Antonia Baum

“Ich will eigentlich immer nur schlafen.“

Sebastian Ingenhoff traf die Berliner Schriftstellerin und Journalistin Antonia Baum anlässlich ihres neuen Romans „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“ zum Gespräch über HipHop, Opferwesen und Karrieremonster.

Antonia Baum (Foto: Mathias Bothor Photoselection)

Antonia Baum (Foto: Mathias Bothor Photoselection)

„Die Elite in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liest die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, wirbt die Zeitung auf ihrer Webseite und unterschlägt dabei, dass auch wir kleinen Leute gerne mal die F.A.S. lesen.
Den Politikteil, um zu wissen, was krass ist. Den Sportteil, wegen der Tabellen und Ergebnisse. Den Fernsehteil, wegen abends. Das Feuilleton, wegen Antonia Baum hauptsächlich.

Antonia Baum schreibt quicklebendige In-your-face-Artikel über Dinge, die wichtig sind im Leben – wie HipHop, Feminismus, Jobcenter – und legt sich auch mal mit Leuten wie Ulf Poschardt an. Der Welt-Redakteur hatte sich seinerzeit via Facebook über Lann Hornscheidt mokiert, jenen Professor für Gender Studies, der sich nichts mehr wünschte als geschlechtsneutral mit Profx. angesprochen zu werden. Es folgte ein beispielloser Shitstorm, in dem sich die Opinion Leader von Welt, FAZ und Konsorten nicht entblödeten, kollektiv auf das geschlechtslose „Opferwesen“ Hornscheidt einzudreschen. Poschardt mittendrin. Antonia Baum wiederum verfasste eine furiose Replik auf den Shitstorm, die haarklein aufzeigte, wie digitales Mobbing in der feuilletonistischen Szene funktioniert, und scheute sich nicht, Kollegen aus der eigenen Zeitung zu dissen, die sich daran beteiligt hatten.
Sie selbst hat ihre eigenen Erfahrungen mit Shitstorms und Kritik gesammelt. 2011 ist sie mit einem Auszug aus ihrem ersten Roman „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“ beim Bachmann-Preis in Klagenfurt angetreten und gnadenlos verrissen worden.
Bloß eine weitere Jungautorin, die sich an Thomas Bernhard verhebe, war so grob der Tenor der Jury. Tatsächlich scheinen einige ihrer frühen Texte inspiriert von den neverending Schachtelsatzkaskaden des österreichischen Grantlers, der Zeit seines Lebens Dinge, Orte und Menschen zu beschimpfen wusste. Auch von Antonia Baum gibt es eine legendäre Ortsbeschimpfung. Sie heißt „Dieses Stück Germany“ und ist im Januar 2014 in der F.A.S. erschienen. Es geht um den Odenwald, darum, wie schrecklich es ist, in der Provinz aufzuwachsen, wenn man keine Lust hat, in der Provinz aufzuwachsen.
Doch die Odenwalder waren ernsthaft beleidigt und trieben die mittlerweile nach Berlin übergesiedelte Autorin per Shitstorm durchs Dorf.

Dabei hätte es auch jedes andere Kaff treffen können, versichert sie im Gespräch: „Den gleichen Text hätte ich wahrscheinlich auch geschrieben, wenn ich irgendwo in Bayern aufgewachsen wäre. Wenn es so eng ist und provinziell, dann muss man als junger Mensch einfach ausflippen. Ich habe überhaupt nicht diesen ausgeprägten Heimatbezug, so etwas geht mir völlig ab.“

