Berlinale Rundgang Teil 2

PS: War ja klar, dass der Wettbewerbsfilm gewinnt, den ich wegen akuten Schlafmangels am Mittwochmorgen habe ausfallen lassen …

Berlinale 2025 /`(Photo: Christian Meyer-Proepstl)

 

Zur Halbzeit stellt sich allmählich etwas Müdigkeit ein. Bei manch ruhigerem Film sinken kurzzeitig die Augenlieder herunter. So bei „El mensaje“ („Die Nachricht“), ein ruhiger, argentinischer Schwarzweissfilm, der im Wettbewerb läuft. Anika kann mit Tieren kommunizieren. Ihre Großeltern machen daraus ein Geschäft: Während Roger für die Termine und das Marketing zuständig ist, kommuniziert Myriam mit den Kund:innen und leitet Anikas vage Nachrichten an sie weiter. Das Dreiergespann lebt in einem kleinen Wohnmobil, tingelt von Haustür zu Haustier und macht die Tierbesitzer:innen mit Nachrichten von ihren Tieren glücklich. Iván Funds Film beobachtet mehr, als dass er bewertet. Ob traurige Hunde, müde Schildkröten oder entlaufene Katzen, Anika ist stets empathisch – wahrscheinlich mehr den Tierbesitzer:innen als den Tieren gegenüber. Die emotionale Tiefe zeigt sie auch bei ihren Großeltern und bei einem Besuch der leiblichen Mutter. Ansonsten ist sie ein normales Kind, das macht, was Kinder so machen. Und wenn die Pet Shop Boys im Auto laufen, dreht sie voll auf! Ein merkwürdig friedlicher Film.

Richard Linklater ist ebenso Stammgast auf der Berlinale wie Ethan Hawke. Mit „Blue Moon“ arbeiten sie beide zum x-ten mal zusammen. Der Film erzählt von einem Abend des Songtexters Lorenz Hart. Nach der Premiere des Musicals „Oklahoma!“ am 31. März 1943 geht er in das New Yorker Restaurant Sardi’s. Mit „Oklahoma!“ hat sich sein langjähriger Partner Richard Rogers, mit dem er in den 1920er und 1930er Jahren viele Broadway-Erfolge feiern konnte, von ihm abgewendet und mit Oscar Hammerstein II („The Sound of Music“) zusammengetan. Grund für die Trennung war unter anderem Harts Alkoholsucht, an der er ein halbes Jahr später auch starb.

Linklaters Kammerspiel ist ein Feuerwerk an Dialogwitz, den Hawke in einer großartigen Performance abliefert. Der dichte Text zeigt Harts tragischen Balanceakt zwischen sensibel und grobschlächtig, mit dem er seine Alkoholsucht, seine Probleme mit der eigenen schwulen Sexualität, das schwankende Selbstwertgefühl und die Einsamkeit versucht aufzufangen. Hawke spielt sich meisterhaft vielseitig – von liebevoll bis gehässig, von überdreht bis tieftraurig durch den Abend. An seiner Seite sind in Nebenrollen Andrew Scott (zuletzt selber als schwuler, einsamer Protagonist in dem tieftraurigen „All of us Strangers“ zu sehen) und Margaret Qualley („The Substance“).

Auch der neue Film von Radu Jude läuft im Wettbewerb. Mit „Bad Luck Banging or Loony Porn“ hatte er hier 2021 den Golden Bären gewonnen. Nicht ganz so wild ist „Kontinental 25“, eine Tragikomödie um eine Gerichtsvollzieherin, die verarbeiten muss, dass sich ein Mann nach einer von ihr angeordneten Räumung umgebracht hat. Mehr oder weniger direkt adressiert Jude mit seiner leichthändigen Satire das Thema Mietpreise oder das Verhältnis von Rumänien und Ungarn, das sich in der ungarischen Protagonistin zeigt. Daneben bietet der Film wieder absurde Momente, wenn ein Obdachloser Flaschen in einem Dinosaurier-Park sammelt, während eines Gesprächs ein Ghettoblaster Trance aus dem Off pumpt oder ein ferngesteuertes Auto – auch hier der Fahrer im off – einen Priester zu einem Wutanfall veranlasst.

