Album der Woche

Brausepöter „Frei von all dem hier“

3. November 2025,

Brausepöter
„Frei von all dem hier“
(Grand Hotel van Cleef / VÖ 14.11.2025)

Der Kollaps der Realität, ausgelöst von der Band Brausepöter. Deutschland und Österreich trennt bekanntlich die gemeinsame Sprache. Als Sohn Südösterreichs sind mir zwar die legendären Punk-Frühanwender Brausepöter bekannt, doch die Bedeutung des Bandnamens war mir lange Zeit nicht geläufig. Erst kürzlich klärte mich Martin Lück, Gründungsmitglied und Mastermind der ostwestfälischen Punklegende, bei einem Gespräch in Hamburg auf: Brausepöter bedeutet Schwachkopf. Gut, hätte man wahrscheinlich auch googeln können. Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Und so kompliziert ist ein Gespräch mit Martin Lück nun auch wieder nicht.
Apropos Lück: Er und seine beiden Mitstreiter sind laut eigenen Angaben die älteste bundesdeutsche Punkband, die immer noch in Originalbesetzung existiert. Klingt erst einmal gut erfunden. Trotzdem neige ich dazu, diese Legende im Register der gefühlten Pop-Wahrheiten abzuheften. Zumindest konnte ich trotz langen Grübelns keine BRD-Punkband aus den späten 1970ern nennen, die immer noch mit demselben Personal wie anno dazumal aufläuft.
Die Geschichte von Brausepöter ist auch die Geschichte der Provinz, die in der Frühzeit der Neuen Deutschen Welle interessante Gegenentwürfe zu den Szenen in den Metropolen lieferte. Man denke nur an The Wirtschaftswunder und Die Radierer aus Limburg oder an S.Y.P.H. aus Solingen. Auch zahlreiche Vertreter:innen der kommerziell erfolgreichen NDW kamen „vom Land“ – etwa Extrabreit aus Hagen oder Hubert Kah mit Kapelle aus Reutlingen.
Brausepöter entstammten der Stadt Rietberg. Sie gehört zum Kreis Gütersloh im Regierungsbezirk Detmold und liegt irgendwo zwischen Paderborn und Bielefeld. Sehr früh, nämlich bereits 1978, spielte die Band dort Punk mit deutschen Texten. Zuerst firmierte sie unter dem sehr guten Bandnamen Norddeutsches Eiterlager, ehe sie sich in Brausepöter umbenannte. Ein erstes Tape erschien 1979 im Eigenvertrieb, 1980 brachte die Band eine Single bei Alfred Hilsbergs Zickzack-Label heraus. 1981 war die Band im ARD-Film „Neue Welle“ zu sehen. Im schicken Schwarzweiß spielte die Band ihren Song „Bundeswehr“.
Das Video ist ein charmantes Dokument aus einem Land vor unserer Zeit und zeigt eine junge Band, die mit kleinen Mitteln Großes schafft. Der Song ist ein vergessenes Juwel, eine funkelnde Fußnote, ein helles Echo aus einer anderen Zeit. Hier traf rasender Stillstand auf beherzten Enthusiasmus und auf einen unschlagbaren Refrain. Punk war im Song „Bundeswehr“ noch nicht zum Genre erstarrt, sondern ein zappelndes Bündel voller Energie, das nicht wusste, wohin, aber vor Attitüde und Trotz beinahe platzte. Brausepöter waren unbesiegbar jung. Die Zukunft sah rosig aus. Doch der Schein trog. Dunkle Wolken zogen auf. Die Zukunft wird schwarz.
Das Zeitfenster war für Bands wie Brausepöter damals schmal. Binnen weniger Monate kaperte die Industrie die florierende Punkbewegung und kupierte sie zur NDW. Die Schallplattenfirmen fluteten den Markt mit Industrieprodukten. Die Kollateralschäden waren gewaltig. Viele Pionier:innen des deutschen Punks gaben auf. Auch Brausepöter warfen 1982 entnervt das Handtuch. Wenige Monate später brach der Markt für deutschsprachige Popmusik endgültig zusammen. Deutschland, Katastrophenstaat.
Im 21. Jahrhundert hatte sich die Welt weitergedreht. Was 1983 wie ein endgültiger Untergang wirkte, erschien rückblickend wie eine Spukgeschichte. Auch Brausepöter waren längst in Vergessenheit geraten. Doch halt! In den Nullerjahren geschah Merkwürdiges. Immer öfter fiel in obskurantistischen Auskennerkreisen der merkwürdige Name Brausepöter. Und irgendwann tauchte sogar das „Bundeswehr“-Video auf YouTube auf, was wiederum die Zuspätgeborenen auf den Plan rief. Lebte die Leiche etwa noch? Keine Ahnung, aber wer das Ohr auf ihre Brust legte, konnte einen schwachen Puls erahnen.
Weil Totgesagte länger leben, erhoben sich Brausepöter aus dem Grab und machten sich daran, das Rad der Zeit zurückzudrehen und dabei gleichzeitig in die Zukunft zu marschieren. Seit 2010 spielt die Band wieder live. Auch die alten, nie veröffentlichten Sachen wurden neu aufgelegt. 2019 erschien mit „Nerven geschädigt“ ein Album mit neuem Material. Und heute? Ende 2025 bringen Brausepöter ihr neues Album „Frei von all dem hier“ auf den Markt.
Als ich es zum ersten Mal durchgehört habe, befiel mich der Wunsch, die Geschichte des deutschsprachigen Punks auf der Stelle umzuschreiben. Blöd nur, dass ich gerade ein Buch veröffentlicht habe, das sich auch mit diesem Thema beschäftigt („Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs“ – cheap plug!). Trotzdem: Wer künftig prägende Figuren wie Jürgen Engler, Thomas Schwebel, Peter Hein oder Gudrun Gut nennt, muss im selben Atemzug auch Martin Lück dazusagen. So soll sie sein, die neue Ordnung.
Auf die Schnelle fällt mir nämlich kein deutschsprachiges Punk-Spätwerk ein, das so gekonnt die Frühzeit der Bewegung evoziert wie „Frei von all dem hier“. Erstaunlich ist vor allem, dass die Platte keine Sekunde lang altbacken oder rückwärtsgewandt klingt. Mit Nostalgie haben Lück und seine beiden Mitstreiter nichts am Hut. Die Platte klingt eher so, als wären Franz Ferdinand nach vorn in der Zeit gereist, um so zu klingen wie Brausepöter 1980. Zurück in die Vergangenheit, oder doch vorwärts in die Zukunft? Beides ist offenbar gleichzeitig möglich.
Das ist ein verwirrender wie erschreckender Gedanke. Wollen wir nur hoffen, dass dadurch kein Zeitparadoxon entsteht, das die Gesamtheit des Seins handstreichartig auslöscht. Wobei: Songs wie „Treffen im November“ oder „Muschelvergiftung“ sind es wert, dass man dafür schon mal den spontanen Kollaps des Raumzeitgefüges riskieren kann.
Bevor dieser Text aber endgültig die Schlucht der metaphysischen Ängste hinabstürzt, ziehe ich die Reißleine. Also: Fürchtet euch nicht! Noch steht die Welt. Und Brausepöter sind zurück. Mit einem großartigen Album. Was will man mehr?

Text: Wolfgang Zechner

Wolfgang Zechner ist Journalist und Autor. Er lebt in Wien. Zuletzt ist im Hannibal-Verlag sein Buch „Völlig schwerelos. Glanz und Elend der deutschsprachigen Popmusik in 99 Songs“ erschienen. 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!