HipHop, Serien und Bücher halfen ihr jedenfalls, Jugend und „Odenwaldhölle“ zu überstehen. Raptexte seien überhaupt der wichtigste Einfluss auf ihr Schreiben. Aktuell ist Kendrick Lamar, dessen neues Album „To pimp a butterfly“ auch hier gewürdigt wurde, das Maß aller Dinge. „Das ist einfach Literatur. Ich finde es unglaublich, was für Welten und Geschichten da drinstecken, mit welcher Komplexität da erzählt wird. Das ist Musik, die dir hilft, dich gerade zu machen, weiterzugehen, auch wenn es dir vielleicht schlecht geht und du eigentlich nur traurig sein möchtest“, sagt sie und beschreibt zugleich auch das Leben der drei sieben- bis zwölfjährigen Helden ihres zweiten Romans „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“.
Kinder, die sich permanent gerade machen müssen, obwohl alles im Arsch ist und das Familienoberhaupt ein Idiot. Romy, Clint und Johnny sind Geschwister und leben bei ihrem alleinerziehenden Vater Theodor, einem notorischen Blender und Phrasendrescher, der eigentlich Arzt ist, sich aber hauptsächlich als Kleinkrimineller, Schrottunternehmer und Autoverkäufer verdingt. Theodor ist viel zu sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt, als dass er sich um seine Kinder kümmern könnte, die sich dementsprechend selbst erziehen müssen. Erzählt wird aus der Perspektive der anfangs siebenjährigen Romy, die für ihr Alter erstaunlich reflektiert und hellsichtig ist.
Ihre Angst, dass das Jugendamt Theodor ihnen eines Tages wegnimmt, weil der das Familienleben nicht auf die Reihe bekommt, ist nicht ganz unbegründet. Theodor ist eine auf den ersten Blick unwahrscheinliche Figur. Wie in einer guten amerikanischen Serie, wo Lehrer den äußeren Umständen geschuldet eben auch mal Drogenchefs werden können, wird Theodor jedoch vollkommen plausibel gezeichnet. Der cinematische Stil erinnert manchmal an Susan E. Hintons Coming-of-Age-Drama „The Outsiders“, in dem jugendliches Kleingangstertum eine gleichfalls wichtige Rolle spielt.
Der amerikanischen Erzähltradition fühle sie sich sowieso viel mehr verpflichtet als der deutschen, sagt sie: „In Deutschland misstraut man Kitsch und Pathos. Das hat natürlich auch historische Gründe, aber ich habe das Gefühl, man traut sich gar nicht mehr so richtig, Geschichten zu erzählen. Man liest so Innerlichkeitskram, wo es eigentlich nur um Selbstverwirklichung geht in einem sehr abgesicherten Milieu. Ich wollte aber eine Geschichte erzählen, die sich nicht im Inneren abspielt, sondern durch existenzielle Bedrohungen von außen vorangetrieben wird.“

Romy, Johnny und Clint verdingen sich ihrerseits als Kleinkriminelle, weil der Vater sein Geld lieber in Autos und Prestigeobjekte investiert, statt in Kleidung und Verpflegung für die Kinder. Denn die sollen gefälligst lernen, sich durchzuboxen. Die Angst vor der Verwahrlosung schweißt die Drei zusammen und lehrt sie Solidarität. Theodor hingegen stößt mit seinem Egoismus an Grenzen. Das mag man als Message verstehen.
Doch „Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren“ ist kein Roman, der moralisch belästigt, sondern in erster Linie eine kurzweilige Geschichte, in der Autos in die Luft fliegen, Vogelspinnen und Giftschlangen durch Wohnungen krabbeln, und sich knallharte Schutzgelderpresser als herzensgute, schutzbedürftige Wesen entpuppen. Dass Antonia Baum zugleich eine Welt beschreibt, in der es Milieuunabhängig keine Sicherheiten gibt, in der die Angst vor dem sozialen Abstieg allgegenwärtig ist, in der niemand vor dem Absturz gefeit ist, ist natürlich vollkommen realistisch.
Einer ihrer jüngsten F.A.S.-Artikel „Die Angst in den Augen der Frauen“ beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern das omnipräsente Bild der sich permanent durchsetzenden Karrierefrau, die immer weiter nach oben will, überhaupt als Idealbild für junge Mädchen taugen sollte. Ausgangspunkt ist das Buch „Unsagbare Dinge“ der britischen Feministin Laurie Penny. Wäre eine Welt, in der Frauen (und Männer und überhaupt alle) sich nicht ständig auf Kosten anderer durchboxen müssen, nicht viel erstrebenswerter? Liegt der Fehler vielleicht grundsätzlich in einem Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung und Profit basiert? Gibt es keine besseren Alternativen? Ängste, dass sich die Autorin ihrerseits in ein Karrieremonster verwandeln könnte, scheinen jedenfalls unbegründet. „Mir ist dieses ständige Sich-behaupten-müssen einfach viel zu anstrengend. Ich will eigentlich immer nur schlafen“, sagt sie und verschwindet auf ihr Hotelzimmer, um sich vor ihrer Lesung im Rahmen der Lit. Cologne noch eine Stunde aufs Ohr zu hauen.

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