Martin Gore: ” Ich hätte kein Interesse, eine Band weiterzumachen, die der Sänger verlassen hat”
2001 reisten Linus Volkmann und Thomas Venker in einem hochfrisierten Wagen nach Hamburg, um für das Intro Magazin Depeche Mode anlässlich ihres Albums “Exciter” zu treffen. Neben einer Pressekonferenz in Vollbesetzung und einem kurzen Small Talk mit Andrew Fletcher auf dem Hotelgang kam es zu einem längeren Privatgespräch mit Martin Gore. Für unsere Kaput Revisited Reihe stiegen die beiden in die Tiefen des Blade-Runner-artigen Kaput Archivs und fanden unter viel Staub tatsächlich eine von Tina Engel lektorierte Originaldatei.
Der Umstand, einen externen Producer bei Depeche Mode zu sehen, ist immer wieder verwunderlich, da man dich als den Produzenten eurer Musik im Kopf hat. Was tut ein Mark Bell bei einer Band wie Depeche Mode?
Martin Gore: Ich habe mich nie als den Producer der Band gesehen. Okay, als Alan [Wilder] noch dabei war, war es in der Tat so, dass wir uns um das Produzieren der Tracks kümmerten. Aber ich war nie die letztendlich treibende Kraft oder der head. Und als Alan weg war, war klar, dass auf lange Sicht jemand für diese Rolle gebraucht werden würde. Und als dieses Album Gestalt annahm, kam Daniel Miller [Mute Records] auf uns zu und schlug Mark vor. Er pries neben seinen künstlerischen Fähigkeiten vor allem seine Umgänglichkeit, die bescheidene, zurückhaltende Art, von der er glaubte, sie passten perfekt in die Realität der neuen Depeche-Mode-Arbeiten. Jetzt, im nachhinein, sind wir sehr glücklich über diese Entscheidung. Er hat einen fantastischen Job gemacht.
Läuft so was dann tatsächlich nur harmonisch ab? Gar keine differenten Ansichten, keine fights?
Mark hat sich der Platte nie über so einen klischeehaften Zugang genähert. Also ohne diese Voreingenommenheit, was Depeche Mode darstellen sollen. Das rechne ich ihm sehr hoch an. Und so waren seine Ideen immer wieder sehr interessant. Bei Unstimmigkeiten blieb er cool – denn er wusste: Am Ende des Tages wird das unser Album sein.
Ein wichtiger Aspekt der Platte scheint die Mischung von akustischen Gitarren und crispy electronic. Erinnert an eure Labelmates Pan Sonic oder aber auch an die US-amerikanische Laptop-Artist-Szene. Hattet ihr solche Bezüge selbst auch im Kopf?
Schon unsere Demos besaßen neben ihrer elektronischen Basis eine starke organische Komponente wie eben diese Gitarren-Sounds. „Dream On“ war einer der ersten Songs, die in dieser später durch Mark noch stärker akzentuierten Spannung entstanden. Es gab dieses Demo-Stadium, in dem Stimme und Gitarre das Grundgerüst waren, aber ich hatte erst gar nicht die Idee, die Gitarre letztlich im Song zu behalten. Dann ergänzten wir eine Reihe von aggressiven Clicks und schweren, künstlichen Sounds. Das war sehr hart. Dann gab ich die alte Gitarrenspur dazu – und plötzlich machte alles Sinn. Dieser Kontrast von Gitarre und abstrakten Momenten wurde dann entscheidend für die Platte. Er gab die Richtung an, in einer sehr frühen Phase.
Und interessierst du dich auch für diese Szene neuer elektronischer Musik? Das, was passiert auf Labels wie Force Inc, Mille Plateaux?
Ja, ich höre sehr viel in dieser Richtung. Ich habe auch ein bisschen angefangen mit DJing, und diese Labels sind ja dann auch das, was läuft. Ich habe überhaupt in den letzten Jahren wieder verstärkt viel neue Musik gehört.
An welchem Punkt beim Songwriting weißt du, ob das jetzt ein Song wird, den du oder Dave singt? Hat das damit zu tun, wie persönlich die Lyrics ausfallen?
Nein. Es ist schon in einem ganz frühen Stadium klar, zu welchem Song meine oder Daves Stimme passt. Wir sind sehr verschieden, und deshalb gibt es da auch wenig Überschneidung. Dave besitzt einfach mehr Attitüde, mehr Aggression in seiner Stimme. Dieses Mal ist es an einer Stelle allerdings etwas anders: Der Song „Goodnight Lovers“ ist eigentlich ein typischer Song, den ich singen würde. Aber wir haben es mit Dave ausprobiert, und die Leidenschaft und dieser Honig in seiner Stimme, mit der er diese ruhige Nummer ausfüllt, haben ganz klar entschieden, dass er hier singen muss.
Noch mal zur Platte. Die Texte transportieren ja eine Menge deiner, aber auch eine Menge von Daves Gefühlen – ist es nicht schwer, über eine solch schwere Situation wie die von Dave zu schreiben?
Das ist sicher sehr schwer. Aber ich habe das nie getan. Ich werde das die ganze Zeit gefragt, aber ich kann nur sagen: die Songs waren nie über oder für Dave. Es sind persönliche Erfahrungen, die ich gemacht habe.
