Amöben putschen nicht.
Bald ist Bundestagswahl. Das politische Koordinatensystem ist in den letzten Monaten und Jahren zerbröselt, ganz gleich, ob es für Merkels vierte Amtsperiode doch noch reicht oder Martin Schulz als Arbeiterkaiser aus Würselen reüssiert. Wer die Gründe fürs Zerbröseln sucht, darf nicht da suchen, wo sich lautstark darüber beklagt wird – im Politikbetrieb. In einer Serie, die monatlich bis zur Bundestagswahl fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek die »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten.
Amöben putschen nicht.
Überlegungen zu Formen politischer Handlung im Frühjahr/Sommer 2017
Vor zwei Monaten erschien ein interessanter Artikel, der dadurch noch mal interessanter wurde, dass er eigentlich keinen Widerhall fand. Florian Meinel, der Autorenzeile ist zu entnehmen, dass er »Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Humboldt Universität Berlin studiert«, der Mann ist also vom Fach, stellte eine einfache Frage:
Warum hat Martin Schulz, als im März der Hype um ihn am größten war, nicht die Gelegenheit genutzt und sich von einer rot-rot-grünen Koalition (R2G) zum Kanzler küren lassen?
Und, im zweiten Schritt: warum erscheint uns diese Frage eigentlich so abwegig und realitätsfern?
Man sollte sich, wie Meinel das getan hat, die Frage nüchtern vorlegen und die Einwände durchgehen – sie erweisen sich als gegenstandslos.
Beispiellos? Schulz hätte sich auf mindestens ein historisches Vorbild stützen können: Helmut Kohl, der den Machtwechsel im Herbst 1982 ähnlich kühn durchgezogen hatte.
Vermessen? Schulz hätte seinen politischen Willen, das Land zu regieren, durch entschlossene Tatkraft nur unterstrichen.
Chancenlos? Er hätte Angela Merkel im Sturz düpiert, von dieser Demütigung hätte sie sich nie wieder erholt, die Union wäre in eine schwere Krise gestürzt – die Frechheit Schulzens hätte sie dem Merkel-Lager, also letztlich sich selbst, angelastet –, die sie kopflos in den herbstlichen Wahlkampf getrieben hätte. Auf der anderen, der linken Seite, hätte Schulz durch seinen, hupps!, Willen zur Macht die Linkspartei und die Grünen an seine Seite und unter seine Hegemonie gezwungen.
Fazit: Schulz wäre aus dem Chaos als starker Kanzler hervorgegangen, eben weil er das Chaos selbst angerichtet hat, er hätte die einen (CDU) in, wie Meinel wohl richtig vermutet, »Diadochenkämpfe« gestürzt und die anderen (Linke, Grüne) zur Koalitionsdisziplin gezwungen.
Und wenn er die Wahl im Herbst dann doch verloren hätte? Ja, dann hätte er sie eben verloren! Denn dass er sie beim »ordnungsgemäßen« Gang der Dinge verlieren wird, deutete sich schon mit der verlorenen Landtagswahl im Saarland (26.3.) an und wurde mit desaströsen Wahl in NRW (14.5.) endgültig zur Gewissheit. Verlieren kann man immer, gewinnen kann man nur, wenn man auch kämpft. Eine Phrase. Aber nicht falsch. Es gibt seit spätestens dem 14. Mai keine einzige Kampfparole der SPD.
Warum hatte die SPD nicht Anfang März gehandelt? Und sie hat nicht nur nicht gehandelt, die Möglichkeit, überhaupt in dieser Absicht – Kanzlerinnensturz – zu handeln, war ihr wohl eine Denkunmöglichkeit, gleiches dürfte wohl auch auf Grüne und Linke zugetroffen haben. Also, warum haben sie nicht einmal daran gedacht?
