Record of the week

Element Of Crime “Morgens um vier”

10. April 2023,

Element Of Crime
“Morgens um vier”
Vertigo / Universal

Kreisch! Jetzt schreibe ich über das neue Album von Element of Crime und komme mir vor wie ein Dosenfisch, der versucht, zurück ins offene Meer zu schwimmen. Nicht so leicht für jemanden, der immer noch in der süßen Melancholie von „Damals hinter dem Mond“ versinken kann, wie vor über 30 Jahren, als die Repeat-Taste des CD-Spielers gedrückt und die Welt hinter den Fenstern des Jugendzimmers noch weit war. Der jedoch beim Größerwerden allmählich das Interesse verlor – als die Band ein Profil zu entwickeln begann, das verbunden war mit einem Bekenntnis. Musikalisch zum Chanson und textlich zum Liebeslied.

Ein Playlist-Projekt mit Ursula und 16 Folgen des Podcasts „Narzissen und Kakteen“ später weiß ich, was ich verpasst habe: eine Reihe an Glanzlichtern. Egal welches Werk man sich vornimmt, irgendwas strahlt immer. Element of Crime besitzen die Gabe, mit kleinen Geniestreichen eine Welt zu erschaffen. Mal sind es die detailreichen Verzierungen, die ein vertrauter Kreis an Gastmusikern beisteuert, so wie Ekki Busch (Akkordeon) und Rainer Theobald (Saxophon) auf dem aktuellen Album. Mal ist es gerade die lässig zurückgenommene Instrumentierung, die einen Song aufblühen lässt. Fast immer aber geht die Faszination von der lyrischen Kraft der Texte aus.

Man kann sich die Welt von Element of Crime als einen Setzkasten vorstellen, in dem kein Platz mehr ist. Welche Gegenstände aus ihren Kästchen hervorgeholt, wie viele der liebgewonnenen Figuren aus Salzteig und Zinn zum Leben erweckt werden, wissen wir nicht. Aber wir können mit jeder neuen Veröffentlichung davon ausgehen, dass sich die Musiker aus dem Schrank ihrer Erinnerungen bedienen und nicht mehr neu erfinden werden.

Foto: Charlotte Goltermann

Kakteen. Sie stecken in „Narzissen und Kakteen“, ein Song vom Album „Romantik“ (2001), ein Titel mit Aufforderungscharakter. Kakteen sind auch auf den aktuellen Coverfotos zu sehen, die in einem Berliner Gewächshaus entstanden sind. Sie können Sinnbild für alles Mögliche sein, für mich verweisen sie im Kosmos der Elements auf die Mariachi-Trompeten, die auf keinem Album mehr fehlen dürfen. Auch auf „Morgens um Vier“ halten sie Einzug und gesellen sich in „Nur der Anfang“ neben leise aufheulende Gitarren – bis sich eine Trompete aus dem Chor erhebt und der Song plötzlich eine andere Färbung annimmt. Gedanklich eben noch in der Wüste von Sonora unterwegs, öffnet sich ein neuer, ebenfalls vertrauter Assoziationsraum: „Liebling, setz die Segel und fahre mit mir hinaus / Auf das weite, wilde Meer unserer Zukunft“. Wenn im selben Moment Ekki Busch sein Schifferklavier aufzieht, ist das wieder einer dieser magischen Momente. In Verbindung mit der Musik entstehen Bilder, die in den Strom unserer Gedanken einsinken wie ein Anker im Meeressand.

Wer das Video zur Vorabsingle „Unscharf mit Katze“ gesehen hat, wird etwas ganz anderes vor dem inneren Auge stehen haben: (prominente) Menschen, die Rotwein trinken und ungeniert rauchen. Ein Hauch Nostalgie weht durch die Wohnungsparty im Berliner Altbau und beschwört einen Geist aus der Vergangenheit herauf, als die Utopien so greifbar waren wie einst „unterm Pflaster der Strand“. In unseren heutigen „wilden Zeiten“ scheinen die Gewissheiten dahin. Was uns bleibt, sind der Tanz und Lieder. Und der Rückzug in die eigenen vier Wände. Geborgenheit und Halt finden wir auch als Paar: „Wir sind zwei / Wir haben alles was wir brauchen dabei.“ Auf die Liebe scheint Verlass … wäre da nicht diese „Axt in den Händen“ zu sehen.

Der Samen des Zweifels, der schon im Opener gesät wird, keimt in den nachfolgenden Stücken auf. Die Texte können verstanden werden als Variationen eines Themas: die Unbeständigkeit der Liebe. Auch wenn wir ihr davonzulaufen versuchen, lässt sie uns nicht los („Ohne Liebe geht es auch“). Sind wir uns ihrer nicht sicher, sehnen wir sie mit ganzer Kraft herbei – sei es im Stadium des Erblühens, wenn wir noch nicht fest zusammen sind („Nur der Anfang“). Oder in Phasen des Getrenntseins, wenn wir nicht wissen, wie nah dem Verwelken sie womöglich schon gekommen ist („Dann kommst du wieder“).

Das Herz. Es strahlt auch auf diesem Album wie rote Leuchtreklame in der Dunkelheit. Die Liebe in Form erfüllter Gegenwart gibt es hier aber so gut wie nicht. Stattdessen Monologe der Einsamkeit eines zweifelnden oder sehnsuchtsvoll wartenden Ich. Das ist weniger traurig, als es sich anhört. Die Musik ist facettenreich, farbenfroh und schön, und sie vereint die verschiedensten Einflüsse: Jakob Ilja räubert in Bluesgefilden, die Bläser und ein Gospelmoment bescheren uns einen Hauch von Soul. Und auch die Texte bleiben immer einen Spalt breit offen. Je nachdem wie wir gestimmt sind, lässt sich aus Momenten der Hoffnung das Trügerische herauslesen oder das Gegenteil: ein wahrhaftiges Versprechen.

