Berlinale 2025 - Berlinale-Retrospektive 2025

Vom Elfenbeinturm ins Bahnhofskino

Photo: Alex Bechberger

Mit einer Retrospektive der Berlinale 2025 unter dem Motto “Wild, schräg, blutig!” verabschiedet sich Programmleiter Rainer Rother von der Berlinale und widmet sich deutschen Genrefilmen und anderen Obskuritäten der 70er Jahre.

 

„Unausgegorene Mischung aus Erwachsenenmärchen und Popkomödie (…) mit einem massiven Aufgebot von schauspielerischen Dilettanten”

“Gangsterkino mit gehäufter Gewalt und leeren Kalendersprüchen”

“Ein deutsches Horrorfilmchen unter Niveau”

“Satirische Komödie (…) die ihre nachdenkenswerte Kritik durch groteske Übertreibungen und dramaturgisch ungebändigte Einfälle sabotiert und schließlich zur Klamotte verflacht”

“Langweiliges Lustspiel ohne Charme und Esprit”

“Das brisante Thema (…) wird völlig instinkt- und gefühllos verspielt”

Was wie Verrisse zu einem schmuddeligen Bahnhofskino-Programm aus dem Jahr 1981 klingt, sind tatsächlich die Bewertungen der Berlinale-Retrospektive 2025 – entnommen aus dem renommierten zehn-bändigen Lexikon des Internationalen Films. Kuratorisch und organisatorisch geleitet wird diese Sektion der Berlinale von der Deutschen Kinemathek.

Deutsche Filmmuseen und Kinematheken gelten in der Regel als Bewahrer der hohen Künste. Während in der ehrwürdigen Brüsseler Cinematek auch mal der Porno Klassiker “Deep Throat” in einer rotstichig-kratzigen 35mm Kopie läuft, wird im Berliner Arsenal Kino eher auf eine digitale Version zurückgegriffen, wenn die Qualität – etwa durch Farbstiche infolge langjähriger, suboptimaler Lagerung – beeinträchtigt ist. Es wird auch in der Regel eher “Ladri di biciclette” (deutscher Titel: “Fahrraddiebe”) oder “L’année dernière à Marienbad” („Letztes Jahr in Marienbad“) als “Blutiger Freitag” und “Lady Vampire” zur Aufführung gebracht. Umso bemerkenswerter, dass sich Rainer Rother – künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek und langjähriger Leiter der Berlinale-Retro – mit dieser wilden Filmauswahl in den Ruhestand verabschiedet.

Als Abschiedsgeschenk sollte der Genrefilm als Teil des deutschen Filmerbes die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Filme, die in Vergessenheit geraten drohen, sollten zurück ins Rampenlicht geholt, beziehungsweise auf die Leinwand projiziert werden. Denn das Verschwinden kann hier durchaus wörtlich genommen werden. Die Filmrollen, die sich in Archiven und privaten Sammlungen stapeln, zersetzen sich unaufhaltsam, wenn nicht nach ihnen geschaut wird. Der bis in die 50er Jahre übliche Zelluloidfilm verabschiedet sich sogar noch dramatischer, indem er explosionsartig in Flammen aufgeht. Bedeutende Archive und Kinos wurden durch diese leicht entflammbaren Filme beschädigt oder sogar zerstört.

Die Geschichte des Films in Deutschland begann bereits 1895, als im Berliner Varieté Wintergarten eine Aufführung von Kurzfilmen der Brüder Skladanowsky stattfand. Seitdem wanderten geschätzt 170.000 Titel ins zuständige Bundesarchiv. Angesichts dieser Masse ist es wenig überraschend, dass nicht alle Filme restauriert und digitalisiert werden können. Doch die Zeit läuft davon und die Mittel reichen längst nicht aus, um den physischen Bestand zu retten. Die Berlinale-Retrospektive rückt sie ins Schaufenster, verleiht ihnen neue Relevanz und kann dazu beitragen, dass sie in den nächsten Fördertopf für Restaurierungen aufgenommen werden.

“Wild, schräg, blutig!” – Warum sind die Filme heute noch relevant?

