Kaput Kolumne von Lennart Brauwers

WE BETTER TALK THIS OVER #4: „EVERYTHING NOW“ VON ARCADE FIRE (2017)

“WE BETTER TALK THIS OVER” IST DIE KAPUT-KOLUMNE VON LENNART BRAUWERS, IN DER UNTERBEWERTETE, OFT ÜBERSEHENE (ODER GAR VERHASSTE) ALBEN GEFEIERTER BERÜHMTHEITEN BESPROCHEN UND NEU EINGEORDNET WERDEN. SCHLIESSLICH KANN SICH DER BLICK AUF MUSIK VERÄNDERN, JE ÄLTER SIE WIRD. ALSO: EXTREM VIEL GROSSARTIGES FINDET ZU UNRECHT KAUM BEACHTUNG – DARÜBER SOLLTEN WIR NOCHMAL REDEN.

 

Lennart Brauwers unter dem Einfluss von “Everything Now” von Arcade Fire 

 

„Looking for signs of life
Looking for signs every night
But there’s no signs of life
So we do it again“

„Part of me hopes that this record is our stinker, our horrible record.“

Dass die Lyrics von Arcade Fire dystopisch seien, also eine dunkle, bedrückende Zukunft (oder eben Anti-Utopie) porträtieren, schrieb schon mein jugendliches Ich in einem seiner allerersten Texte als aufstrebender Musikjournalist. Mittlerweile hab ich den Artikel gelöscht – ja, er war sehr schlecht –, doch die Verbindung von Arcade Fire zu den literarischen Horrorszenarien, die wir damals im Englischunterricht durchnahmen, erscheint mir weiterhin sinnvoll. So tauchten auf ihrem 2022er Album „WE“ wieder postapokalyptische Szenarien auf: „Where California used to be“, singt Frontmann Win Butler einmal, in einem Song namens „End of the Empire“…

Von Anfang an war dieser Einfluss spürbar, so hatte bereits „Neighborhood #1 (Tunnels)“ – der erste Song auf dem ersten Album von Arcade Fire – dystopische Lyrics aus einer kindlichen Perspektive, mit einem nostalgischen Bild von der Vergangenheit als verblasstes Polaroid. Im Titeltrack des Nachfolgers „Neon Bible“ sang Butler, die Chancen zum Überleben sähen schlecht aus, während es im Album-Highlight „Keep The Car Running“ hieß: „They don’t know when it’s coming“, was ja erstmal impliziert, dass uns definitiv irgendwas bevorsteht. Achso, und das Grammy-gewinnende Drittwerk „The Suburbs“ begann, völlig klar, als Idee für einen jugendlichen Science-Fiction-Film, in dem Krieg in den sonst so friedlichen Vorstädten herrscht.

„We fell in love when I was nineteen/And now we’re staring at a screen“, erklärte Win Butler auf dem darauffolgenden Dance-Opus „Reflektor“ über einen düstereren, hüpfenden Groove – dieser Soundwechsel wurde dramatischer aufgenommen als nötig, schließlich haben Arcade Fire immer schon (auch) Tanzmusik gemacht – und kanonisiert damit nicht nur seine Liebe zu Ehefrau/Bandkollegin Régine Chassagne, sondern verdeutlicht außerdem, dass unsere Dystopie eine von Technik geprägte sein wird. Denn „staring at a screen“, das tun wir alle tagtäglich. Auch diese Form von, ich sag mal, Medienkritik war zu diesem Zeitpunkt schon länger in den Songs von Arcade Fire existent. So hieß es 2007 auf „Neon Bible“: “I don’t wanna hear the noises on TV“, oder an anderer Stelle: „MTV, what have you done to me“.

Das bringt uns zu „Everything Now“, dem verhassten Fünftwerk dieser Band. Thematisch schließt der Titelsong, dessen Musikvideo in einer dystopisch aussehenden Einöde gefilmt wurde, an das eben Beschriebene an: Die Übersättigung der Streaming/SocialMedia-Ära zerstört unsere Köpfe, der wiederkehrende Satz „I can’t live without“ hat sich als wahr rausgestellt; alle leben online und werden dadurch gleich, „every boy uses the same line“ meint Butler dementsprechend (während Régine Chassagne in „Electric Blue“ über „a thousand girls that look like me“ singt). Der wichtige Unterschied ist jedoch, dass ein Album wie „Neon Bible“ auch soundmäßig wie eine schwarze Utopie wirkt – der damalige Opener „Black Mirror“ gehört zu den finstersten Songs in der gesamten Diskographie von Arcade Fire –, während „Everything Now“ keineswegs apokalyptisch, sondern nach einer afrikanisch angehauchten Indie-Version von ABBA klingt. Ja, ABBA! Mit einer heiteren Flötenmelodie inklusive. Ein grinsendes, großartiges Lied über den Untergang unserer Konsumgesellschaft.

