein und es möglichst auch dabei zu belassen. Das männliche Pendant ist dann auf der anderen Seite für das Draufgängerische zuständig. Männer dürfen sich nehmen, was sie wollen …

… ja, und genau dem wollten wir etwas entgegensetzen. Als Frau wollte ich wissen, wie sich das anfühlt, mächtig zu sein, frei und unabhängig. Und draufgängerisch.

Und diese Form der Selbstermächtigung, die war doch ziemlich neu, schätze ich. Klar, es gab die klassische Frauenbewegung, aber das war ja eine ganz andere Form des Protests, von der Ihr Euch eher abgrenzen wolltet, oder?

Ja, das kann man schon sagen. Wir identifizierten uns mit einigen Zielen der Frauenbewegung, zum Beispiel das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die Abschaffung des Paragrafen 218. Also die Forderungen waren das eine, aber das andere war eben dieser Lila-Latzhosen-Look. Diese langen Haare, dieses Joni Mitchell-mäßige. Das war so ermüdend, und ich empfand das als zu eindimensional. Die Gänseblümchen im Haar, diese süßen Stimmchen, der bewundernde Blick von unten nach oben, so wie bei Lady Di. Das war doch nun auch wieder genauso, wie die Männer es erwartet haben. Dieses Unterwürfige habe ich immer abgelehnt.

Frauen sind ja auch weiterhin in bestimmten Musikbereichen wie Punk, Metal, Rock nicht so repräsentiert wie Männer. Hast Du die Diskussionen, die es vor einiger Zeit um #PunkToo gegeben hat, verfolgt?

Ja, schon. #PunkToo ist absolut wichtig, weil es den Blick auf die eigene Szene richtet. Die Männer müssen ihr Verhalten reflektieren, nicht die Frauen. Wenn junge Frauen auf Konzerten Übergriffen ausgesetzt sind, sollte das Konzert sofort unterbrochen werden. Bei einem Drangsal-Konzert in München habe ich das so vor ein paar Jahren miterlebt. Von der Bühne herunter wurde auf den Aggressor aufmerksam gemacht. In der heutigen Musikszene sind wohl immer noch sehr viel mehr Männer am Start. Deshalb gilt meine Hochachtung allen Frauen, die in der Musikbranche tätig sind, erst recht den Frauen, die es mit ihrer Band auf eine Festivalbühne schaffen. Letztendlich braucht es verantwortungsvolle Männer, die die Musik feiern und nicht auf Anmache oder Demütigung aus sind. Veränderungen passieren leider nur langsam.

Noch einmal zurück zu den Texten. Wie wichtig war das für Dich in der eigenen Sprache zu singen? Auch das war ja eine Errungenschaft.

Unglaublich wichtig, das musste sein. Ich habe anfangs englisch gesungen, weil ich vorher nie Texte geschrieben hatte und dann, als ich einmal auf Deutsch damit anfing, habe ich das beibehalten. Der entscheidende Punkt war: Ich wollte, dass unsere Fans uns verstehen. Wer sang denn damals deutsch? Okay, da war Schlager, dann Udo Lindenberg. Bloß über das, was mich bewegte, sang niemand. Also musste ich selbst Texte verfassen. Musikalisch einfach alles sagen zu können, wozu ich Lust hatte und dabei verstanden zu werden, ist großartig, ein super Gefühl. Das geht vermutlich jedem Künstler so.

Wenn ich mal einen deutschen Text aus dieser Zeit zitieren darf: „Unterdrücken kannst du mich nicht. Ich bin nicht deine Fickmaschine. Spritz-Spritz, das ist ein Witz. Jaja, Schätzchen! Wir müssen auseinandergehen. Ciao-ciao, du alte Sau!“ Hast Du eine Ahnung, von wem der ist?

Also, das könnte zum Beispiel von Östro 430 sein, weil die auch sehr direkt formuliert haben.

Nein, der ist von Nina Hagen. Ich habe den Text vor allem deshalb zitiert, weil sie ja von vielen Punks damals nicht als zur Szene zugehörig betrachtet wurde. Sie selbst hat sich durchaus im Punk verortet, aber es hieß, die macht „Punk-Rock für die alten Spießer“ (Jackie Eldorado).

