Ungeladener Gast einer Beerdigungsfeier – Nick Cave & The Bad Seeds live
Bei all der Götterdämmerung, der Heiligenverehrung, die sich um die aktuellen Live-Konzerte von Nick Cave in Deutschland rankten – bleibt da überhaupt noch genug Platz für Ekstase? Diese Frage stellte sich unser Autor Marc Wilde und besuchte das Konzert von ihro Heiligkeit And The Bad Seeds im gottlosen Oberhausen. Lest selbst.
Die Hierophanie, so der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade, ist das Wesen des Religiösen und unterteilt die menschliche Erfahrung von Raum und Zeit in zwei getrennte Bereiche: das Heilige und das Profane. Wer Zeuge einer Hierophanie oder einfach live dabei sein möchte, wie sich profane Stätten der Massenunterhaltung in heilige Orte verwandeln, hat gute Chancen, dies bei einem Auftritt von Nick Cave zu erleben. Dass seine Konzerte mehr sind als Aufführungen von Musik und kultischen Handlungen gleichen, ist bekannt: In hellen Lichtkegel getaucht, bestreitet Cave weite Teile seiner Show vom Bühnenrand aus und greift dabei nach den entgegengestreckten Händen seiner Fans. Man könnte meinen, er teilt Segnungen aus. Die Bad Seeds halten sich weitestgehend im Hintergrund auf und liefern ein stabiles Soundgerüst, das dem Sänger Raum lässt, um sich in Szene zu setzen. Mit aus der Reihe tanzt lediglich Caves Songwriting-Partner Warren Ellis, der zwischen den Instrumenten hin- und herwechselt und vor allem seine Violine mit vollem Körpereinsatz spielt. Früher hätte man gesagt: ein Teufelsgeiger. Auch optisch fügt sich seine Erscheinung – eingefallenes Gesicht, schulterlanges Haar, grauer Bart – gut ins religiös aufgeladene Gesamtbild, ebenso wie die in wallende Gewänder gehüllten Backgroundsängerinnen mit ihrem Gospelgesang. Kurzum: Wer mit opulenten Inszenierungen dieser Art oder generell mit ungebrochenem Pathos in der Kunst nichts anzufangen weiß, an dem wird der Zauber eines Konzertabends mit Nick Cave vermutlich abprallen. Alle anderen werden sich der charismatischen Bühnenpräsenz des australischen Ausnahmekünstlers schwer entziehen können.
Der Auftakt zur bevorstehenden „Wild God“-Welttournee findet im unprätentiösen Oberhausen, in der nach dem Besitzer einer Gebäudereinigungsfirma benannten Rudolf-Weber-Arena, statt. Im Unterschied zur letzten Station des europäischen Teils der Tour, die Mitte November in Paris ihren Abschluss finden wird, bietet zumindest der Ort wenig Glamour für eine Premiere. Auf dem Weg zur ausverkauften Halle, in die gut 12.000 Menschen passen, sind viele Menschen gesetzteren Alters unterwegs. Die meisten offensichtlich Fans nicht erst seit gestern und vermutlich mehr gespannt darauf, welche Songklassiker diesmal auf der Setlist stehen, als das neue, inzwischen achtzehnte Album von Nick Cave and the Bad Seeds präsentiert zu bekommen. Zunächst müssen sich aber alle erst einmal gedulden und den Support Act abwarten.
Als ich meinen relativ weit von Bühne entfernt liegenden Sitzplatz einnehme, spielen Dry Cleaning schon. Zweimal habe ich die Londoner Dark Wave-Band bereits live gesehen, kapiere aber erst nach zwei Stücken, dass sie es sind. Das Los der Vorband: der Sound ist überhaupt nicht auf sie abgemischt, die viel zu laute Gitarre macht die Songs kaputt. Und auch die andernorts eindringlich wirkende Performance von Florence Shaw, die ihren monotonen Gesang stets mit starrem Blick ins Leere vorträgt, kommt in dem Setting bzw. auf der Großleinwand null rüber. Dry Cleaning werden an diesem Abend kaum neue Fans hinzugewonnen haben, fürchte ich. Schade.