Die Romanvorlage zu „La Cache – The Safe House“ von Lionel Bauer stammt von Christophe Boltanski, dem Neffen des Künstlers Christian Boltanski. Erzählt wird darin die autobiografische Geschichte vom Mai ‘68 in Paris: Der kleine Christophe kommt während der Studentenunruhen bei den Großeltern unter, weil die Eltern aktivistisch unterwegs sind. Bei den Großeltern wohnen auch zwei Onkel – ein Intellektueller und ein Künstler (eben jener Christian Boltanski). Während der Tage wird diskutiert und agitiert. Des Nachts kriecht die Vergangenheit der jüdischen Familie aus den Bodendielen hervor. Bauer inszeniert die Ereignisse fluffig als Familienkomödie mit allerlei illustren Figuren, so dass Langeweile nicht aufkommt. Die beiden Ebenen der Geschichte wollen aber trotzdem nicht so ganz ineinander aufgehen.

Der Koreaner Hong Sang-soo ist auch ein Dauergast in Berlin. Sein neuer Film „What Does that Nature Say to You“ läuft im Wettbewerb und ist wie die meisten seiner Filme dramaturgisch einfach gebaut: Eine junge Frau besucht ihre Eltern. Ihr Freund hat sie zu dem Haus auf dem Land gefahren. Anders als geplant, bleibt auch er dort, so dass er nach drei Jahren Beziehung endlich die Eltern und die ältere Schwester kennenlernt. Gefilmt wurde offensichtlich mit einer alten Videokamera aus den 90er Jahren, die wenige Filmmusik hat einen vergleichbaren Sound. Ein Höhepunkt ist wie meist ein geselliges Beisammensein, bei dem reichlich Alkohol fließt, bis die Emotionen hochkochen. Ökonomisch inszeniert wie ein Rohmer, hangelt sich der Film von Szene zu Szene, von Dialog zu Dialog, bis sich langsam ein Bild der Figuren entfaltet hat. Das klingt undramatisch, macht aber unheimlich Spaß!

„Magic Farm“ der Argentinierin Almania Ulman, die auch eine Rolle in ihrem zweiten Langfilm übernimmt, zeigt ein paar junge Medienhipster auf der Suche nach dem neuen Hype. Es soll in einer kleinen Stadt in Südamerika eine Band geben, die in ihren Videos mit Hasenohren auftritt und dadurch einen neue Modebewegung ausgelöst hat. Angekommen in dem kleinen argentinischen Dorf, ist dort aber … nichts. Gut, ein paar Häuser, ein kleines Hotel, aber das war es dann auch schon. Langsam wird klar, dass sie im falschen Dorf sind, denn den Namen gibt es in Südamerika zahlreich. Also plant man um und kreiert kurzer Hand selber einen kuriosen Trend. Die Satire hat viel Spaß dabei, die unterschiedlichen Charaktere im Produktionsteam und ihre Marotten und Eigenarten – Chloë Sevigny spielt die ältere Moderatorin zwischen all den Twens – im mal mehr, mal weniger respektvollen Umgang miteinander zu zeigen. Und auch der Clash mit den Einheimischen wirkt wie in einem Western leicht bizarr. Ulmans Subthema der Verseuchung der Ländereien mit dem Giftstoff Glyphosat des Monsanto-Konzern taucht dazwischen eher als kurzer Gag auf, was etwas irritierend ist.

Auf der Berlinale widmet sich neben dem Dokumentarfilm „Die Möllner Briefe“ auch der in schwarzweisse gefilmte Dokumentarfilm „Das deutsche Volk“ (Berlinale Special) einem Anschlag gegen in Deutschland lebende Menschen mit Migrationshintergrund. Letzterer Thematisiert das Attentat in Hanau im Jahre 2020, bei dem neun Menschen ermordet wurden. Der Film widmet sich hauptsächlich den Hinterbliebenen, die sich nach der Tat als Trauernde zusammentaten und im Folgenden unter dem Slogan #saytheirnames gegen das Vergessen arbeiten, die Polizeiarbeit während der Tat und die folgende Untersuchung kritisieren. Der Film thematisiert ebenso die andauernde Abwehr von Seiten der Stadt gegen die Vorwürfe, dass die Polizei zu spät reagiert habe und auch in der Zeit nach der Tat nicht adäquat gehandelt habe. Von einem verschlossenen Notausgang, der Leben gerettet hätte und massivem rechtsradikalen Gesinnungen bei den eingesetzten Polizisten ganz zu schweigen.

