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“Wenn man das falsche Hemd anhatte, war man schon draußen” – Tilman Rossmy im Gespräch

Für Nerds mit Hamburger-Schule-Spleen ist Tilman Rossmy eine der zentralsten Figuren hinsichtlich deutschsprachiger Gitarrenmusik. Auch lange nach dem Ende jenes Genre-Phänomens der Neunziger Jahre ist der heutige Wahl-Schweizer noch als Songwriter aktiv. Dem breiten Publikum muss man seine Bedeutsamkeit allerdings oft noch erklären – doch man tut es gern. Denn es lohnt sich für alle Seiten. Insofern freuen wir uns über diesen Interview-Longread, den Marc Wilde aufgestellt hat. Ein Rossmy-Talk XXL anlässlich der jüngsten Platte von Die Regierung “Nur”.

Tilman Rossmy mit seiner Band: Die Regierung

Du bist vor über 15 Jahren in die Schweiz gezogen, arbeitest dort als Softwareentwickler und lebst mit deiner Familie in Bern. Hat sich durch diese relativ lange Zeit im Ausland dein Blick auf Deutschland verändert?

TILMAN ROSSMY Schon ein bisschen. Es ist ja auch so, dass die Deutschen hier nicht so richtig gemocht werden. Das war erst einmal eine Überraschung für mich. Mit der Zeit kriegt man aber auch mit, warum das so ist. Was hier zum Beispiel gar nicht so gut ankommt, ist, offen zu kritisieren. In der Schweiz ist alles etwas höflicher. Man nimmt das mit der Zeit auch selbst etwas an, so den Schweizer Lebensstil, auch die Sprache. Wenn ich jetzt in Deutschland bin und mich entschuldigen möchte, dann sage ich „Exkusé“ oder „Merci“ statt „Danke“, solche Geschichten.

Das kommt vermutlich im Ruhrgebiet, deiner eigentlichen Heimat, nicht so gut an …

Ja, das wird auch immer komischer, wobei ich Schweizerdeutsch nicht spreche, da habe ich kein Talent für. Und umgekehrt ist es ja auch so, dass das Ruhrgebiet immer noch manchmal durchkommt. Auf der Arbeit ist es mir mal passiert, da habe ich zu meinem Chef „Du Wichser“ gesagt. Das kam einfach so raus aus mir, weil der mich so genervt hat. Und dann – zack – zehn Minuten später war ich entlassen. Als Freelancer kann dir das natürlich schnell passieren.

Kennt man dich in deinem Berner Umfeld als Musiker und Sänger von Die Regierung oder sind das zwei getrennte Welten? 

Da gibt es keinen großen Unterschied, kein Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Die Bühnenerfahrung kommt mir manchmal auf der Arbeit auch zugute, wenn ich zum Beispiel Präsentationen halte. Ich mache das schon einmal gern ungewöhnlich, und normalerweise wissen die Leute das zu schätzen. Letztlich bin ich auch total dankbar, dass alles so gut für mich gelaufen ist und ich diesen Job beim Schweizer Fernsehen habe. Ich habe eigentlich immer gerne gearbeitet und empfinde das auch als Privileg, hier arbeiten zu können. Das ist in der Schweiz auch finanziell noch einmal eine ganz andere Nummer als in Deutschland.

Würdest du sagen, dass du es dir nur dank deines guten Jobs leisten kannst, weiter Musik zu machen und Platten zu veröffentlichen?

Ja, also ich zahle in jedem Fall drauf mit der Musik, das ist schon so. Die Kosten von der Platte, die kriegen wir eigentlich nie rein. Wir sind da allerdings auch ein bisschen nachlässig. Also speziell ich. Da könnte man vielleicht ein bisschen mehr machen, nach der Show Platten verkaufen zum Beispiel. Aber ich habe dann meistens keine Lust drauf und verziehe mich lieber erst einmal Backstage.

Du hast Die Regierung vor über 40 Jahren in Essen gegründet. Der Einzige, der seit dem ersten Album („Supermüll“) Teil der Band gewesen und ebenfalls aus Essen stammt, ist Robert Lipinski. Gibt es darüber hinaus noch Verbindungen zur alten Musikszene?