Also auch Songs wie „Dead Of Night“ oder „When Body Speaks“ transportieren nur deine Sicht der Dinge [„we’re the dead of the night / we’re in the zombie room / we’re twilight’s parasites / with self-inflicted wounds“]?
Ganz genau. Das sind Erfahrungen, die ich gemacht habe. Natürlich ist das auch ein Stück weit eine Stilisierung, aber es dreht sich um Eindrücke von mir.
Wie muss man sich das denn vorstellen? Gerade diese Situation mit den Drogen. Du und Dave, ihr lebtet ja gerade auf Tour unter identischen Voraussetzungen. War zu dieser Zeit jeder von euch auf der Kippe?
Wir hatten alle individuelle Schwierigkeiten über die Zeiten – das mussten nicht zwingend dieselben sein. Aber wir litten natürlich alle unter dieser „Faith And Devotion“-Tour.
Es ist natürlich hart, vor allem auch, weil man merkt, dass du nicht viel darüber reden möchtest, aber nur noch kurz: Wie handhabt ihr das jetzt auf der neuen Tour? Alleine Alkohol gehört ja zum öffentlichen Leben. Und Dave muss sich doch von allem fernhalten. Wie geht ihr als Band damit um?
Dave ist jetzt seit vier oder fünf Jahren bei den Anonymen Alkoholikern und hat ein Level erreicht, auf dem er noch nicht mal mehr daran denkt – er freut sich, wenn wir zum Essen gehen und Andy und ich was trinken, es macht ihm nichts aus. In der frühen Phase war das natürlich nicht so leicht.
Gab es in dieser Phase, in der Dave starke persönliche Probleme hatte, nie den Gedanken, dass du das Depeche-Album ganz allein bestreitest?
In Daves dunkelsten Stunden, als er auch in der Tat nicht in der Lage gewesen wäre zu singen, hatte ich nie den Gedanken, mein Songwriting noch als Depeche Mode weiterzuführen. Ich könnte die Songs zwar alle singen, aber sie klängen anders, und im Demo-Stadium habe ich sie ja auch alle eingesungen. Aber ich hätte kein Interesse, eine Band weiterzumachen, die der Sänger verlassen hat. Er ist immer noch der Fokus der Band.
Aber gibt es Überlegungen, irgendwann mal mit einem zweiten Solo-Album aufzuwarten?
Ich mag die Idee, es noch mal zu versuchen [das bisher einzige Solo-Album Martins, „Counterfeit“, floppte Anfang der Neunziger ziemlich], aber es ist einfach eine Frage der Zeit [sagt im Original: It’s a question of time], ohne dass man verrückt wird bei all dem Trubel. Vielleicht, wenn die nächste Tour zu Ende ist und wir uns mit Depeche Mode für eine Pause entscheiden. Aber man muss natürlich auch wissen: wir haben noch andere Verpflichtungen außer Pop, wir haben Familien. Und es ist wirklich langweilig für meine Frau und die Kinder, wenn ich überhaupt nie da bin.
Geht ihr mit dieser Platte auf Welttournee?
Wir haben unsere Lektion von der „Faith And Devotion“-Tour gelernt, dass wir es einfach nicht aushalten, für 15 Monate unterwegs zu sein – und neben den ganzen persönlichen Problemen hatten wir auch das Gefühl, unsere Sache zum Schluss wirklich nicht mehr gut rübergebracht zu haben. Die letzte Tour [zur „Singles Collection“, 1998] ging über vier oder fünf Monate. Das ist gerade noch zu ertragen. Heißt aber auch, dass wir eigentlich nur in Nord-Amerika und Europa spielen werden und viele Fans nicht die Chance haben, uns zu sehen. Ich meine, man kann, wenn man merkt, dass es läuft, eine Tour ausdehnen. Aber eine Tour von anderthalb Jahren im Vorfeld zuzusagen ist schlicht Wahnsinn. Auch wenn das jetzt bedeutet, dass wir „Exciter“ nicht nach Australien, Asien, noch nicht mal nach Süd-Amerika tragen werden. Wir enttäuschen damit viele Fans, aber was hätten die davon, wenn wir eine Welt-Tour machten und es gäbe danach nie mehr eine Depeche-Mode-Platte – oder Depeche-Mode-Bandmitglieder?
„Exciter“ Monate vor VÖ im Netz. Wie fühlt sich das denn an?
Das ist halt die Zeit jetzt. Für mich ist es eher eine Schande, dass man nicht mehr am Tag der Veröffentlichung eines Albums, von deren Band ich Fan bin, in den Plattenladen gehen kann und dort dann zum ersten Mal mit dem neuen Werk konfrontiert wird. Dieser besondere Moment ist weg – da gibt es auch kein Zurück mehr. Aber ansonsten glaube ich: wer sich das Album runterlädt, wird es immer noch kaufen wollen. Es ist ja immer noch was anderes, es dann auch in Händen zu halten [das Artwork gestaltete einmal mehr Anton Corbijn]. Außerdem, das darf man nicht vergessen, gibt es sicher auch Unentschlossene, und die laden sich einen Song runter; wenn der sie überzeugt, kaufen sie das Album – wenn nicht, dann nicht. Ist das nicht gut?