 

Blutiger Freitag | Bloody Friday Land: BRD, ITA 1972 Regie: Rolf Olsen Bildbeschreibung: Raimund Harmstorf, Daniela Giordano, Gianni Macchia Sektion: Retrospektive 2025 Quelle: Deutsche Kinemathek, © Lisa Film Photo courtesy of Berlinale

 

“Gangsterkino mit gehäufter Gewalt und leeren Kalendersprüchen”

„Blutiger Freitag“, Rolf Olsen, BRD 1972

Ein skrupelloser Bandenführer wird von zwei Kumpanen aus dem Gefängnis befreit, um danach einen Bankraub zu planen, dessen Scheitern von Anfang an vorprogrammiert ist. Je öfter der mit einer sehr engen Lederhose bekleidete Wüstling die Genialität seines Plans herausposaunt, desto mehr blutüberströmte Leichen türmen sich vor dem geistigen Auge am Ende des Films auf.

Olsen, der sich zuvor als Regisseur zwischen Schlagerfilm, Heinz Erhardt Klamotte und seichtem Krimi bewegte, hat sich hier an einer deutschen Version des italienischen Polizeifilms (Poliziottesco) versucht. Der Film zeigt mit dokumentarischen Einsprengseln ein düsteres Bild der Gesellschaft. Nihilismus, Polizeiversagen und eine allgegenwärtige Gewaltspirale – ganz im Stil von Regisseuren wie Umberto Lenzi oder Fernando Di Leo.
Fast nebenbei ist der Film auch ein seltenes Zeitdokument, dessen dreckige, realistische Inszenierung das Westdeutschland der frühen 70er einfängt.

 

“Das brisante Thema (…) wird völlig instinkt- und gefühllos verspielt”

„Mädchen Mit Gewalt“, Roger Fritz, BRD 1970

Zwei Männer aus München, Mike (Arthur Brauss) und Werner (Klaus Löwitsch), beide um die 30, fahren mit einer jungen Studentin Alice (Helga Anders) zu einem nächtlichen Bad an einen See. Obwohl sie mit den Freunden des Mädchens an einem Baggersee verabredet sind, bringen sie sie unter einem Vorwand zu einem Tümpel in eine abgelegene Kiesgrube. Was in einem Poliziottesco innerhalb weniger Minuten abgehandelt wäre, wird hier 70 Minuten lang ausgedehnt: Es wird gesoffen, geflirtet, gebadet. Als sie ahnt, dass sie hinters Licht geführt wurde und ihre Freunde nicht mehr kommen werden, unternimmt sie einen Fluchtversuch. Doch sie kommt nicht raus aus dem Gefängnis der Kiesgrube und wird schließlich brutal vergewaltigt. Als sie droht, die Polizei zu verständigen, bleibt Mike ganz gelassen und führt ihr exemplarisch vor, was sie im weiteren Verlauf nach ihrer Anzeige an Demütigung erwarten dürfte:

– Warum sind Sie mit den beiden, Ihnen unbekannten Männern ins Auto gestiegen?
– Was haben Sie bezweckt, als Sie nackt baden gegangen sind?
– Der Herr mit Festanstellung, der sich nie etwas zuschulden kommen lassen hat, gab an, dass es sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt hat. Welche Gegenbeweise können Sie anbringen? Usw.

Schließlich verzichtet sie, selbst als freundlich wirkende Polizisten am Tatort auftauchen und ahnen, dass etwas vorgefallen ist, auf eine Anzeige.

Vordergründig ein brutaler Exploitation-Film, richtet der Film die Lupe auf die Mechanismen des Rechtssystems und die daraus folgende psychologische Gewalt, die 1970 wie heute Frauen davon abhält, ihre Vergewaltiger anzuzeigen.

 

„Spielfilm (…), der privates Milieu, Einflüsse des amerikanischen Genrekinos und Lebensgefühl der frühen 70er Jahre zu einer ironischen und melancholischen Kriminalgeschichte verbindet“

„Fremde Stadt“, Rudolf Thome, BRD 1972

Ein Meta-Film, erschaffen von leidenschaftlichen Kinogängern (Drehbuch: Max Zihlmann), die den geschätzten amerikanischen B-Movies und der unvermeidlichen Nouvelle Vague ihren eigenen utopischen Spin geben.

