Talking Musikjournalismus – Christoph Jacke

Christoph Jacke “viel mehr Möglichkeiten, viel weniger Konsens und Austausch”


 

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast?

Christoph Jacke: Nicht wirklich. Wahrscheinlich im weiten Sinn in der Bravo etwas über die Maskerade und Demaskerade der Band Kiss circa Ende der Siebziger, Anfang der 1980er. Im engeren Sinne dann nach Schulexkursionen nach UK den NME und Melody Maker zu New Wave und Post Punk Mitte der 1980er und irgendeine Ausgabe der Spex circa 1986/87. Neben Texten im engeren Sinn waren Radiobeträge von unter anderen John Peel und Klaus Walter total wichtig.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Nach Praktika in der Musikindustrie während des Studiums Anfang/Mitte der 1990er und einem Leserbrief an die Spex und einem daraus resultierenden Telefonat mit dem Redakteur Christian Storms, der mich bei meinen Eltern anrief.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Die ausführliche, kritische und gleichzeitig gut geschriebene Analyse von Popmusik immer im Zusammenhang mit Gesellschaft; das Neue kennenzulernen; über Text auf Musik gestoßen zu werden, vertrauensvoll beurteilt (auch ex negativo, habe schon Musik gehört und gekauft, weil etwa Diedrich Diederichsen sie negativ besprochen hat) und nicht maschinell.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

“The Kids are not alright” von Diedrich Diederichsen zu den rechten Riots an Asylantenheimen Anfang der 1990er, Clara Drechslers gnadenlos liebevolle Abrechnung mit Slayer (beides in der Spex), ein wunderbarer Artikel über den verloren gegangenen Dave Kusworth von Sandra Grether in der Spex, später Simon Reynolds Texte sowie aktueller Jens Balzers Glosse zu Preisverleihungen und Beyoncé in der Zeit  und Julia Lorenz’ charmante Einordnung des neuen Stones-Albums ebenso in der Zeit. Früher waren zudem Fanzines für mich sehr wichtig.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein? 

Ich möchte mich nicht selbst einordnen. Persönlich wichtig und sehr emotional waren meine Nachrufe auf befreundete Musiker wie Epic Soundtracks, Nikki Sudden und Dave Kusworth in Frankfurter Rundschau, Testcard und Kaput. Mit Epic machte ich für ein deutsches und ein finnisches Fanzine tragischerweise das letzte Interview, bevor er starb. Cat Power/Chan Marshall gab mir ein Interview und tröstete mich, obwohl sie verloren schien (vor circa 25 Jahren für unser Münsteraner Fanzine “Sunset”). Das sind so Dinge, die mir spontan einfallen.

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Einfach oft gelesen habe ich (und tue ich weiterhin, Rangliste finde ich hier schwierig):

1. Diedrich Diederichsen

2. Sonja Eismann

3. Jens Balzer

Deswegen arbeite ich auch sehr gerne mit allen dreien (und vielen anderen) zusammen und waren sie ja schon oft als Tagungsgäste, Lehrbeauftragte, Forschungsprojektmitarbeitende bei uns in den Studiengängen oder kommen wieder, etwa Sonja Eismann im Rahmen der nächsten Pop-Dozentur oder Jens Balzer als Gast bei uns in Paderborn im Sommersemester 2024.

Dazu kommen ganz tolle jüngere Journalst*innen, die bei uns studiert haben und die ich immer gerne gelesen habe wie zum Beispiel Laura Aha, Daniel Welsch, Silvia Silko oder Lennart Brauwers.

Du bist selbst seit den 90er Jahren als Autor aktiv. Was sind die einscheidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Vom Fanzine und DIY-Autoren, sich selbst ausprobierend in die etabliertere (Musik-)Presse zu gelangen. Das Verschwinden so wichtiger Organe wie De:Bug oder Spex, für die ich regelmäßig schrieb und die die Transformation ins Digitale nicht richtig geschafft haben, obwohl sie immer so sehr an oder sogar vor der Zeit waren. Seit geraumer Zeit endlich und zunehmend mehr Autorinnen.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Im Vergleich ist es unübersichtlich geworden, also einerseits viel mehr Möglichkeiten, andererseits viel weniger Konsens und Austausch. Gleich geblieben ist das Prekariat, dem ich aufgrund meiner Uni-Karreire entronnen bin.

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Das sollen sich schlaue Journalist*innen, Verleger*innen, Creators, Fans und Wissenschaftler*innen mal bitte überlegen. Ich denke, es kann funktionieren, vielleicht sogar allgemeiner, denn Insta und TikTok werden ja auch bald überholt sein. K.I. finde ich noch viel herausfordernder; sie im Musikjournalismus sinnvoll und kritisch zu nutzen.

Ansonsten siehe bitte auch:

Pop(musik)journalismen zwischen Printmagazin-Krise und postdigitaler Realität – Forschungsüberblick und multiperspektivische Thesen. In: Moormann, Peter; Ruth, Nicolas (Hrsg.): Musik und Internet. Aktuelle Phänomene populärer Kulturen: Wiesbaden: Springer VS, S. 185-212. Online. (mit Tanja Godlewsky, Stefanie Roenneke, Thomas Venker) (2023)

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

Nie wirklich durchgehend, immer nur im Patchwork und seit fester Uni-Anstellung ein “Mehr-als-ein-Hobby”, ein “Dran-Bleiben”.

Bereust du die Berufswahl manchmal?

S.o., ich bereue im Musikjournalismus nichts. Und ich bereue auch nicht, nicht wirklich zum umfassenden (Musik-)Journalisten geworden zu sein, sondern einen anderen, manchmal verwandten Weg gewählt zu haben.

Letzter musikjournalistische Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat.

Im ansonsten für mich persönlich nicht so aufregenden Rolling Stone Dez. 2023 Jens Balzer zu queerer Popmusikkultur und ihren Geschichten.

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