Nein, aber das war damals auch nicht anders. Zu anderen Bands hatten wir in Essen keinen wirklichen Kontakt. Das war eher so konkurrenzmäßig. Zwar hatten wir als einzige einen Plattenvertrag, bei Alfred Hilsberg, aber wir waren total unpopulär. Bei jedem Konzert, das wir bekommen konnten, haben wir den Saal leer gespielt. Sonst war das nicht so, da haben die Leute ihren lokalen Helden zugejubelt. Die haben auf uns runtergeguckt und wir auf sie.

Wie habt ihr als Band überhaupt zusammengefunden?

Die Regierung ist ja eigentlich im stillen Kämmerlein entstanden. In den frühen Achtzigern war so viel möglich: Ich habe eines Tages einfach ein Tape an den New Musical Express geschickt, und die haben das besprochen. Das Tape hatte eine 25-er Auflage und ich habe zwölf Briefe als Reaktion gekriegt. Das war schon abgefahren. Und mehr als jetzt, obwohl wir Platten veröffentlichen. Ich habe das anfangs alles aus meinem Zimmer raus gemacht und hatte überhaupt keinen Kontakt zu anderen Musikern, bis ich die erste Regierungsplatte aufgenommen habe. Und das war mit vollkommen Fremden, ich kannte die überhaupt nicht. Arthur Schilm, ein Freund von mir, der damals Journalist beim Stadtmagazin Marabo war, hatte mir die vermittelt. Und so haben dann ein Bassist und ein Schlagzeuger einer Jazzrock-Band das erste Album der Regierung eingespielt. An einem Nachmittag kam dann noch ein weiterer Freund – total dicht – zu einer der Sessions vorbei und hat ein paar Gitarrenparts drübergenudelt. Das war Robert. Aber, wie gesagt: An und für sich hatte ich keinen Kontakt zu Musikern. Ich sehe mich aber auch selbst nicht als Musiker.

Arthur Schilm

Es gab verschiedene Regierungsperioden und dazwischen längere Bandpausen. Die letzte Phase dauert seit 2015 an, gerade ist euer viertes Album bei Staatstakt erschienen – so lange am Stück wart ihr bislang nicht aktiv. Was würdest du sagen ist über all die Jahre hinweg die Konstante, was zeichnet Die Regierung als Band aus – vielleicht auch im Unterschied zum Tilman Rossmy Quartett, mit dem du ja auch einige Jahre lang Musik gemacht hast?

Die Regierung ist natürlich in erster Linie Rock, Alternative Rock, mit Wurzeln im New Wave und Punk. Wohingegen das Tilman Rossmy Quartett mehr im Country, teilweise auch im Jazz zuhause und eher songwritermäßig angelegt war. Es ist auch so, dass das Tilman Rossmy Quartett diese Art von Rock nicht wirklich spielen konnte. Das war eben ein ganz anderer Schnack. Es ist eigentlich allen Beteiligten klar, dass wir bei Die Regierung in Richtung Alternative Rock gehen und jetzt kein Jazz- oder Country-Album machen. Die Grundstruktur ist eine einfachere, obwohl sich das auch immer mehr wandelt. Ich möchte da auch nicht dogmatisch sein. Aber wir befinden uns halt in einer Tradition, wenn man von dort ausgeht, wo wir 1994 aufgehört haben.

Wie muss man sich die Zusammenarbeit in der Regierung vorstellen? Läuft das bei euch gleichberechtigt und demokratisch ab, etwa beim Songwriting. Oder ist es so, dass du die Linie vorgibst und die Entscheidungen triffst?

In der Regel ist es so, dass ich die Songs schreibe und die der Band vorstelle, indem ich ein Demo rumschicke. Die einzigen, die dann normalerweise reagieren, sind die Berliner – also Ralf und Alex. Die greifen sich den Song, arrangieren den und proben auch tatsächlich jede Woche. Und dann sagen sie Robert, dass er jetzt seinen Bass draufspielen soll. Als nächstes kommt Ivi mit der Gitarre an die Reihe. Das dauert dann meistens ziemlich lange bis der was an den Start bringt. In der Form haben wir auch die neue Platte aufgenommen.

Ihr habt also gar nicht zusammen im Studio gestanden?