Das teile ich nur bedingt. Ich halte Nina Hagen für eine sehr kreative Frau, musikalisch war das super gemacht. Bloß damals, als ich noch jung war und sie im Verhältnis ein klein wenig älter, da hat sie eine Band gehabt, Lokomotive Kreuzberg, die kamen aus dem Hard-Rock. Und diese Art Bands waren „in unseren Kreisen“ nicht so beliebt, weil sie alte Profis waren. Ihnen wurde unterstellt, nur Kohle machen zu wollen, was ja schon im Ansatz als Verrat galt. Und die Mitglieder ihrer Band waren typische…

… „Frickel-Heinis“?

Ja, es war halt für uns nicht stimmig, es passte letztendlich auch nicht in das DIY-Gefühl rein. Die Punks, die eigentlich gegen Klischees waren, haben leider selbst zu den Klischees über Rockmusiker oder das eigene Genre beigetragen.

Bevor wir zum Ende kommen, Annette, eine Sache wollte ich unbedingt noch fragen: Wie war das jetzt mit Udo Lindeberg? Ist an dem Gerücht was dran, dass ihr euch mal geküsst habt?

Nicht so ganz, er hat mich geküsst. Weil ich ihm eine rote Rose an die Bühne gebracht habe. Ich war 13 Jahre alt, als er in der Stadthalle in Hannover aufgetreten ist. Meine Mutter und ich haben eifrig seine Lieder mitgesungen. Ich war immer schon ein begeisterungsfähiger Mensch, und so bin ich dann zum Bühnenrand und habe ihm diese Blume hingehalten. Und er hat sie genommen, sich runter gebeugt und mir einen Kuss gegeben.

Ich sehe das direkt vor meinem inneren Auge: Du so mit diesem unterwürfigen Blick „von unten nach oben“ zu Udo Lindenberg emporschauend …

Bitte keinen Neid. Nun, mit 13 Jahren fand ihn halt total toll. Ich war Fan. Ich habe ihn bewundert. Sicherlich hätte ich mich auch von einer Frau küssen lassen, wenn sie gute Musik gemacht hätte. Am liebsten hätte ich natürlich Poly Styrene geküsst, aber die gab es da noch nicht.

Lass uns zum Abschluss noch einmal kurz nach vorne schauen. Kannst Du Dir vorstellen, die Hans-A-Plast-Songs erneut auf die Bühnen zu bringen?

Ein Revival wird es nicht mehr geben. Das hätten wir auch nie gewollt. Wir hatten das Thema mal angesprochen, bevor unser Gitarrist verstorben ist, da war aber schon klar, dass wir das nicht mehr machen wollen. Die Texte und die Musik sind immer noch aktuell und das freut uns sehr. Aber es gibt neue aufregende Bands.

Annette Benjamin in Berlin. Foto: Roman Schauerte

Kannst Du uns denn noch etwas mehr zu Deinem aktuellen Projekt verraten? Wann werden wir die Songs, die Du mit Drangsal & Co aufgenommen hast, zu hören bekommen?

Das kann ich noch nicht sagen, das genaue Erscheinungsdatum steht noch nicht fest. Nur so viel: Wir nennen uns Die Benjamins und es entsteht gerade ein Mini-Album mit fünf Songs. Alles Weitere wird man dann sehen.

Dann bleiben wir gespannt, was die Zukunft bringt. Und ich bedanke mich bei Dir, dass Du uns so viel über die Vergangenheit erzählt und tiefe Einblicke in eine Zeit gegeben hast, deren Strahlkraft bis ins Heute reicht.

Interview: Marc Wilde // Im Rahmen der Serie “NDW (Zukunft ist Vergangenheit)” des Autoren erschienen bereits Gespräche mit Peter Hein (Fehlfarben) und Martin Lück (Brausepöter).

Das Interview wurde bereits letztes Jahr in Berlin geführt, der Text vor der Veröffentlichung jedoch noch einmal aktualisiert. Herzlichen Dank an Annette Benjamin für die geduldige Zusammenarbeit bei der Bearbeitung. Ein besonderer Dank geht auch an Ilse Ruppert (www.ilseruppert.de) sowie an Tim Hackemack (www.timhackemack.de) für die freundliche Bereitstellung ihrer Fotos.

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