Direkt nach den Anschlägen fing Regisseur Marcin Wierzchowski mit seiner Beobachtung aus der Opferperspektive an und sammelte alle Informationen und Reaktionen der letzten fünf Jahre. Auch wenn der Film sich dramaturgisch an einigen Stellen verheddert und ein wenig Redundanz entwickelt, ist „Das deutsche Volk“ ein wichtiges Dokument, das den wenig gehörten, selbstorganisierten Stimmen der Hinterbliebenen ein Forum bietet. Doch leider geht die Ignoranz der Politik auch jetzt weiter. Während der Berlinale jährte sich der Anschlag. Die diesjährige Gedenkfeier endete mit einem Eklat, weil die Politik einer Mutter eines Opfers ihre kritische Rede vorwarf und dies zum Anlass nahm, die Gedenkfeier in Zukunft kleiner oder gar nicht mehr abzuhalten.

Eine Art Making of zu Claude Lanzmanns 9-stündigem Dokumentarfilm „Shoah“, an dem er 12 Jahre gearbeitet hatte, bevor er 1985 fertiggestellt war, macht Guillaume Ribot mit „Je n’avais que le néant – “Shoah” par Lanzmann“ („All I Had Was Nothingness“), der als Berlinale Special läuft. Ribot hat 200 Stunden nicht verwendetes Filmmaterial von „Shoah“, der 2023 ins Register des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde, gesichtet, und zu einem Film über die Genese des Films, Lanzmans Ansatz, aber auch seine Zweifel, Umwege und Korrekturen während der Arbeit zusammengeschnitten. Sowohl auf der Bild- als auch auf der Toneben verwendet Ribot nur Originalmaterial von Lanzmann – zum Teil aus dessen Memoiren – um den Prozess zu zeigen und wie ein ursprünglich als Film über die Überlebenden zu einem Film über die Toten beziehungsweise über ihre Mörder wurde. Immer wieder wird zum Thema, dass man das Grauen nicht sieht, und Lanzmann daher die Gesprächspartner dazu animiert, die Geschichte nicht nur zu erinnern, sondern lebhaft zu halluzinieren. Ein Prinzip, das Joshua Oppenheimer offensichtlich für seinen Film „The Act of Killing“ über den Genozid im Indonesien der 60er Jahre weiterentwickelte.

Mit „Palliativzentrum“ thematisierte in der Sektion Forum ein vierstündiger Dokumentarfilm genau das, was der Titel nahelegt. Regisseur Philipp Döring hat für seinen ersten Langfilm als Ein-Mann-Crew 100 Stunden Material im Palliativzentrum des Franziskus-Krankenhauses in Berlin gedreht. Er begleitete die dortige Arbeit und die Patient*innen über zwei Monate, von der Aufnahme bis meist entweder der Rückkehr nach Hause, den Wechsel in ein Hospiz oder den Tod. Im Zentrum stehen Oberarzt Sebastian Pfrang und die Patient*innen, Döring gibt aber auch Einblicke in die Arbeit der Pfleger*innen und Therapeut*innen. So schlicht das Konzept, so intensiv ist die Wirkung. „Palliativzentrum“ ist ein Film, der Fürsorge und Zugewandtheit im Anblick des Todes unprätentiös feiert. Die Realisierung im Sinne des Direct Cinema (das „Filmteam“ arbeitet fast so unsichtbar wie die Fliege an der Wand), der Verzicht auf komplexe Einstellungen oder Kamerafahrten und die Konzentration auf den O-Ton ohne Off-Kommentar oder Filmmusik ermöglichen eine unglaubliche Nähe.

Matthew arbeitet in einer Boutique in L.A. Als der upcoming Sänger Oliver dort auftaucht, sind alle hin und weg. Nur er startet geistesgegenwärtig schnell einen alten, unbekannteren Neil Rodgers-Song, von dem er weiß, dass Oliver in liebt. Als der ihn daraufhin anspricht, gibt er vor, nicht zu wissen, wer Oliver ist. Beides beeindruckt den Jungstar, und so lädt er Matthew sogleich in seine Villa in Beverly Hills ein.