Stumpf, wie viele Journalisten schrieben, ist die Sozialkritik auf „Everything Now“ absolut nicht. Mit den aufeinanderfolgenden, textlich identischen Versionen des Songs „Infinite Content“ – eine davon schnell und verzerrt, die andere Wilco-esque – wollen Arcade Fire uns mitteilen, dass heutzutage jeder Hit inhaltsgleich ist, egal wie anders er klingen mag; daneben handelt „Creature Comfort“ davon, wie der kapitalistisch geprägte Medienkonsum uns ablenken und jeglichen Schmerz lindern soll (“It’s all around you, but you can’t touch it“). Etwas plakativ ist das allemal, ja. Doch wann ist es uncool geworden, die Dinge beim Namen zu nennen? Früher hat man das Punk genannt! Und im bestmöglichen Sinne plakativ war die Musik von Arcade Fire immer schon, man erinnere sich an ihren Durchbruchsbanger „Wake Up“: „Children, wake up/Hold your mistake up/Before they turn the summer into dust“. Die große Poesie ist das nicht unbedingt, knallt aber. Am ehesten erinnert mich die unmissverständliche Direktheit von „Everything Now“ an den Slogan-Punk der IDLES, die im selben Jahr ihr Debütalbum „Brutalism“ veröffentlichten und in den USA für eine ähnlich simple Klarheit kritisiert werden. Ich schweife ab…

Ultradirekt und komprimiert ist „Everything Now“ auch klanglich, so wurde das Album, anders als das wahrlich bombastische „Neon Bible“, nicht in einer hallenden Kirche aufgenommen, sondern in einem kleinen, vollgestellten Raum (zu sehen auf der Innenseite der Gatefold-LP). Vielleicht muss man sich „Everything Now“ als eben das vorstellen – als kleinen, vollgestellten Raum. Denn im Vergleich zum Kurskorrektur-Nachfolger „WE“ existiert hier kein Raum zum Atmen, vielmehr prallen die Dinge aneinander ab. Dub-Synths, Disco-Basslinien, auch durch die Hilfe von Daft Punk’s Thomas Bangalter ist alles klar definiert und auf’s Wesentliche reduziert. Also fehlt den sechsköpfigen Arcade Fire auf „Everything Now“ das, was man am ehesten mit ihrer Band verbindet: epische Größe. Auch mal erfrischend.

Das empfand nicht jeder so… Jeremy D. Larson von Pitchfork – die Website, welche im Jahr 2004 für den rasanten Aufstieg von Arcade Fire mitverantwortlich war – bezeichnete „Everything Now“ als freudloses Album, das voll mit unausgereifter Gesellschaftskritik sei, und verlieh der Platte den vernichtenden Qualitäts-Score von ‚5,6/10‘. Die netten Leute vom Musikmagazin Spin fanden noch härtere Worte: „Their new record, ‚Everything Now‘, is particularly bad, cementing their status as a band who used to be good. […] They’ve become the worst kind of celebrity artist, finger-pointers blaming the kids and the corporations and the websites – everyone but the band itself.“ Es kann halt nicht jeder Geschmack haben.

 

Dass „Everything Now“ auch ein parodistisches Projekt war, sollte nicht übersehen werden. Man denke an die visuelle Ästhetik (inklusive einheitlicher Jeansjacken und Sonnenbrillen à la 90s-U2), vor allem aber an das zugrundeliegende Konzept bzw. die dazugehörige, satirische Werbekampagne: In der fiktiven Zukunftswelt, welche Arcade Fire für die Albumpromo kreierten, sind sie vertraglich an die Everything Now Corporation gebunden und veröffentlichten im Zuge dessen Fake-News-Geschichten oder ausgedachte Albumreviews auf der fiktiven Website Stereoyum; „That stuff was going to get made anyway, so why not make it ourselves?“, erklärte Win Butler diesbezüglich im Interview mit Vulture. Alle Songs auf „Everything Now“ standen außerdem für imaginäre Markenprodukte – so sollte „Creature Comfort“ beispielsweise ein Müsli sein –, die das Album finanziert hätten. Rückblickend halte ich die Werbekampagne für noch lustiger als damals, für ein gelungenes Experiment, während die insgesamte Rezeption darauf eher negativ war. Ähnlich wie beim Geschmack hat nunmal auch nicht jeder Humor. „People have lost the ability to even know what a joke is. It’s very Orwellian“, meinte Butler damals zur britischen Zeitung The Guardian, wies auf die Ironie des ganzen Projekts hin und verglich es gleichzeitig mit den dystopischen Werken des Autors George Orwell. Passt alles zusammen.

