Thank Me Later w/ All Diese Gewalt
„Ich weiß, ich bin allein und werde es immer sein / Ist schon okay / Ich weiß, ich bin zu viel / Ein gehetztes Tier / Das unterscheidet mich von dir / All das, was ich vergesse taucht aus den Tiefen wieder auf / Egal was ich verdränge / Drängt sich weiter auf / Egal was ich verschlinge / Spucke ich wieder aus / Halte mich nicht auf.“
Das neue Album von Max Riegers` Soloprojekt All Diese Gewalt eröffnet wenig zimperlich, und diese ungefilterte Direktheit – Riegers Königsdisziplin – wird im Verlauf der folgenden Songs auch nicht abnehmen. Im Gegenteil. Nie war Rieger klarer, musikalisch wie lyrisch, und mit Blick auf den bisherigen Output ließ sich diese Entwicklung vielleicht erahnen – erst verschwand das Ausrufezeichen im Namen, dann sämtliche Hemmungen. Während die Anfänge mit reduziertem Lo-Fi-Appeal noch düstere Bilder malten, wuchsen die Songs mit den Jahren mehr und mehr zu satten, komplexen Klangwelten heran, mit dem vorliegenden Werk als (vorläufigem) Höhepunkt. Auf „Andere“ hat Rieger sich endgültig allem entledigt, was ihn als Künstler definierbar machen und damit unnötig limitieren könnte.
Der Knalleffekt kommt bekanntlich zum Finale. Abgesehen vom grandiosen Move, den Titeltrack des ganzen Albums an den Schluss zu setzen, überrascht einmal mehr das musikalische Spektrum. Rieger führt All Diese Gewalt in eine Disco kurz vor dem Putzlicht und damit in nie gekannte Gefilde. Funkelnd, schwelgend, sehnsüchtig – und ziemlich großartig. Wenn „Andere“ nach knapp 40 Minuten mit der allseits bekannten Fehlermeldung „mobile device not found“ zum Ende kommt, klingt das „ready to pair“ wie eine versteckte Botschaft an die Welt und irgendwie auch wie der ausgleichende Gegenpol zum Opener. Kudos!
Der Tagesspiegel nannte Rieger einmal den deutschen Rick Rubin. Ob sich ein sämtliche Schubladen konsequent ablehnender Künstler über solche Vergleiche freut sei dahingestellt, die Absicht war sicher eine gute. Der gebürtige Esslinger, der heute in Neukölln lebt, avancierte in den letzten Jahren, ähnlich dem berühmten Zauselbart, zur Geheimwaffe der Musikszene. Jedenfalls des Teils, der einem nicht ständig aus den Formatradios entgegenkläfft: Drangsal, Ilgen-Nur, Jungstötter, Friends Of Gas, Wolf Mountains, Mia Morgan, sie alle setzen auf Rieger als Producer. Kein Wunder, denn wer schon in den eigenen Bands zwischen Post-Punk (Die Nerven), Metal (Obstler) und Electronica (Jauche) so selbstverständlich hin und her springt, beweist das einzig sinnvolle Verständnis für Genregrenzen: Verzichtbarkeit. Riegers Produktionen eint eine merkwürdige Unmittelbarkeit, sie scheinen dem Hörer aus dem Lautsprecher regelrecht entgegen zu springen; je nach Intention wütend an oder zärtlich um den Hals. Sie sind maximal unterschiedlich aber eben nie egal. Etwas besseres konnte der heimischen Musik gar nicht passieren.
Selbstredend ist die Frage nach den musikalischen Einflüssen und den privaten Highlights entsprechend spannend und ein neues Album ist ein wunderbarer Anlass, um eine solche Playlist zu erbitten. Hier addiert Rieger dann auch noch absolute Effizienz zur Liste seiner Fähigkeiten, denn zackiger hat uns wirklich noch niemand seine Playlist vorgelegt: keine 24 Stunden nach unserer Anfrage präsentiert Max ein beinahe erwartbar buntes Sammelsurium; von persischer Folklore über Justin Timberlake und Depeche Mode bis zu einem Auszug aus Schuberts „Winterreise“. Mehr geht nicht. Max nimmt euch netterweise auch noch an die Hand und führt persönlich durch seine Auswahl:
Ebrāhim & Royal Orchestra: Bidād – Homāyun
Das hier sind über hundert Jahre alte Aufnahmen aus dem Iran. Ich finde sie klingen unglaublich.
Alessandro Cortini: Momenti
Cortini ist der Keyboarder der Nine Inch Nails and you can tell. Mein Vater meinte, das sei ihm zu sehr Computermusik aber ich bin mir nicht sicher ob hier überhaupt überhaupt ein Computer involviert war …
Justin Timberlake: Lovestoned / I Think She Knows
Diese Timbaland-Produktion ist sehr gut gealtert wie ich finde. Der Übergang in die zweite Hälfte des Songs …… 😎👍
Burial: Archangel
Never gets old.
Amnesia Scanner: AS A.W.O.L
Das Ende der Musik; im besten Sinne.
Talk Talk: Life’s What You Make It
Talk Talk ist mein ständiger Begleiter in den Monaten September bis März seit mehreren Jahren. Das hier ist die Band an der Schwelle zu ihrem Meisterwerk „Spirit Of Eden“ und popmäßig eventuell der Zenith.
Matthew Herbert: Milan
Herbert verbringt eigentlich seine Zeit damit, mit Aufnahmegeräten hinter Mastschweinen herzulaufen und ihr Leben zu vertonen („One Pig“) oder aus einem zugenagelten Sarg heraus unvollendete Mahler-Sinfonien neu zu bearbeiten („Mahler x recomposed“), aber hier hat er mal Songs geschrieben und sie sind super.
Bon Iver: ____45_____
Für mich DER Gamechanger vor ein paar Jahren. Immer noch unglaublich.
Franz Schubert: Der Leiermann, Op. 89, No. 24, D. 911
Das hier kenne ich aus einem meiner Lieblingsfilme: „Brügge sehen und sterben“ und ich mag, wie es vor sich hin mäandert.
Frank Ocean: Bad Religion
Abgesehen davon, dass ich alles von ihm super finde, gibt es hier einen Akkordwechsel zu Beginn des Refrains der mich jedes Mal aufs Neue komplett umhaut.
The Cinematic Orchestra: A Promise
Wenn hier nach acht Minuten dieses Schlagzeug reinkommt 😳😳😳
Depeche Mode: In Chains
Ich liebe die Oszillatoren die sich erst gegeneinander verstimmen und dann treffen. Auch ansonsten ein toller Song.
Fugazi: I’m So Tired
Das am schönsten verstimmte Klavier der Welt.“
Vollste Zustimmung! Wir entlassen euch mit dieser Playlist – und dem dringenden Rat zum neuen ADG-Album – in ein hoffentlich geschmeidiges Wochenende.
Passt auf euch auf!