»Ein paar Wochen Hype sind eine kurze Zeit, um die eingeübte subalterne Rolle des Juniorpartners abzustreifen«, vermutet Meinel – handelt es sich demnach um einen Verlust des Machtinstinktes? Schwer vorstellbar, war doch gerade Martin Schulz mit ungeheurem Machtinstinkt an die Spitze der Sozialdemokratie vorgeprescht. Meinel sieht einen anderen, strukturellen Grund für die Mutlosigkeit der SPD und ihrer potentiellen Koalitionspartner. Der Regierungssturz wäre ein parlamentarischer Akt gewesen, eine Selbstermächtigung der Legislative gegen die Exekutive – demokratietheoretisch völlig legitim, bisweilen sogar wünschenswert. Denn in der Legislative sitzen die Volksvertreter, nicht in der Exekutive. Aber die institutionelle Autorität des Parlaments ist erschüttert, wenn nicht ausgehöhlt: »Der Bundestag ist der Ort, an dem die Bundesregierung Statements vorträgt. In Auseinandersetzungen wird sie anderswo verwickelt. Die Ursachen dieser Verschiebung sind im Einzelnen schwer zu benennen, im Groben aber bekannt. Der Kommunikationsvorsprung der Regierung spielt hier ebenso eine Rolle wie ihre Routine, das Parlament vor europapolitisch vollendete Tatsachen zu stellen. Ohnehin tritt das Parlament der Regierung häufig erst nach Aufforderung durch das Bundesverfassungsgericht gegenüber und versteht sich im Übrigen als geräuschlose Legalisierungsagentur der Regierungspolitik.«
Das Argument ist interessant und der Analyse der Involution (der negativen Evolution) demokratischer Institutionen im Kapitalismus, wie sie der anarchomarxistische Politikwissenschaftler Johannes Agnoli ** vor fünfzig Jahren bekannt und ein bisschen auch berühmt gemacht hat (unter dem Label »Transformation der Demokratie«), verwandt: Demnach hat eine Verkehrung stattgefunden, das Parlament, sozusagen der geronnene Volkswille, ist ein Erfüllungsorgan der Regierung, es kontrolliert nicht mehr die Regierung, sondern nickt nur noch ab, das Parlament ist gar nicht (mehr?) der Ort, wo Veränderungen gedacht, gar Umsturzpläne ausgeheckt werden können.
Aber: Es müsste sich ja um Umsturzpläne handeln, die offensichtlich dem gewandelten Volkswillen entsprechen. Und hier ist der Haken: Kam in der SPD vielleicht deshalb keiner auf den Gedanken, Merkel handstreichartig zu stürzen, weil es in der Bevölkerung eben keinen Konsens und keine breite Strömung gibt für einen radikalen Politikwechsel? Denn ein Sturz Merkels wäre als ein solch radikaler Bruch wahrgenommen worden. Eine frisch gekürte R2G-Regierung hätte sofort handeln müssen, um sich selbst zu legitimieren, hätte sofort gewisse Aktivitäten entfalten müssen … nur welche? R2G hätte die Flucht nach vorne antreten müssen und allein schon, um sich von Merkel abzugrenzen (es muss schließlich Gründe gegeben haben, sie zu stürzen), eine klassisch sozialdemokratische Umverteilungs- und Regulierungspolitik, wie sie Jean-Luc Mélenchon und Jeremy Corbyn im Sinn haben, in Angriff nehmen. Diese – langfristig gesehen konformistische und bestimmt nicht strukturell antikapitalistische Politik – würde aber hier und jetzt den tatsächlich herrschenden Konsens der Sozialpartnerschaft in Deutschland zerstören, das Land wäre auf einen Schlag gespalten (undenkbar, dass nach einem gescheiterten R2G-Experiment die SPD umgehend wieder zum Juniorpartner in eine großen Koalition werden könnte), eine Situation, die es in Deutschland zuletzt 1918/19 oder gar 1848/49 gegeben hatte, und die von nahezu allen politischen, kulturellen und medialen Akteuren als Zustand der Unregierbarkeit angesehen würde.
Das Nicht-Handeln der Sozialdemokratie entspricht dem Nicht-Wunsch nach Veränderung in der Bevölkerung, die Schwäche der Parlaments kann man zwar, wie der Verfassungsrechtler Meinel das getan hat, immanent darstellen, aber schlussendlich nicht immanent erklären. Die Kritik der Exekutive entpuppt sich als Fixierung auf den Parlamentarismus.