Ein Mann mit Trenchcoat (Roger Fritz als deutscher Alain Delon) kommt mit einem Koffer voller Geld, erbeutet bei einem Bankraub in Düsseldorf, nach München, steigt zunächst unter neuer Identität im Hotel unter, nimmt dann Kontakt zu seiner Ex-Frau (Karin Thome) auf, die mithilfe ihrer psychologischen Praxis das Geld waschen soll. Auf den Fersen des Koffers sind Polizei und verschiedene Erpresser, die alle ihren Anspruch an dessen Inhalt anmelden. Anfangs wandelt unser Eiskalter Engel fast beiläufig durch die Handlung, der Fokus liegt eher auf Nebenfiguren und Details als auf dem Krimi-Plot. Als am Ende alle Parteien auf einem verlassenen U-Bahnhof, gefühlt um 12 Uhr Mittags aufeinandertreffen, wird mit den Gangsterfilm-Klischees gebrochen. Anstatt in einem blutigen Showdown zu eskalieren, löst sich der Konflikt auf unerwartet versöhnliche Weise auf, das Geld wird (Achtung Spoiler!) unter allen Parteien aufgeteilt.

Nelken in Aspik | Carnations in Aspic Land: DDR 1976 Regie: Günter Reisch Sektion: Retrospektive 2025 © DEFA-Stiftung / Rudolf Meister Photo courtesy of Berlinale

“Satirische Komödie (…) die ihre nachdenkenswerte Kritik durch groteske Übertreibungen und dramaturgisch ungebändigte Einfälle sabotiert und schließlich zur Klamotte verflacht”

„Nelken In Aspik“, Günter Reisch, DDR 1976

Bei diesem DEFA Film durften die Gewerke sämtliche Register ziehen. Heraus kam eine knallbunte Satire über den absurden Alltag in der DDR. Im Zentrum steht eine staatliche Werbeagentur, in der ein Angestellter (Armin Müller-Stahl) nach einem plötzlichen Stimmverlust von seinen Vorgesetzten als besonders tiefsinnig wahrgenommen und kurzerhand befördert wird. Die Systemkritik ist hier in den Schutzmantel der Komödie gehüllt: Der Film macht sich mit greller Überzeichnung über die Missstände der DDR lustig. Schon der Vorspann setzt den Ton – eine spektakuläre, poppige Montage, in der die Titel auf Werbetafeln, Plakaten und einer Filmrolle, ausgelegt bis zum Kino Kosmos, präsentiert werden. Reinhard Lakomy begleitet dies musikalisch und trällert fröhlich: “Werbung für d​en Wartburg i​st der reinste Hohn. Willst d​u einen kaufen, kriegt i​hn erst d​ein Sohn.“

Solche Spitzen ziehen sich durch den ganzen Film. Eine Angestellte beklagt etwa, dass der neue Flughafen schon am ersten Tag kaputt ist. Ein Psychologe rät dem neuen Agenturleiter: “Jede Dynamik vermeiden, nur noch Stille, absolute Ruhe, kein Ton, kein Tönchen, kein Seufzer, Arbeit einstellen. Und nicht vergessen, im ersten Quartal werden laut Plan die Fehler um 13,2 Prozent gesenkt.”
Als logischer Höhepunkt folgt die „Weiße Werbewoche“, in der sämtliche Werbeflächen einfach übermalt werden. Die Bilanz: gewaltige Einsparungen – und allgemeine Zufriedenheit.

Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, dass die Zensur den Film passieren ließ, dies hatte aber durchaus System. Viele DEFA-Regisseure nutzten den Schutz der Komödie: Was als harmloser Scherz getarnt war, wurde oft toleriert, solange die Botschaft nicht zu offen war. Ähnlich lockere Zügel gab es auch beim DEFA Kinderfilm. In Heiner Carows „Ikarus“ etwa träumt ein Junge davon, einfach davon zu fliegen.

 

 

Alle Filme der Berlinale Retrospektive 2025

Kostenloses Streaming Angebot der Deutschen Kinemathek, ergänzend zur Retrospektive (bis 30.4.2025)

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