Die Tiere. Es gibt buchstäblich kein Lied auf „Morgens um vier“, in dem sie uns nicht über den Weg laufen: Schildkröte, Biene und Schwein, Vögel verschiedenster Art, Katze, Hahn und Hund. (Wo ist eigentlich der Esel?). Den meisten von ihnen begegnen wir in dem Stück „Dann kommst du wieder“, das sich präsentiert wie ein naturromantisches Wimmelbuch. Gesungen werden die Strophen im Duett. Wenn Sven Regener und Tobias Bamborschke (Isolation Berlin) uns hier mit auf ihre Streifzüge durch Flora und Fauna nehmen, möchte man am liebsten sofort mit dem Apfelmann ins Grüne flüchten. „Die Magnolie wird blühen und der Rasen wird grün / Und der Flieder die Bienen verzaubern / Und die Vögel singen im Vogelbeerbaum ihre Lieder / Und dann kommst du wieder“. Das ist definitiv mein Soundtrack für den Frühling, der sicherlich so bald da ist, wie die angebetete Person zurück.

Musikalisch ebenso herausragend ist der opulente Song „Ohne Liebe geht es auch“. In der Hauptrolle: Richard Pappik. Zusammen mit der um Bluesakkorde kreisenden Gitarre legt der Schlagzeuger mit seinem pointierten Spiel einen groovigen Teppich aus, auf den sich verschiedene Gesangparts legen. Auch hier ist Sven Regener nicht allein: Im Background ertönt die helle Stimme von Petra Bonmassar und die markige Zeile „Am Wochenende gibt’s heute MDMA im Schlussverkauf“ intoniert ein Chor. Weitere Akzente setzt Pappik mit Glockenspielklängen und heftigen Schlägen auf die Pads eines – Achtung! – Drumcomputers. What? Zum krönenden Abschluss packt er die Mundharmonika aus und setzt zu einem epischen Solo an, das im Supertramp-Soundgewand wie ein langsam versinkender Stern am Himmel glänzt. (Wie dieser Song wohl ohne allzu viel zu verlieren live funktioniert? Ich bin gespannt und hege große Hoffnung, dass der Gospel-Chor im Kölner Stadtgarten zum Einsatz kommt.)

Das erste Drittel von „Morgens um Vier“ ist wahrlich eine Wucht. Danach kommt es einem etwas so vor, als hinge man auf der Kirmes in einem zu langsam drehenden Fahrgeschäft fest. Kann auch schön sein, aber einige Stücke im Mittelteil plätschern doch etwas müde dahin. Die repetitiven Grundmelodien könnten sich auch auf einer Miniaturdrehorgel befinden, die verloren in Großmutters Setzkasten steht. Dennoch werden wir auch hier durch verzierende Elemente aus unserer Sonntags-Lethargie gerissen: feierliche Mariachi-Klänge und Schellenkranz („Was mein ist, ist auch dein“), ausgefeilte Gitarrenfiguren und gestopfte Trompeten („Liebe ist nur ein Wort“) oder helles Glockenspielgeklimper („Wieder Sonntag“) lassen immer wieder aufmerken. Einprägsam und sperrig auch die Intonation, wenn Sven Regener Bandwurmsätze wie aus einem Roman über die Zeilen eines Liedes bricht. Sollte nur ein Satz hängen bleibt, dann dieser: „Liebe ist, wie schon Johannes Mario Simmel sagst du, völlig richtig / Eines seiner besten Bücher nannte, nur ein Wort / Und das fehlt dir, sagst du, im Alltag nicht so sehr.“

Wer nun glaubt, Element of Crime hätten nach dem stürmischen Beginn ihr Pulver verschossen, wird spätestens mit dem finalen Titeltrack eines Besseren belehrt. „Morgens um vier“ ist ein Song aus der Zwischenwelt, der sich an Traummotive von „Schafe, Monster und Mäuse“ (2018) anlehnt und auch musikalisch denselben Akkord anschlägt wie das Schlussstück (und Opener) des Vorgängeralbums.

Knapp sieben Minuten dauert dieser melancholische Crooner-Song, den man gern allein in der Schaukel eines gemütlich auslaufenden Kettenkarussells hören möchte – die Beine baumelnd und in die Ferne des Abendhimmels sinnfrei starrend. Sanft werden wir von einer gezupften Gitarre geschaukelt, ein immer wieder ansteigendes Akkordeon brilliert im Duett mit reingetupften Bläsern. Und wer beim Saxophon-Solo kein Gänsehautmoment verspürt, hat vielleicht verpasst, wie es sich – nun schon einige Textzeilen entfernt – zu Beginn des Liedes angekündigt hat. Genial, welche Stimmungen hier wie in einem ablaufenden Film transportiert werden: „Doch die Straßenlaterne vor meinem Fenster hätte ich gerne mal repariert / Erst fünf Sekunden orangenes Licht und das Fensterkreuz als Schattengesicht auf die Wand projiziert / Dann zehn Sekunden dunkel, so geht das seit Stunden, bis einer wie ich den Verstand verliert.“ Man sieht den schlaflosen Protagonisten förmlich vor Augen, wie er vor dem Morgengrauen die Wohnung verlässt und liebeskrank und einsam durch die dunklen Straßen zieht. Bestimmt ist es Berlin, und ich stelle ihn mir in Frack und Zylinder vor, zum hinkenden Takt der Trompete ein Bein hinter sich herziehend. Ist es Captain Ahab oder Harald Juhnke, bin ich ein Dosenfisch und alles war nur ein lieblich vertonter Traum mit unechten Bildern? Ich will es nicht wissen.

Text: Marc Wilde

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