Das Nicht-Handeln verweist also auf die Passivität der Bevölkerung (resp. die haltlose Zersplitterung ihrer Interessen, wofür exemplarisch der innerlinke Streit steht, ob man sich in den letzten Jahren zu sehr auf Gender-, Öko, Kultur- und Minderheitenfragen und zu wenig auf ArbeiterInnenrechte konzentriert habe: als ob es da einen Widerspruch gäbe! Trotzdem wird er »gefühlt«, und das ist das Problem …), aber die wirklich wichtige Frage ist natürlich, ob das Parlament überhaupt die angemessene Form wäre, einen entschiedeneren Änderungswillen zu artikulieren und durchzusetzen. Selbst wenn es im Parlament zu einem rot-rot-grünen »Aufstand« gegen Merkel gekommen wäre, hätte es einer gesellschaftlichen Kraft außerhalb des Parlaments bedurft, um diesem »Aufstand« die eigentliche Legitimität zu verleihen. Niemand weiß, wie die aussehen könnte, und vor gesellschaftlichen Kräften außerhalb der bürgerlichen Institutionen haben die Sozialdemokraten seit mindestens 120 Jahren eine heilige Angst. So gesehen war ihr Nicht-Handeln, sogar ihr Nicht-Denken, auf dem kurzen Höhepunkt des Schulze-Hypes richtig – nämlich richtig falsch.
Aber der Hype um Martin Schulz war doch real? Ja, aber ohne einen tieferen Bezug zu anderen sozialen Ereignissen. Die Bezugslosigkeit von öffentlichen Akten ist ein Merkmal unserer Zeit (lesenswert in dieser Zusammenhang ist Baudrillards Abrechnung mit linken Handlungsillusionen: »Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder das Ende des Sozialen«, das Original stammt von 1978). Sie stehen nicht mehr in einem engen Ableitungsverhältnis mit anderen Ereignissen. Ihre Verbindung untereinander ist oberflächlich, anlassbezogen. Diese Akte sind weder als eine Konsequenz in einem strengen moralischen oder politischen Sinn zu verstehen noch zeugen sie ihrerseits eine.
Um mal einen großen Sprung zu machen: Derzeit werden in linken Kreisen die freiwilligen Putztruppen, die am 9. Juli das angeblich heillos verwüstete Schanzenviertel aufräumten, verspottet. In einem Diskussionsbeitrag für die Jungle World sprach ein Politaktivist von der »freiwillige(n), lustvolle(n) Unterwerfung des Putzmobs« und attestierte ihm einen sado-masochistischen Charakter. Really? Die Wette sei gewagt: Die wenigsten Leute, die sich an jenem Sonntag mal wieder von sich selbst berauscht durch das Schulterblatt bewegten und teilnahmsvoll feudelten, wären für eine Schließung der Roten Flora. Die Leute, die da geputzt und repariert haben, dürften sich als mündige Zivilgesellschaft verstanden haben, für die die Krawalle einen Anlass boten, sich als Zivilgesellschaft zu präsentieren, die aber wohl kaum auf sie gewartet haben dürften, um sich freiwillig und lustvoll den Deutungen von Polizei und Hamburger Senat zu unterwerfen. Wer ihnen diese Unterwerfungslust unterstellt, konstruiert einen strengen Handlungszusammenhang und ein Sinnkontinuum, die es sehr wahrscheinlich gar nicht gibt. Über Facebook und andere antisozialen Netzwerke lassen sich offensichtlich schnell amorphe Masse mobilisieren, die ebenso schnell in ihre voneinander isolierten Einzelbestandteile zurückfallen. Die Frage ist, ob man hier überhaupt noch mit psychoanalytischer Kritik (»sadomasochistisch«) oder politischer (»Unterwerfung«) weiterkommt, arbeiteten die sich doch an der Härte – oder Verhärtung – der Subjektform ab. Und wenn sich diese Verhärtungen in den fluiden Formen der Netzwerke und Ad-hoc-Mobilisierungen aufgelöst haben?
Eine gute Nachricht wäre das nicht. Entropie statt Dystopie. Für den Bewusstseinsstand »BRD 2017« sind nicht reaktionäre Gelüste auf breiter Front noch eine Aufbruchsstimmung, die sich gar parteipolitisch artikulieren und an SPD, Grüne und Linkspartei heften würde, charakteristisch, sondern der fortschreitende Zerfall einer gemeinsam geteilten Öffentlichkeit. So paradox muss man das ausdrücken: Der Hype um Martin Schulz war deswegen real, weil er von Anfang an folgenlos bleiben sollte. Tatsächliche Veränderung? Viel zu anstrengend. Stattdessen feiert man einen »Erlöser«, der acht Wochen später schon wieder umschalten muss und eine Strategie zu entwickeln hat, wie die SPD weiterhin als Juniorpartner in einer großen Koalition ihren Platz finden kann.