Anschließend wird das Publikum mit sphärischen Synthesizerklängen aus dem Soundlabor von Warren Ellis eingestimmt. In Dauerschleife. Kurz bevor die wartenden Besucher*innen in einen Zustand hypnotischer Trance versetzt werden, betreten die Bad Seeds die Bühne. Als letztes folgt, in Anzug, weißem Hemd und dunkler Krawatte gekleidet, Nick Cave und eröffnet den Abend mit „Joy“ – ein Schlüsselstück vom aktuellen Album. Nachdem seine letzten Veröffentlichungen – „Skeleton Tree“ (2016) und „Ghosteen“ (2019) sowie das mit Warren Ellis eingespielte „Carnage“ (2021) – im Zeichen der Trauer um den Tod seines Sohnes standen und die introvertierten, düsteren Songs überwiegend von beklemmender Wirkung waren, wendet er sich mit „Wild God“ wieder mehr dem Licht zu: “We’ve all had too much sorrow / Now is the time for joy”. Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass die Schattenseiten des Lebens nun nicht mehr thematisiert werden würden. Der zweite Song des Abends, “Frogs”, spinnt den Faden weiter: Der Sprung des Frosches, der mit ausgestreckten Gliedern gen Himmel hüpft, nur um dann wieder in der dreckigen Gosse zu landen, dient ihm dabei als Metapher für die Flüchtigkeit des Glücks und die Verstrickungen im irdischen Sein. In der 289. Ausgabe der „Red Hand Files“, ein Newsletter-Kanal, über den Cave mit seinen Fans kommuniziert und Fragen beantwortet, wird der Text vom Autor Zeile um Zeile kommentiert. „Auch wenn das Lied mit menschlicher Gebrochenheit beginnt und endet“, erläutert Cave seine Intention, „spielt sich der freudige Tanz des Lebens auf dem Grund des Leidens ab, wobei das eine ewig mit dem anderen verbunden ist.“ Die anfängliche Synthesizersequenz, die mit süßlichen Glockenspieltönen versetzt weiter durch den Song kreist, will einem nicht mehr aus dem Kopf, und wenn sich der Gesang auf diesen Klangteppich bettet, die Soundschichten sich weiter auftürmen und Caves Flehen in den nach Erlösung suchenden Worten „Lord kill me in the Sunday rain / Kill! Kill me in the Sunday rain“ kulminiert, spätestens dann ist es um mich geschehen. „Frogs“ ist ein erstes Highlight, gefolgt von vielen weiteren.
Überhaupt steht das aktuelle Album im Zentrum des Abends: Neun der zehn Stücke von „Wild God“ werden in der Livepremiere präsentiert, lediglich der Opener („Song of the Lake“) steht heute nicht auf der Setlist; ein paar Tage später in Berlin bringen die Bad Seeds auch den noch. Was bemerkenswert ist: Die neuen Lieder fügen sich nahtlos und ohne abzufallen in die Reihe ausgewählter Klassiker aus dem 40-jährigen Gesamtwerk ein. Visuell verstärkt werden sie durch die Leinwand im Hintergrund der Bühne, auf der Songtitel und -phrasen in der reliefartigen Schrift des Albumcovers aufscheinen. In riesigen Lettern springen sie einen an und bleiben haften: „AMAZED BY LOVE“, „BRING – YOUR – SPIRIT – DOWN“, „KILL ME“. Die Worte „STOP!“ und „YOU´RE BEAUTIFUL“ aus „Conversion“, ein Stück, das bis zur Hälfte ruhig dahinplätschert, bevor es vom Gospel getragen immer mehr Fahrt aufnimmt und schließlich in einem euphorischen Gesangstaumel von Cave und dem Chor endet, finden auch später noch ein Echo und werden dem Publikum während der Songpause einpeitschend entgegengeschrien.
Mit „Jubilee Street“, am heutigen Abend der einzige Song aus dem einschneidenden Album „Push the Sky Away“, wird schon früh ein unvergesslicher Höhepunkt erreicht. Ellis an der E-Gitarre und wenig später Cave am Piano nehmen einen an die Hand und führen mit einer Melodie für die Ewigkeit in den Song ein, der eine immer stärkere Sogwirkung entwickelt, bis er explodiert und in einem epischen Finale mündet. Unter vollem Einsatz der Bad Seeds und mit lautstarker Unterstützung seiner Fans schallen die Schlusszeilen minutenlang durch die Halle: „I’m transforming, I’m vibrating, I’m glowing, I’m flying, look at me now“. Cave rennt am Bühnenrand auf und ab, setzt sich kurz ans Piano und haut wie wild in die Tasten, springt wieder auf, bis das Crescendo im Tumult aller Instrumente sein umjubeltes Ende findet. Wow, was für eine Energie!