Nur bei einem Stück: „Licht“ haben wir gemeinsam im Proberaum aufgenommen. Deswegen rumpelt der Song auch ein bisschen. Auch vom Gesang her hört man das, dass der ein bisschen anders ist. Produziert wurde das Album von Olaf Opal. Das war auch total easy, er arbeitet sehr schnell. Und im Prinzip war das auch eher ein produziertes Abmischen. Wir haben ihm unsere Demos geschickt, und Olaf hat dann gemeint, in Ordnung, da machen wir nichts mehr dran, das mische ich so ab. Und er hat es voll auf den Punkt gebracht. Mit der Abmischung waren wir total zufrieden. Speziell unser Schlagzeuger war total glücklich mit dem Sound.

Das neue Album trägt den Titel „Nur“. Nach „Raus“, „Was“ und „Da“ hätte man erwarten können, dass ihr nun nur noch bei einem Buchstaben landen würdet.

Das hatten wir auch vor, ein Vorschlag war „Z“. Das mussten wir dann aber verwerfen.

Verständlich. „X“ ist ja inzwischen auch verbrannt und „Ö“ auch vorbelastet. „Nur“ funktioniert aber auch sehr gut im Zusammenspiel mit dem Bandnamen: „Nur Die Regierung“. Ist das ein bewusst gewähltes Statement?

Wir konnten uns diesmal erst überhaupt nicht einigen. „Liebe“ hätte als Albumtitel thematisch gepasst, aber das war mir zu cheesy. „Keine Liebe“ hätte mir besser gefallen, aber das fanden die anderen zu negativ. Irgendwie sind wir auf keinen grünen Zweig gekommen. Robert und ich sind ja Fans von Rot Weiß Essen, und der Schlachtruf lautet „Nur der RWE“. So kam der Vorschlag „Nur die Regierung“ zustande. Das fanden alle gut – außer mir. Kritiker sagen ja manchmal, dass ich mich durchsetze, aber dann habe ich gesagt, okay machen wir es halt so. Es gibt aber auch ein paar weitere Aspekte, die für mich Sinn gemacht haben: „Nur“ heißt auf Arabisch „Licht“, das passte auch. Und dann steht „Nur die Regierung“ beziehungsweise „Nur der RWE“ ja für bedingungslose Liebe. Als Rot-Weiß-Essen-Fan braucht man die auch – wir haben jetzt zehn Jahre lang in der Regionalliga gespielt. Das ist eine Liebe, die nicht auf die Liga schaut. Eine Liebe, die nicht kommt und die nicht geht, sondern die immer da ist.

Viele Deiner Texte haben ihre Wurzeln in persönlichen Begebenheiten. Gibt es eine bestimmte Art, wie du beim Schreiben vorgehst?

Wenn die Liedtexte entstehen, habe ich oft bestimmte Bilder im Kopf. „Nichts ist wirklich“ zum Beispiel, der erste Song vom neuen Album, fängt an mit einem Traum, in dem ich im Gefängnis sitze. Ich habe das genau so geträumt wie ich es beschreibe und war auch total überrascht, dass ich mir in der Situation frei vorgekommen bin und es mir wahnsinnig gut ging. Das konnte ich erst überhaupt nicht verstehen. Aber so habe ich es gefühlt und so ist auch die erste Strophe entstanden. Und dann sitze ich da und auf einmal kommt der nächste Eindruck. Wobei die zweite Strophe mit der ersten inhaltlich gar nichts zu tun. Passt irgendwie nicht zusammen, aber es klingt. Es ist ein bisschen so, also ob der Song sich selbst schreibt.

„Nichts ist wirklich. Alles andere ist nur ein Kommen und Gehen. Niemand liebt mich“, lautet der Refrain. Das sind Motive, die man auch aus anderen Deiner Songs kennt. Liebe ist ein allgegenwärtiges Thema, oder?

Bei dem Refrain ist es so, dass der mit einem Gedicht zu tun hat, das ich gelesen habe. Und von dem Chorus geht auch eine gewisse mysteriöse Kraft aus, finde ich. Die Liebe, von der ich spreche, ist wie Sand in der Wüste oder wie Wasser im Ozean. Die ist überall. Und gleichzeitig versteckt sie sich durch ihre Präsenz. Du kannst sie auch nicht sehen, weil um etwas zu sehen, brauchst du Distanz. Und darum geht es, der Song sagt einfach „Liebe ist wirklich“. Weil das aber so zu cheesy klingt, formuliere ich es lieber anders. „Nichts ist wirklich“ funktioniert auch als Rock-Song besser. Das ist halt ein schönes Spiel mit den Begriffen, auch wenn die wahrscheinlich erst ganz anders verstanden werden.

