Nick Cave “Mercy On Me” – Die Graphic Novel
Mann oder Mythos? Die Frage drängt sich auf, wenn es um die Figur Nick Cave geht. Zeichner Reinhard Kleist bringt mit seiner Assoziativ-Biografie und zugehörigem Artbook kein Licht ins Dunkel. Er erzählt lieber Geschichten. Eine Annäherung von Lisa Schmidt-Herzog.
Der Name Reinhard Kleist ist ein Emblem. In der deutschen und internationalen Comic-Szene steht er inzwischen für schonungslos abgründige Persönlichkeitsstudien und anspruchsvolle Inhalte. Bekannt wurde er 2006 mit einem düsteren Porträt über den „Man in Black“ Johnny Cash (Carlsen Verlag 14,90€) und auch elf Jahre später sind es die brüchigen Charaktere mit erschütternden Biografien, die den Berliner faszinieren. So zuletzt die des australischen Universalkünstlers Nick Cave. 1997 flötet dieser im Fernsehinterview mit Roger Willemsen und Blixa Bargeld, er sei „neurotisch, verwirrt, paranoid“. Kleist subtrahiert die ironische Note, die bei diesen Worten noch anklingt. Er strickt daraus ein 322 Seiten starkes Fragment, das die kosmologisch-romantisierende Welt seiner Hauptfigur in wüste Schwarz-Weiß-Bilder übersetzt und nennt es „Nick Cave – Mercy on me“ (Carlsen Verlag, 24,99€). Jedes, der fünf Kapitel drängt unerbittlich auf die Motive Anfang und Absturz und irgendwo zwischen Paradies und Sündenfall wird der Leser mitten im Kopf einer bis zur Erschöpfung getriebenen Existenz ausgesetzt.
Orientierung muss er sich selbst verschaffen. Das eklektische Storytelling und die sogartigen Bilddynamiken geben keine verlässlichen Richtungen vor. Immerhin war Caves Weg vom verzogenen Kleinstadtpunk zum dandyhaften König der modernen Schauerromantik niemals stringent, warum sollte es die Erzählung dieses Weges dann sein? Mit Dostojewski und Nabokov unterm Arm zieht der junge Wütende 1980 von Melbourne nach London. Mit seiner Band „The Birthday Party“ (damals „The Boys Next Door“) will er in nietzscheanischer Schöpfer-Zerstörer-Manier die dortige Musikszene in Schutt und Asche legen, um ihr eine neue, brutale Beseeltheit einzuhauchen. Zu dumm, dass Punk tot ist und sich der gemeine Brite nur noch für New Wave interessiert. Konsequenz: ab nach Berlin. Hort der Sonderlinge, Freaks und Ausrangierten, „die Insel all derer, die ihren Platz in der Welt nicht finden“, kommentiert Kleist.
Vieles fand Cave in der deutschen Hauptstadt der 80er Jahre: Noch nie gehörte Musik (Einstürzende Neubauten), Freunde, Feinde, Sex und Drogen. Dass daraus eben doch ein Weg wurde, kann man nun rückblickend konstatieren, da der Musiker am 22. September seinen 60. Geburtstag feiert. Ein Tag, dessen Eintreten der Leser von Kleists Graphic Novel bisweilen für unwahrscheinlich halten muss. Wenn der manische Heroinabhängige in seiner regendurchtränkten Berliner WG die Tippa-Schreibmaschine malträtiert und immer wieder mit seinen pervertierten Figuren verschmilzt, lässt das auf keine rosige Zukunft hoffen. Er hockt dort und schafft die mordende Missgestalt Euchrid, imaginiert sich selbst als verfluchten Kapitän, eignet sich die Abartigkeiten seiner literarischen Geschöpfe an und tötet sie. Jeder Versuch eines Anfangs strahlt vor Glanz, jedes Mal detoniert dieser im Scheitern: „Alle Schönheit muss sterben.“ Was Elisa Day ihm hier durchaus in persona zum Vorwurf macht.
Wie viel Nick Cave tatsächlich in dieser assoziativen Melange aus Lebensdaten, Mythologien, Songversatzstücken und Kleists eigenen Künstlerfreiheiten steckt, kann glücklicherweise niemand sagen. Beide sind vom gleichen Schlag Geschichtenerzähler, beide würden dem Leser und Zuhörer niemals Eindeutigkeiten an die Hand reichen und so verweisen sie lieber auf das Wahre im Falschen, auf die Lust an Illusion und morbider Groteske. Sie schaffen fordernde Bilder und Geschichten, die dem Leser eigene Phantasieanstrengungen abringen, denn dort, wo kein Schöpfergeist waltet, muss Stillstand herrschen, was nichts anderes bedeutet als Tod. Ob Dandy oder Punk, ob Todgeweihter, Sektierer oder poetischer Schöpfergeist mit Hang zum Dämonischen, Kleists mystische Figur mäandert genauso im Undurchdringlichen, wie es sein reales Vorbild tut. Und so ist es auch dem Leser überlassen, ob er Cave als Spielmacher oder Spielfigur dieser bodenlosen Unterwelt versteht. Friedrich Schiller wusste, dass der Mensch nur da ganz Mensch ist, wo er spielt – auch mit den düstersten Gedanken von Schöpfertum und Zerstörungswut. Reinhard Kleist pflichtet ihm bei und setzt seine Hauptfigur ins Epizentrum eines Spiels, das zwischen Wahnsinn, Romantik und Mythologien zum Mittelpunkt der Kreativität und vielleicht auch des Lebens wird: „All work and no play makes Nick a dull boy…“
Lisa Schmidt-Herzog