2022 – the year as heard and seen by the team behind kaput

Ariana Zustra hörte Antworten auf die Fragen unserer Gegenwart in 2022

ZUSTRA (Photo: John Broemstrup)


Top 5 Alben 2022

1) Emily Wells “Regards to the End”
Die New Yorker Multiinstrumentalistin Emily Wells ist für mich eine der Entdeckungen der vergangenen Jahre und hat sich zu einer meiner Lieblingskünstler*innen gefiedelt. Ich habe versucht herauszufinden, wie viele Instrumente sie spielt (Antwort: glaub ALLE), sie schreibt und produziert und loopt und trommelt alles selbst und arrangiert einfach zum Niederknien. Ihre Songs sind komplex, dabei catchy, und tief und hoch und weit. “Regards to the End” halte ich für einen Geniestreich. Die Gegenwart wirft viele Fragen auf und wenn ich dieses Album höre, habe ich eine Ahnung, wie die Antworten klingen könnten.

2) Simon Goff, Katie Melua “Aerial Objects”
3) Kathryn Joseph “for you who are the wronged”
4) Tara Nome Doyle “Vaermin”
5) Andrew Bird “Inside Problems”

Top 5 Songs, die nicht auf meinen Top 5 Alben sind:

1) Stromae – L’enfer

2) Black Sea Dahu – Mind Power
3) Elena Steri – you sat there
4) doppelfinger – seasonal affective disorder
5) Fishbach – De l’instinct

Top 5 Bücher 2022

1) Senthuran Varatharajah “Rot” (Hunger)
Senthuran Varatharajah ist aus einer Zukunft zu uns gekommen, lautet es auf dem Buchdeckel, und angesichts dieser eigentümlichen Lektüre ist der Eindruck verständlich: Rot (Hunger) erzählt den Kannibalismus-Fall von Rotenburg als Metapher einer Liebesgeschichte – in einer poetischen, einschneidenden, beinahe blutenden Sprache und Form. Während etwa Zeilen aus dem Schriftwechsel zwischen dem Täter Armin Meiwes und dem Opfer Jürgen Brandes zitiert werden, sind die Wörter zerhackt, eingerückt, kursiv gesetzt. Rot (Hunger) quillt über die Grenzen von Lyrik und Prosa. Als wäre das Buch selbst eine Wunde, wird es in seiner Mitte von einer blutroten Seite geteilt. Dies alles ist der künstlerische Ausdruck dessen, was hinter all dem liegt: Der Hunger nach Nähe. “Der Mensch, den wir lieben, ist der abwesendste Mensch von allen, weil er nie nah genug sein kann”, sagt der Autor. So ein Buch haben Sie noch nicht gelesen. Es ist ein Wunder und ein Rätsel.

2) Kim de l’Horizon “Blutbuch”
In der Furore um den medienwirksamen Auftritt von Kim de l’Horizon bei der Buchpreisverleihung im Oktober 2022 mitsamt dem Scheren der Haare aus Solidarität mit den Frauen im Iran und den Kontroversen um die nicht-binäre Person sollte nicht untergehen, dass “Blutbuch” ein herausragendes literarisches Werk ist.
De l’Horizon entschreibt sich darin der transgenerationalen Traumata der Bauernfamilie rund um die dominante Großmutter und erschreibt sich ein Dasein mit dem Traum, genderlos, ja, körperlos zu werden. Gewissermaßen Didier Eribon und Annie Ernaux experimentell fortschreibend, stürzt sich die Erzählfigur in einer sprachlichen Tour de force in die Recherche um den titelgebenden Baum im Garten der Eltern und exerziert an diesem Fragen der Existenz. Highlights sind Passagen wie unter anderem jene, wenn eine Liste von Bäumen und ihren Eigenschaften mit einer Liste von Liebhabern nebeneinander gestellt wird, etwa:

ROHANII, geschlitztblättrig, 1888 aus den Sorten QUERCIFOLIA und ATROPURPUREA im fürstlichen Garten Sichrow in Böhmen gezüchtet.
[…]
AY PAPI, 19, Spanier(*in?), Gymnasiast, absurd trainierter Bizeps, mein Flur, kommt nach zwei Minuten, entschuldigt sich

Vor allem führt dieses Buch die Universalität von Debatten um Queerness und Gender gewissermaßen post-woke vor Augen: dass es nämlich letztlich immer um die überindividuelle Frage geht, in welcher Form – literally – man auf dieser Welt leben möchte. Eine Wucht.

3) David Graeber, David Wengrow “Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit”
4) Byung-Chul Han “Vita contemplativa oder von der Untätigkeit”
5) Thomas Halliday “Urwelten”

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