Wenn von Liebe die Rede ist, denkt man sicherlich zunächst an eine romantische Form der Liebe. An der Stelle scheint es bei dir aber wenig Hoffnung zu geben. „Ohne jede Hoffnung, so will ich sein“, heißt es im Opener, „ohne jeden Zweifel, für immer allein.“

Wenn ich über das Alleinsein spreche, bedeutet das nicht, dass ich unbedingt allein sein will, sondern dass das so ist. Es gibt eben nur diese eine Liebe und die ist allein. Es gibt keine zwei Lieben. Klar, alle wollen lieber irgendwie in einer Beziehung sein, aber es gibt nur ein Wesen und das ist halt allein und wenn ich dann tief in mich hineinschaue, dann will ich auch genau das sein, allein. Ähnlich ist das mit der Hoffnung, hoffen bedeutet ja, dass man hofft, dass sich etwas ändert, aber ich will immer und ewig genau das sein, was ich jetzt bin. Das ist erstaunlicherweise Freiheit, still und allein zu sein.

Spiritualität spielt in deinen Texten eine große Rolle. Es gibt auf dem aktuellen Album den Song „Indien“ – hat Indien in dieser Hinsicht eine besondere Bedeutung für dich?

Zwei Retreats habe ich in Indien gemacht. Ich war da also nicht als Tourist, sondern immer mit spirituell Suchenden unterwegs. Und natürlich auch mit Indern. Wahnsinn, was da abgeht. Vieles ist erst einmal fremd, da musst du erst einmal mit umgehen. Und gleichzeitig ist es so normal da.

Mich hat die Stelle in dem Song nachdenklich gemacht, wo ein gebrechlicher Mann über die Straße kriecht und es heißt: „Aber das Beste was du geben kannst ist nichts.“ Das klingt erst einmal hart. Hast du die beschriebene Situation so erlebt?

Ja, das war an einem Tag, als ich auf dem Rückweg ins Hotel war. Da habe ich diesen Mann gesehen, der kroch über eine Straße, die total befahren war. Autos links und rechts und niemand hat gestoppt. Ich wollte da eigentlich erst hingehen und dem helfen. Und doch wusste ich irgendwie, das ist nicht angebracht. Weil ich helfe dem dann über die Straße und bei der nächsten muss er wieder über die Straße, und dann bin ich nicht mehr da. Ich habe keine Chance, sein Leben in die richtige Bahn zu bringen. Das hat mich erst geschockt, ich wusste überhaupt nicht, wie ich damit umgehen sollte. Und dann, zurück im Hotelzimmer, hatte ich auf einmal eine totale Verbindung zu dem Typen. Das war wie ein Schuss Liebe. Und ich hatte das Gefühl, indem ich ihn so sein lasse, wie er ist, behält er auch seine Würde. Jemandem die Opferrolle zu geben, ist nicht die richtige Art, zu helfen, glaube ich. Deshalb: Das Beste was du tun kannst, ist nichts.

Aus einer übergeordneten Perspektive ergibt das natürlich Sinn, aber ist man dann nicht auch schnell an dem Punkt, wo man sich nicht mehr einmischt und die Verhältnisse bestehen lässt wie sie sind, egal wie schrecklich oder ungerecht sie sind?

Ich glaube, die richtige Aktion, die kommt aus dem Nicht-Tun. Das ist auch das, was der Daoismus aussagt: Erst wird wenig getan, dann wird weniger getan, und wenn nichts mehr getan wird, bleibt nichts ungetan. Wobei Nicht-Tun nicht heißt, nichts zu tun. Das ist auch kein Konzept, eher so eine Ahnung, wo die richtige Aktion herkommt. Und die kommt aus dem Herzen, weniger aus dem Verstand. Stell dir vor, du kommst nach Hause und dein Haus brennt. Natürlich machst du dann was. Das machst du aber aus einer ganz anderen Energie oder Hingabe als wenn du sagst, ich müsste dem jetzt eigentlich helfen.

Tilman mit 14 Jahren

Du sprichst sehr offen, auch in deinen Texten, über deine Drogenvergangenheit. Du bist früh mit LSD in Berührung gekommen und warst deswegen auch in der Psychiatrie. Siehst du einen Zusammenhang, ausgehend von deinen Drogenerfahrungen hin zu deiner Suche nach Spiritualität?

