Über die Graphic Novel "Mensch, Michael"

Mensch, Michael, Macht, Gewalt

Die Graphic Novel „Mensch, Michael“ über das Leben von Michael Jackson sollte Anlass zu einer widerspenstigen Lektüre sein. Von Jasper Nicolaisen.

Meine Freundin Karla Schmidt hat zusammen mit der Zeichnerin Annette Jung eine Comic-Biographie über Michael Jackson gemacht. Die beiden haben relativ lange an “Mensch, Michael” gearbeitet; ich erinnere mich, dass ich schon vor knapp zwei Jahren Ausschnitte auf Facebook sah. Karla kenne ich schon eine Ewigkeit. Ihr Bruder Jakob ist Schriftsteller und Buchhändler, wir waren gemeinsam in einer Lesebühne aktiv, hatten Rollenspielrunden, haben gemeinsam einen Übersetzerpreis gewonnen. Karla hat mir erste Veröffentlichungen ermöglicht. Gemeinsam haben wir einen Lehrgang für kreatives Schreiben konzipiert, der sich heute noch gut verkauft. Ich erkläre dies alles so ausführlich, um meine Beschäftigung mit dem Comic begreiflich zu machen und einen Zwiespalt zu erläutern, der sich daran für mich anschloss, und der vielleicht auch für andere Leser*innen produktiv werden könnte.
Jackson gilt, wenigstens in popkulturell tonangebenden Kreisen in Deutschland, als verbrannt, auch wenn die die Produktionsmaschine für den Massenmarkt nach wie vor rollt. Spätestens seit der nach seinem Tod erschienenen Fernsehdoku, die auch im deutschen TV unter großer medialer Aufmerksamkeit ausgestrahlt wurde, zweifeln viele nicht mehr an den schon zu Lebzeiten erhobenen Vorwürfen, Jackson habe seinen Status als Star und seinen Reichtum systematisch ausgenutzt, um Kinder zu “groomen” und sexuell zu missbrauchen, vermutlich wie so oft auch beeinflusst durch eigene Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.
Die dringliche Wiederholung der Vorwürfe durch zwei Opfer fiel in eine Zeit, in der rund um “MeToo” und breit publik gemachte Missbrauchs- und Gewaltfälle in der Filmbranche der Zusammenhang von Starkult, Männlichkeit, Sex und Macht neu und endlich auch mit Wucht kritisch betrachtet wurde; bis heute gilt die früher so leichtfertig behauptete Trennung zwischen Künstler und Werk nicht mehr umstandslos. Jetzt, 2019, steht der Nobelpreisträger Handke als Frauenschläger und Antifeminist in der Kritik, nicht nur für seine Äußerungen zum jugoslawischen Bürgerkrieg. Ich begrüße diese Entwicklungen und fühle mich mit ihnen solidarisch. Umso weniger kann ich über das Comic einer Freundin schreiben, als wäre nichts. Nur das Werk anschauen – das geht nicht mehr, zum Glück, weder bei Jackson noch bei “Mensch, Michael”, das im Selbstverlag erschien, nachdem alle infrage kommenden deutschen Indie-Comicverlage abgelehnt hatten, niemals, wohlgemerkt wegen mangelnder Qualität.
Neben den Vorwürfen, Jackson sei ein Sexualstraftäter, schwang noch etwas anderes bei den Absagen mit. Jackson ist als Künstler einfach zu uncool für eine Szene, die sich überwiegend Punk und DIY verbunden fühlt. Als einer der letzten Massenstars des Pop, als Kitschikone, als Figur, die wirklich gegen keine Käuferschicht abgegrenzt ist, als Inbegriff des Produkthaften in der Kulturindustrie, als Worldhealer, Earthsinger, Panzeraufhalter, Kiekser und für Weiße viel zu Unschwarzer, kann man ihn wohl auch heute in einer auf vermeintliche Authentizität gebauten Blase nicht lieben oder wenigstens anerkennen. Nicht einmal die ironisch heimgeholte Wiedergutwerdung von Supertramp, Phil Collins oder 90s-Kirmestechno will man ihm zugestehen, was, anders als die Missbrauchsvorwürfe, wirklich leicht als dünkelhaft zu entlarven ist. Jacksons Kunst als Tänzer, Performer, Produzent, Zusammenpeitscher von Talentherden im Madonna-Format und auch Sänger lassen sich quer durchs Werk aufzeigen. Es ist legitim, seine Kunst nicht zu mögen, dass es sich um Kunst handelt, lässt sich nur böswillig bestreiten.
Wie aber sich zu dieser Kunst stellen? Wie zu einer Würdigung stehen, wie der Comic “Mensch, Michael” eine ist, ohne sich in Ausflüchte zu verrennen und die Opfer zu entmachten? Der Comic zeichnet Jackson als Beschädigten, dem in der Kindheit so viel Leid angetan wird, dass er sich gegen Missgunst, Neid, Intrigen nicht zur Wehr setzen kann und sich auch immer wieder ungeschickt, zu wenig berechnend verhält. In diesem Werk ist, bei allen dunklen Flecken, doch klar Jackson das Opfer von Lügnern, die es auf Publicity und Geld abgesehen haben. Es gibt keine Ambivalenz beim Blick auf die Ankläger.