Den Ursprung für „Everything Now“ und dessen Risikobereitschaft kann man, wenn man länger danach sucht, bereits in einem Interview aus dem Jahr 2008 finden. Darin meint Win Butler: “Most of the bands that I really like have sabotaged their careers at a certain point. I think it’s important because otherwise you end up wanting to repeat what you’ve already done, cause that’s what people like to hear a lot of times“. Die plötzlichen Ästhetikwechsel, oder eben Selbstsabotagen, seiner Lieblingsacts (Radiohead, Neil Young, Björk) sind geradezu legendär, also wusste Butler schon ein knappes Jahrzehnt vor „Everything Now“, dass er irgendwann einen ähnlich radikalen Bruch in seiner Diskographie haben will. Doch was solche Wendungen oft zur Folge haben, ist, dass die dazugehörigen Platten nicht für sich stehen können, sondern eben nur als Reaktionen auf das Vorherige funktionieren. Während jedes andere Album von Arcade Fire theoretisch ihr Debüt sein könnte, kann man einen albernen Reggae-Song wie „Chemistry“ – die merkwürdigste Nummer auf „Everything Now“ – eben nur bringen, wenn man vorher schon ein Album wie „The Suburbs“ veröffentlicht hat. Aber was ist so schlimm daran? Semi-alberne Reaktionen auf todernste Rockepen tun gut!

Und dann hört man weiter – bis zur Realisierung, dass die halbironische Gesellschafts-/Medienkritik auf „Everything Now“ ein Deckmantel für ein hochpersönliches Album ist. Zynisch, wie es häufig hieß, findet man die Platte dann kaum noch. Eher tragisch: Natürlich kann man einen solchen Artikel nicht schreiben, ohne die Vorwürfe gegen Butler zu erwähnen, bei denen er mehrere Personen emotional ausgenutzt und sexuell belästigt haben soll; schlimm und erschreckend, vor allem mit Blick auf das Bono-mäßige Weltverbesserungsgehabe von Arcade Fire. (Damals habe ich mein Konzertticket sofort verkauft, finde aber, dass ein knallhartes Canceln solcher Menschen unmenschlich und kontraproduktiv ist; zweite Chance und so…) Er habe damals unter Alkoholproblemen und Depressionen gelitten, ohne hier irgendwen verteidigen zu wollen. Seine Ehe zu Régine Chassagne sei schon seit Jahren nicht mehr wie früher, mit dem Wissen der 2022 erschienen Vorwürfe hört man viele Textzeilen anders als damals und auch als Indizien einer zerbröckelnden Beziehung. „Once so close, but we’ve grown apart“, oder „I know I’ve been different, my skin keeps shedding“. Die Ehe hat überlebt, Arcade Fire ebenfalls. Allerdings hat ihr guter Ruf einen ordentlichen Riss davongetragen. Zurecht, natürlich.

Letztendlich mündet das Ganze in „We Don’t Deserve Love“, einer herzzerreißenden Synth/Country-Ballade. Der lyrische Einfluss von Bruce Springsteen, der schon seit „Neon Bible“ mit der Band in Verbindung gebracht wird, ist hier unüberhörbar. Unser Protagonist sitzt im Auto, fährt von einer tagsüber geöffneten Bar nach Hause. Das Radio läuft, während er über seine Sünden nachdenkt und am Ende natürlich eine „Mary“ besingt; mehr Springsteen geht nicht. Gleichzeitig wird die Platte wundervoll abgerundet: „You don’t even want to watch TV“, singt unser Charakter zu seiner seelisch betäubten Partnerin, schließlich funktioniert diese Form der medialen Ablenkung nicht ewig. “If you can’t see the forest for the trees/Just burn it all down and bring the ashes to me“ – das passt sowohl zum Überangebot unserer dystopischen Gesellschaft als auch zum Chaos-im-Kopf-Gefühl einer Depression. Arcade Fire meinen halt beides. Sie zwinkern uns zu, während alles dunkler wird. Genau in diesem Moment.

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