Ich hatte meinen ersten LSD-Trip mit 15. Und dann bin ich aufgewacht und habe tatsächlich das erlebt, was ich jetzt auch in meinen Texten beschreibe. Dass die Liebe so super präsent ist, dass wir sie nicht wahrnehmen. Einfach durch ihre Gewöhnlichkeit. Die ist so gewöhnlich, da kommt niemand darauf, dass das Liebe ist. Das habe ich halt sehr früh schon so gesehen, ohne den geringsten Zweifel zu haben. Und dann habe ich über viele Jahre hinweg überhaupt keine Substanzen mehr genommen. Zur Spiritualität bin ich an und für sich auch vollkommen ohne eigenes Zutun gekommen. Also ich glaube den ersten spirituellen Song, den ich geschrieben habe, war „Es hat keinen Namen“. Da habe ich einfach mal zu beschreiben versucht, was mich so antreibt oder was mich ausmacht. Und zu dem Zeitpunkt war mir überhaupt nicht klar, dass das irgendwie ein spiritueller Song ist. Und dann ging das irgendwie so weiter. Prägend war für mich auch, dass ich irgendwann in Kontakt mit Gestalttherapie gekommen bin.

Was hat dich dazu bewegt, eine Therapie zu machen und wie hat sich das für dich ausgewirkt?

Ich bin da wie die Jungfrau zum Kind gekommen und hatte auch erst überhaupt kein Bedürfnis danach. Es ging mir zu der Zeit eigentlich so gut wie noch nie. Auslöser war, dass mein Bruder eine Gestalttherapie gemacht und er mich in ein Gespräch verwickelt hat. Dabei habe ich gemerkt, dass meine Antworten einfach nicht so richtig stimmig sind. Und so kam der Entschluss, das einmal ausprobieren zu wollen. Die Therapie hat tatsächlich mein Leben total verändert. Das hat mich auch aus der ganzen Hamburger Schule rausgebracht, weil ich dann gesehen habe, was das alles für ein Theater war. Auf der einen Seite dieses ganze Rebellentum, auf der anderen Seite, wenn man das falsche Hemd anhatte, war man draußen. Das war wirklich so. Und wenn das politisch nicht in die richtige Richtung ging, was du gesagt hast, wurdest du komplett gedisst. Ich hatte oft Angst, dass ich irgendwie was Falsches sage. Und gleichzeitig hat das natürlich auch ein bisschen so einen rebellischen Spirit geweckt, dass du gerade deswegen dagegen gingst.

Hat dir nicht vielleicht auch gerade das Akzeptanz verschafft, dass du nicht blind dem Szenemainstream gefolgt bist?

Ja, am Anfang war das so. Und das war für mich auch total wichtig, die Anerkennung, die ich da bekommen habe. Die war auch echt. Ich weiß noch gut wie es war, als ich nach Hamburg gezogen bin, meine erste Nacht. Ich war vorher in Essen extra beim Frisör. Der Haarschnitt ging meiner Meinung nach total schief. Und das war eben damals total wichtig für mich, dass ich da mit einem korrekten Haarschnitt auflaufe. Also hatte ich mir extra eine Baseball-Mütze geholt, was eigentlich überhaupt nicht mein Stil war. Das war auch überhaupt nicht Hamburger-Schule-Stil. Und dann hat mich der Kristof Schreuf direkt darauf angesprochen: „Was ist denn das?“. „Ja, ich war beim Frisör, ist total schiefgegangen, sieht scheiße aus.“ Und da meinte er, ich solle den Scheiß lassen, der Schnitt wäre doch vollkommen in Ordnung. Daran kannst du sehen, dass Kristof in dem Augenblick zumindest viel aufrichtiger war als ich. Aber klar ist auch, dass in so einer Szene ganz schön viel gerichtet wird.