„Lurker“ (Berlinale Special) erzählt von dem Traum eines jungen Mannes, Sinn und Erfolg durch die Nähe zu einem Star zu finden. Schnell, so Matthews Plan, macht er sich unverzichtbar im Tross um Oliver. Doch schon bald muss er feststellen, dass Olivers Zuneigung auf ziemlich wackeligen Beinen steht und auch er austauschbar ist. Alex Russell, der für die Emmy-nominierten Serien „Beef“ und „The Bear“ als Produzent tätig war, begibt sich in die Welt des Glamours und seziert dort die Machtgefälle. In der zweiten Hälfte wird der Film zum Thriller, weil Matthew noch einen Plan in der Hinterhand hat … Das Umfeld des aufstrebenden Stars wird gut und genau geschildert, der Score macht mit gedrechselten Beats und flirrenden Sounds Spaß. Die Villa, in der Olivers Entourage residiert, ist inzwischen durch die Brände in L.A. komplett zerstört.

Nach „Shahada“, „Wir sind jung, wir sind stark“ und „Berlin Alexanderplatz“ ist „Kein Tier. So wild“ (Berlinale Special) der vierte Langfilm von Burhan Qurbani. Seine frühere Arbeit als Dramaturg am Theater schlägt hier mehr durch denn je. Der Film adaptiert Shakespeares „Richard III.“ und verlegt das Szenario in das Berlin der Gegenwart, wo zwei arabische Clans im Krieg miteinander sind. Rashida nutzt die Gunst der Stunde, um durch einen Anschlag die Oberhand zu erlangen und Frieden zu erzwingen. Für sie ist in der patriarchalen Gesellschaft allerdings nicht die Rolle der Königin vorgesehen – sie soll einen langen Frieden durch eine erzwungene Heirat garantieren. Doch Rashida begehrt auf und hinterläßt in einem Spiel aus Intrigen eine Blutspur, bis zum Schluss nur noch Misstrauen und Rache bleiben. Qurbani bewegt sich noch weiter vom Berlin der Gegenwart weg als in Berlin Alexanderplatz. Ein paar Luxuswagen und Motorräder, Baustellen in der Peripherie, Hinterzimmer, Schlafgemache und ein Gerichtssaal – das sind die wenigen Hinweise auf die Wirklichkeit. Ansonsten erbaut der Film ein staubiges Zeltlager auf schummrig ausgeleuchteter Bühne, in dem die Darsteller*innen meist im gleichmäßig dramatischen Tonfall rezitieren und ihnen nur ab und an Alltagssprache rausrutscht. Das wirkt auf 140 Minuten trotz einiger gelungener Bilder etwas ermüdend.

Zum Schluss gibt es mit „Cadet“ („Kadet“) in der Sektion Forum einen kasachischen Horrorfilm über die Leichen im Keller der Sowjetunion. Alina und ihr Sohn Serik kommen in eine Kadettenschule. Sie als Lehrerin für Geschichte, der Sohn als Schüler. Mit seiner weichen Art und den langen Haaren passt Serik allerdings ebenso wenig hierhin wie seine Mutter. Doch Serik, der anfangs gemobbt wird, verändert sich. Er wirkt cooler und auch aggressiver. Dann ereignen sich vermehrt Selbstmorde. Alina befürchtet zunehmend, dass ihr Sohn irgendetwas damit zu tun haben könnte. Der kasachische Autorenfilmer Adilkhan Yerzhanov hat mit seinem neuen Film einen Geisterfilm realisiert, der auch vor Body-Horror nicht zurückschreckt. Langsam erzählt und stilvoll in karger Schneelandschaft inszeniert kriecht die gewalttätige Vergangenheit der Sowjetunion in jeden Winkel der Gegenwart.

Die Jubiläumsberlinale war ein Festival mit ordentlichem Wettbewerb, dem das absolute Highlight aber weitgehend fehlte. Durch die große Not-Sektion „Berlinale Special“ holt man sich weiterhin Prominente zum Festival mit Filmen, die bereits andernorts Uraufführung hatten und somit für den Wettbewerb nicht mehr in Frage kamen. Der qualitative Unterschied zu den anderen beiden A-Festivals Venedig und vor allem Cannes ist offensichtlich. Die Nebensektionen boten allerhand erfreuliche Überraschungen. Und das Alleinstellungsmerkmal der Berlinale, ein großes Festival für das Publikum zu sein, ist abermals in Erfüllung gegangen mit weit über 300.000 verkauften Tickets. Schauen wir, ob die neue Leitung es schafft, im kommenden Jahr das Profil zu schärfen.

PS: War ja klar, dass der Wettbewerbsfilm gewinnt, den ich wegen akuten Schlafmangels am Mittwochmorgen habe ausfallen lassen … „Drømmer“ („Dreams (Sex Love)“) des norwegischen Regisseurs Dag Johan Haugerud.

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