Die Minderheit der Mehrheit – über die Elite des Gegenglobalismus
Im Herbst ist Bundestagswahl. Das politische Koordinatensystem ist jetzt schon zerbröselt, ganz gleich, ob es für Merkels vierte Amtsperiode doch noch reicht oder Martin Schulz als Arbeiterkaiser aus Würselen reüssiert. Wer die Gründe fürs Zerbröseln sucht, darf nicht da suchen, wo sich lautstark darüber beklagt wird – im Politikbetrieb. In einer Serie, die monatlich bis zur Bundestagswahl fortgeführt wird, analysiert Felix Klopotek die »Politik der Mitte«, in der sich Aufstieg und Niedergang der politischen Moral exemplarisch verdichten.
Die Minderheit der Mehrheit – über die Elite des Gegenglobalismus
415.000 – so viele Deutschtürken mit türkischem oder Doppelpass haben am 16. April für Erdogans Präsidialdiktatur gestimmt. Das sind 63 Prozent aller in Deutschland abgegebenen Stimmen – bei einer Wahlbeteiligung, die hier bei 48,73 Prozent lag.
Viele Versuche, diese Zahlen angemessen zu relativieren – etwa mit dem Hinweis auf die überwältigende Indifferenz der meisten Wahlberechtigten oder mit dem auf die widersprüchliche Haltung vieler Erdogan-Wähler, die bei einer Abstimmung in Deutschland mehrheitlich vermutlich die SPD wählen würden – sind, wie zu erwarten, empört zurückgewiesen worden. Schließlich geht es nicht um nüchterne Einordnung, sondern um Kulturkampf. Regina Mönch* sprach in der FAZ von »jener Migrantengruppe, die sich zu Hunderttausenden in parallelen Welten abschottet, deren Sprachnot von Generation zu Generation weitergegeben wird, was die Chancen ihrer Kinder immer wieder von neuem einschränkt« und bezeichnete das Wahlverhalten resp. die damit (angeblich) verbundene Haltung als »langsam wirkendes Gift« in unserer Gesellschaft. Stichwort Sprachnot: Die Ergebnisse von Bildungsstudien weisen andere Zahlen auf und zeugen von einer Annäherung der türkischstämmigen Schüler an den Durchschnitt (auch das steht in der FAZ).
Und die legendäre Parallelgesellschaft? Die NPD hat noch bei der letzten Bundestagswahl, als bereits die AfD kandidierte, 561.000 Stimmen bekommen. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich hier »Hundertausende in parallele Welten abschotten« und in ihren nazionalistischen Familien nicht nur Sprachnot weitergeben, sondern auch Hass.
Bleiben wir aber bei den 415.000 Erdogan-Wählern – natürlich darf man beunruhigt sein, weil sie ihre Stimme nicht still und heimlich abgegeben haben. Die Wahlkampagne war auch hierzulande von lautem nationalistischen Getöse begleitet, von dem eine einschüchternde Wucht ausging – Erdogans Wähler, so die Botschaft, sind der dynamische Teil der türkischen Community, sie sind hegemonial, haben zwar nicht die absolute Mehrheit inne, aber die gesellschaftliche. Die entscheidende Beobachtung machte Jörg Lau in einem Kommentar für die ZEIT (Print-Ausgabe vom 20. April): »Es sind interessanterweise junge Leute aus der dritten Generation, die den Kern jener national-islamischen Bewegung ausmachen, die in deutschen Städten Erdogans Wahlsieg organisiert hat. Unter ihnen finden sich viele Akademiker, eloquente Juristen und Jungakademiker, die in Talkshows flüssig erklären können, warum die Abschaffung alles Checks and Balances im neuen Präsidialsystem ein Meilenstein für die türkische Demokratie ist.« Lau kommt zu dem Schluss: »Sie wollen die Fusion aus nationalem Sendungsbewusstsein und islamischer Renaissance.«
Warum das ein instruktiver Hinweis ist? Die empirische Diskussion um die Wiederkehr der »starken Männer« (und der einen »starken Frau«, nämlich Marine Le Pen) kreist bekanntlich um die Frage, wer ihre Wähler sind und mehr noch: wer den Kern jener gesellschaftlichen Bewegung ausmacht, die die »starken Männer« von (medialem) Erfolg zu (Wahl-)Erfolg eilen lässt. Die einen sagen: Es sind die Abgehängten, die verelendeten Arbeiterinnen und Arbeiter, die Leute aus den verödeten Produktionsstätten in der Provinz. Dafür gibt es belastbare Zahlen und mit Eribons »Rückkehr nach Reims« auch einen soziologischen Bestseller. Die anderen weisen darauf hin, dass die AfD mitnichten eine Arbeiterpartei ist und dass Trump in besserverdienenden Einkommensgruppen überdurchschnittliche Stimmerfolge erzielte. Beide Seiten haben recht und greifen doch zu kurz. Man kann dieses Wechselspiel weitertreiben und wird in jedem Land – BRD, UK, USA, Türkei, Polen, Frankreich, Italien … – eine andere Konstellation des populistischen Erfolges vorfinden, die aber immer um diese beiden Pole kreist.