Bei deinen Texten scheint es aber so, dass Du schon früh die Souveränität entwickelt hast, so zu schreiben wie du empfindest, ohne groß darüber nachzudenken, wie das in der Szene ankommt. Nehmen wir das Stück „1975“: Supertramp als „geile neue Band“ zu bezeichnen, war vermutlich eher ein No-Go …

Beim Schreiben, muss ich sagen, bin ich an und für sich immer schon aufrichtig gewesen. Im Sozialen war das vielleicht anders, da war ich eben halt auch immer ein bisschen ängstlich. Wir tun ja viel so als ob. Wir tun so als wären wir cool, als wüssten wir alles. Wir tun so als wäre uns alles egal. Aber das stimmt natürlich hinten und vorne nicht. Beim Songwriting war ich eigentlich immer ehrlich. Bitching habe ich zum Glück auch weitestgehend außen vorgelassen. Es gibt da vielleicht eine Ausnahme: „Alles gar nicht wahr“. Ich weiß nicht, ob du den Song kennst. Das Stück ist auch nur auf einem SPEX-Sampler erschienen.

Da, wo es um Frisuren und Koks geht?

Ja, genau, das geht so ein bisschen in die Richtung. Aber weiter bin ich da nicht gegangen. Bin ich auch ganz froh darüber. Das war allerdings im privaten und sozialen Leben nicht immer so, da habe ich auch ganz schön ausgeteilt. Das sind auch Sachen, die ich im Nachhinein bereue. Ich erinnere ich zum Beispiel an eine Situation als die erste Knarf Rellöm rauskam. Da waren wir zusammen im L’Age D’Or-Büro, Knarf war auch gerade da, und dann habe ich gesagt: „Könnt ihr den Scheiß mal ausmachen?“. Also da muss ich mich echt für schämen heute.

Über Philosophen, Wittgenstein und Kant zumindest, bist du in deinen Texten auch gern hergezogen.

Ja, das stimmt. Das war auch so ein Art Bitching. Das war auf meinem zweiten Solo-Album. Zu der Zeit ist mir das auch alles ein bisschen zu Kopf gestiegen, glaube ich. Da war an und für sich die Phase der Anerkennung ja schon vorbei, aber ich dachte ich bin immer noch kurz davor, richtig durchzustarten. Ich hatte den Rough-Trade-Plattenvertrag, war auf Tournee und habe jede Menge Interviews gegeben. Da ging’s echt ab. Zu der Zeit habe ich auch richtig am Songwriting gearbeitet und bin dann auf einen Trip gekommen, habe mich da total verrannt. Ich habe auch noch nie was von Wittgenstein gelesen, muss ich gestehen. Das war eher so die Freundin, die mich damals verlassen hatte, die kannte Wittgenstein. Und ich glaube, da wollte ich ihr so eins mit auswischen.

Foto: Bernd Bodtländer

Gibt es mit Die Regierung aktuell weitere Pläne oder lässt du das auf dich zukommen? Oft ist es ja so, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eines Albums die Aufnahmen schon eine Weile zurück liegen und die nächsten Songs längst geschrieben sind.

Ja, die sind schon da. Das Album war auch schon vor einem Jahr fertig. Zurzeit musst du ja so lange warten bis du das Vinyl überhaupt kriegst. Ich habe längere Zeit gedacht, komm wir lassen das sein mit dem Vinyl, wir machen jetzt nur noch Tracks oder so. Aber dann wäre Staatsakt auch wieder draußen und das ist ja schon irgendwie ganz gut, eine Plattenfirma dabei zu haben. Viel besser als wenn du nur so vor dich hinwurschteln würdest. Auch wenn das für alle Beteiligten finanziell keinen Sinn ergibt. Weder für Staatsakt noch für uns.

Schon allein wegen des Namens darf man die Verbindung eigentlich nicht auflösen …

Genau, das passt gut zusammen. Haben wir direkt am Anfang auch gesagt: Staatsakt und Die Regierung das gehört zusammen. Und ich glaube, wir sind nach Die Türen die Band, die die meisten Platten auf dem Label veröffentlicht hat. Vier Stück jetzt schon. Normalerweise ziehen da alle weiter, um dann irgendwie noch ein bisschen mehr Geld rauszuholen.

Apropos Erfolg: Ich vermute mal, dass ihr bei der Songauswahl nicht auf‘s Radio schielt. Aber in dem Stück „Die Liebe, die niemals kommt“ gibt es diese Zeile: „Und das Radio spielt ein Lied von der Liebe“. Würdest du mir Recht geben, dass Die Regierung selten radiotauglicher geklungen hat als hier?