Ebenfalls mitreißend sind die eher sperrigeren Stücke aus den Anfangsjahren der Seeds, in denen Nick Cave seine diabolische Seite zeigt: Das rohe „From Her to Eternity“ vom Debutalbum ist ein gruseliger Ritt in den Abgrund qualvollen Verlangens. Cave singt den Text, den er zusammen mit Anita Lane geschrieben hat, aus tiefster Seele. Eine ähnlich düstere Stimmung verbreitet „Red Right Hand“, das sich langsam dahinschlängelt und dann fies zubeißt. Bei beiden Stücken sticht besonders Jim Sclavunos an den Percussions hervor. Wie ein effektvoll eingesetztes Geräusch einen ganzen Song prägen kann, wird schlagartig klar, wenn nach „On a gathering storm comes a tall handsome man / In a dusty black coat with a red right hand“ das erste Mal die markerschütternde Glocke vom Klang eines hämmernden Schmiedeeisens ertönt. Das sitzt!
Zwischendurch nimmt die Band ab und an das Tempo raus und bringt einige sanftere und ruhigere Stücke, darunter „Bright Horses“ (Cave: „I love this song very much. It’s very beautiful“) sowie der Klassiker „Straight to You“. Das von vielen erwartete „Into Your Arms“ ist Teil des Zugabensets, wobei das Publikum aufgefordert wird mitzusingen, aber nicht zu laut. Die feierliche Stimmung, die so entsteht, ist berührend – auch für diejenigen, die wie ich mehr auf die widerspenstigen Songbiester als auf Caves Liebesballaden stehen. Vier Zugaben gibt es heute, darunter mit „Palaces of Montezuma“ auch ein Stück von Caves Seitenprojekt Grinderman. Und laut Setlist wäre auch noch mehr drin gewesen, aber in Oberhausen herrscht ein striktes Zeitregime. So endet das Konzert passenderweise mit „As The Waters Cover The Sea“ und einem echten Abschlusssegen: “Peace and good tidings He will bring/ Good tidings to all things”. Beinahe zu perfekt.
22 Songs umfasst das Set am heutigen Abend insgesamt. Dabei halten Nick Cave and the Bad Seeds die Spannung mit ihrer Mischung aus alten und neuen, gefühlvollen und kantigen Songs stets aufrecht. Lediglich „Wow O Wow“, das der verstorbenen Anita Lane gewidmet ist, fällt etwas aus der Reihe. Cave und Lane waren Ende der Siebziger ein Paar und man spürt, wie sehr ihm der Song nahe geht. Auf der Leinwand werden Schwarz-Weiß-Bilder von Lane eingeblendet und das Stück endet – wie auf der Platte – mit der Tonaufnahme ihrer Stimme, die während eines Telefonats zwischen den beiden entstanden ist. Ich fühle mich wie ein nicht geladener Gast auf einer Beerdigungsfeier. Vielleicht ist dieser Moment einfach zu intim, das Ereignis ihres Todes zu greifbar, um zu einem gemeinschaftlichen Erlebnis zu werden.
Das jedenfalls scheint mir das Geheimnis der Magie eines Nick Cave Konzertes zu sein: Wenn Cave, unterstützt vom kraftvollen Groove seiner Band, mit dem Publikum in Kontakt tritt und sich öffnet, dann entsteht eine spürbare Verbindung. Dann ist er umwoben von den Erinnerungen an seine Songs, die viele der Anwesenden seit Jahren begleiten, dann wird er getragen von den Emotionen, die seine existentiell aufgeladenen Texte auslösen, vor allem aber gepusht von der Wechselwirkung und Energie, die entsteht zwischen seiner Hingabe, sich mit all seinen Gefühlen scheinbar schutzlos auszuliefern, und der Dankbarkeit, die ihm dafür vom Publikum entgegengebracht wird.
Man könnte dies eine Transformation nennen oder einen heiligen Moment, in dem die Zeit stillsteht. Oder, noch besser, in der Metapher des springenden Frosches davon sprechen, dass wir über zweieinhalb Stunden lang mit einem Gefühl der Freude unter der Hallendecke schweben, bevor wir – gesegnet und nach einem letzten „Good-bye“ – mit dem Verlassen der Rudolf-Weber-Arena wieder langsam zurück auf den Boden der Realität gleiten und uns zurück auf den Heimweg machen.
Text: Marc Wilde // Fotos: Christian Düringer