Jeder Pol allein für sich genommen taugt aber nicht zur Erklärung: Es existiert kein gesellschaftliches Naturgesetz, wonach abgehängte Arbeiter – selbst wenn sie aus einem ursprünglich sozialdemokratischen oder kommunistischen Milieu kommen, in denen es recht autoritär und nationalistisch zuging – heutzutage ganz offen nationalkonservativ bis neofaschistisch wählen. Ebenso wenig existiert eins, wonach Teile der Elite, die sich einem radikaleren Konkurrenzkampf um Jobs, Einfluss und Status als früher ausgesetzt sehen, sich ihrerseits radikalisieren und rechtsradikal werden. Die kritische Masse, die jene Dynamik – Sturm und Drang – entfacht, die 415.000 Erdogan-Stimmen in Deutschland so gefährlich aussehen lässt, entsteht erst durch das Bündnis des nervösen Teils der Elite mit den Massen (die dadurch erst zum Mob werden, zur willigen Manövriermasse, der man nach einer Phase des Einpeitschens gar nicht mehr viel befehlen muss). Jene gut ausgebildeten, alerten Nationalislamisten der dritten Einwanderergeneration sind innerhalb der Mehrheit der Erdogan-Wähler die Minderheit – zahlenmäßig käme es auf sie nicht an. Aber es kommt auf sie an, wenn es darum geht, hier hat Jörg Lau ein treffendes Wort gefunden, eine Kampagne zu organisieren.
In einer diskursiven Doppelbewegung entmündigen sie die Masse – gehen davon aus, dass sie keine originäre Stimme hat – und verleihen ihr eine Stimme, sprechen darin ihre geheimsten Wünsche aus. Umgekehrt ist es erst die Masse, die diese Elite aus dem unübersichtlichen Gewimmel der freischwebenden, heute sagt man: prekären Intellektuellen hervortreten lässt. Wie die verhassten Neoliberalen, Zivilgesellschaftler und Globalisten will diese Elite eine Auflösung von Staatlichkeit, die der Tendenz nach nur noch die repressiven Funktionen der Staatsmacht übriglässt, aber nicht zugunsten von Globalisierung und individuellem Aufstieg in einer Welt ohne Bindungen und ohne Grenzen: Sie will im Gegenteil Begrenzung und überträgt die Sozialhygiene vorstaatlichen – oder sogar antistaatlichen – Institutionen wie Religion, Familie, Volksstamm. Die »Fusion aus nationalem Sendungsbewusstsein und islamischer Renaissance« (Steve Bannon oder Beatrix von Storch würden mutatis mutandis von christlicher sprechen) ist in höchstem Maße kapitalisiert, diese Fusion soll das Schmiermittel für ein erfolgreiches Geschäftsmodell sein – »ökonomischer Nationalismus«, wie es Bannon formuliert hat. So borniert und zwergenhaft die Vorstellungen von dieser Fusion sich ausnehmen mögen – Björn Höcke etwa hat ja genaugenommen von Deutschland überhaupt keine Vorstellung, sondern kann sich darunter nur Thüringen und Sachsen (überzuckert mit ein bisschen unverbindlichem Preußenkitsch) vorstellen –, es sind, wenn auch negativ formuliert, Weltmarkt-Ideologien, Zurüstungen für den globalen Konkurrenzkampf.
Der Kampf dieser Elite gegen den Globalismus ist ein Gegenglobalismus. Er verlässt nie den Rahmen des internationalen Kapitalismus, in den jeder nationaler unweigerlich integriert ist. Der Traum dieser Elite ist eine natürliche Wirtschaftsordnung, die Idylle des klassischen Freihandels: Jede Nation produziert das, was sie am besten ( = billigsten) kann; und jeder kauft dort ein, wo es für ihn am günstigsten ist. Eine Win-Win-Situation. Das ideologische Gegenstück dazu ist, Überraschung!, der Ethnopluralismus: Jede Ethnie ist gleichberechtigt und hat ihren angestammten geographischen Platz, das Unglück setzt erst mit Einmischung und Vermischung ein. Diese Freihandelsidylle hat es historisch nie gegeben, auch im 19. Jahrhundert nicht. Sie war ein Konstrukt, das nur die berühmte logische Sekunde bestandhatte und dann unter dem Druck einer ganz anderen Dynamik, der Akkumulationsdynamik des Kapitals, zusammensackte. Weswegen die Elite der natürlichen Wirtschaftsordnung heutzutage gegen Freihandelsabkommen sind, hinter denen sie, instinktiv richtig, nur die extraktive Logik der Finanzindustrie erkennen.
Man sollte den Gegenglobalisten nicht den Gefallen tun, ihr Sendungsbewusstsein für eine konsistente, wenn man so will: autonome ideologische Position zu halten (das ist vielleicht das Problem an Aufklärungsbüchern wie dem von Volker Weiss, aber dazu an anderer Stelle mehr). Haben Sie schon mal eine Rede von Marc Jongen wirklich durchgehört? Oder in einem Film von Steve Bannon die Übersicht behalten? Ist es Ihnen gelungen, den roten Faden zu entdecken? Sind sie wirklich in der Lage, ihre Argumentationsschritte sauber aufeinander zu beziehen? Es stimmt vorne und hinten nicht. Auch die Auslassungen von Putin- oder Erdogan-Anhängern drehen nach vielleicht fünf eloquenten Minuten hohl. Trotzdem wird dieser brachiale Eklektizismus von den Linksliberalen und Grünlinken in den Medien und in den Akademien ehrfurchtsvoll als beinahe schon übermächtige Gegnerideologie rezipiert.
Weil sie selbst nichts anzubieten