Ja, das ist eine echte Powerballade. Als ich den Song rumgeschickt habe, habe ich erst ein halbes Jahr lang nichts gehört von den Jungs. Und dann kam Ralf dann doch damit an. Der hatte die ganze Zeit daran gearbeitet, sich da total reingehauen und dieses ausgeklügelte Arrangement entwickelt. Dabei dachte ich erst, der sei durchgefallen. Normalerweise ist das so, wenn ich von einem Song nichts höre, dann finden die den nicht gut. Und dann haben wir den halt doch gemacht. Das Stück ist schon ein totaler Stilbruch auf der Platte, aber er gefällt uns allen gut. Olaf meinte, das wäre der Hit der Platte. Ein Single-Kandidat. Aber sagen wir mal so: Wenn du kein Video hast, ergibt das auch mit den Singles überhaupt keinen Sinn. Ich würde ja gern mal so eine Anti-Video-Bewegung gründen.

Da würdest du in der Branche wohl einige Mitstreiter finden. Aber was genau magst an Videos nicht?

Ich glaube, wir haben noch nie ein gutes Video gemacht. Wenn du ein bisschen Budget hast, okay, aber wenn du kein Budget hast, dann … ich weiß auch nicht. Ich habe einmal eins zu meiner ersten Solo-Platte „Willkommen Zuhause“ gemacht, das war richtig cool. Und das hat auch total Spaß gemacht. Wir sind dafür extra nach Budapest geflogen, Carol, Myriam und ich. Und ich durfte mir vorher eine Partnerin aussuchen. Da waren wir in einem professionellen Filmstudio, das war geil. Aber sonst sind Videos nicht so unser Metier. Ich denke halt auch nicht so visuell.

Vielleicht ist es ja auch so, dass man als Musiker möchte, dass mit den Songs beim Hörer eigene Bilder hervorgerufen werden?

Ich weiß nicht, ob man das möchte. Wahrscheinlich, wenn es nach mir ginge, würde ich genau die Bilder, die ich mir vorstelle hervorrufen wollen. Aber das liegt halt nicht in deiner Macht. Ich bin jetzt auch wieder in Kontakt gekommen mit psychodelischen Substanzen, sprich mit Psilocybin, und da ist es ja so, dass du am besten überhaupt keine Texte hast in der Musik.

Wo du psychedelische Substanzen erwähnst: Ich habe gehört, dass du eine Ausbildung als „Trip-Begleiter“ angefangen hast. Was kann man sich darunter vorstellen?

Das nennt sich Psilocybin-Facilitator. Hintergrund ist, dass jetzt in vielen Staaten der USA Psilocybin legalisiert wird, und man das zu therapeutischen Zwecken konsumieren darf. Da war ich direkt Feuer und Flamme, eben wegen meiner Erfahrungen, die ich gemacht hatte. Wenn ich selbst ein bisschen Führung damals gehabt hätte, wenn ich so jemanden gehabt hätte wie mich selbst jetzt, dann darf ich mir gar nicht ausdenken, was dann möglich gewesen wäre. Entscheidend ist, dass das Setting stimmt, das man das richtige Mindset hat und die richtige Umgebung. Dann ist ganz viel möglich, an Erkennen, an Heil, wenn du so willst.

Was ist genau deine Rolle als Trip-Begleiter?

Wenn du betreust, dann nimmst du nichts, das ist ganz wichtig. Und du mischst dich auch nicht ein. Als Tripsitter wirst du nur dann aktiv, wenn ein Bedürfnis entsteht. Du hilfst auch bei der Vorbereitung, dabei die Motivation zu klären, die Dosis festzulegen, all sowas. Und auch die Nachbereitung gehört dazu, die Emotion, was sind die Erkenntnisse, wie ist jetzt damit umzugehen? Das sind die Hauptaufgaben. Und die Reise selbst, die übergibst du der Substanz, dem Pilz oder dem LSD – wir nennen das dann Medizin. Wir nehmen keine Drogen, sondern Medizin. Man hat ja auch in der Forschung festgestellt, dass Psilocybin und LSD bei Depressionen super wirksam sind und viel bessere Erfolgsquoten erzielen als alles andere. Und das ist mir eigentlich auch total klar, weil die Türen, die da aufgehen, was du dann da siehst und erfährst, das sind so gute Nachrichten. Da ist es wirklich schwer depressiv zu sein.

Gute Nachrichten zum Abschluss, mehr können wir in diesen Tagen nicht erwarten. Ich danke Dir sehr für das Gespräch, Tilman!

Interview: Marc Wilde

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