Mein Problem ist: ich weiß ehrlich nicht, wie es war und was ich glauben soll. Ich will Opfern Definitionsmacht zugestehen, ich will aber auch den sehr gut erzählten und gezeichneten Comic einer Freundin würdigen. Ich will nicht nach Ausflüchten für einen möglichen Täter suchen, ich will aber auch der Arbeit einer Person Gehör schenken, die als gewissenhaft, integer und zurechnungsfähig kenne, keineswegs als irre Fantante.
Jetzt kann man sagen: “Jo, Alter, dein Problem mit der Loyalität, was soll mich das jucken?”
Eine weit verbreitete Haltung zu Jackson ist ja auch, das sei schon alles wahr mit dem künstlerischen Status, aber der Typ sei einfach so creepy, dass man seine Zeit lieber Künstler*innen widmen wolle, die nicht im starken Verdacht stünden, Täter zu sein, Leuten, die es mehr verdient haben, deren Stimme auch endlich gehört werden soll. Verständlich.
Trotzdem hat mir “Mensch, Michael” etwas gegeben, nicht nur wegen der augenfälligen Qualität der grafischen und erzählerischen Umsetzung. Ich habe den Comic gelesen, indem ich mich bewusst auf den innerlichen Standpunkt gestellt habe: alle Vorwürfe sind wahr. Jackson ist wirklich ein lebenslanger Groomer und Vergewaltiger, der alles aufwendet, um diese Wahrheit auch vor sich selbst zu verbergen. Das erzeugt ein unheimliches Leseerlebnis, in dessen Verlauf diese innere Haltung sich mehr und mehr an den Zeichnungen reibt und jede Schilderung von Jacksons grausamer Kindheit, aber auch seinen Tanz mit Anwälten, Anklägern, kindlichen Freunden und deren Eltern einen doppelten Boden bekommt. Die Stärke des Comics rennt gegen meine innere Haltung an. Das Ergebnis ist Beklommenheit, Zerrissenheit, Unwohlsein – es ist auf vielen Ebenen ein Horrorroman. Und für mich wird noch einmal fühlbar, wie es für Jackson gewesen sein könnte, wie er sich möglicherweise selbst gesehen hat, und wie aus der Spannung zwischen diesem eigenen Erleben, der Zuneigung seiner Fans, die ihn für einen guten Menschen, vielleicht sogar für einen modernen Heiligen halten, einer Zuneigung, die auch im Comic spürbar wird, und den Vorwürfen, Anklagen und Medienberichten andererseits, die ein völlig gegensätzliches Bild zeichnen, wie aus dieser Spannung eben eine Kunst entsteht, die heute ohne diesen Background nicht mehr verständlich ist.
„Mensch, Michael“ gelingt so – für mich – das Unwohlsein rund um Jackson auf den Punkt zu bringen, gerade indem es für diesen Angeklagten Position bezieht und seine Sicht vertritt. Meine widerborstige Lektüre wird nur wegen der Qualität des Bandes möglich; eine billige, schlecht gemachte Jackson-Verklärung ließe sich zu leicht abtun. Es war das Antreten gegen einen starken Gegner, der alle Widerstände und alle Schmerzen spürbar gemacht hat, und das ist, so anstrengend es auch war, große Kunst und macht den Comic für mich empfehlenswert. Ob man sich das geben will, hängt entscheidend davon ab, ob man Jackson überhaupt der Auseinandersetzung für wert hält, oder eben, wie beschrieben, die Aufmerksamkeit bewusst anderen Künstler*innen widmet. Ich halte Jackson zumindest der kritischen Auseinandersetzung für würdig, und die Nachzeichnung, die der Comic vornimmt, was Jacksons Status als schwarzer Künstler angeht, seine kreative Weiterverarbeitung musikalischer und choreographischer Einflüsse, und eben auch die gruselige Ebene der Überführung von Traumata in Starkult, von Macht im Zuge von Marktmacht in der Popkultur, die Spannung zwischen Mensch und Michael, die der Titel andeutet, und die in Jacksons Fall wohl zur verbrecherischen Entgrenzung geführt hat, das sind alles lohnenswerte Gedankenpfade, wenn man sich für Pop und seine Einbettung in Markt und Macht interessiert.

Text: Jasper Nicolaisen

„Mensch, Michael“ von Karla Schmidt und Annette Jung ist auf deutsch und englisch über amazon erhältlich und kostet 21,99 Euro.

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