Interview mit der Kuratorin / Mitveranstalterin Jeanne-Marie Varain

Avantgarde Festival 2025: „Ich glaube an die gesellschaftliche und politische Kraft von Kunst“

Jeanne-Marie Varain

Das Avantgarde Festival in Schiphorst wird vom Verein Avantgarde Schiphorst e.V. organisiert, zu dessen Gründungsmitglied:innen Carina Varain (deren Hof als Festivallocation dient) und Jean-Hervé Péron (Gründungsmitglied der Krautrock-Band Faust) gehören. Bei der Reaktivierung des zwischenzeitlich eingestellten Festival spielt nun ihre gemeinsame Tochter Jeanne-Marie Varain eine zentrale Rolle.

Jeanne-Marie, 2019 habt ihr verkündet, dass das Avantgarde Festival vorbei sei – jetzt kehrt es zurück. Was war der Auslöser für dieses, nennen wir es, Comeback?

Jeanne-Marie Varain: Ich hole da gern ein bisschen aus. 2014 habe ich das Booking fürs Avantgarde Festival übernommen – und war damit quasi in der künstlerischen Leitung. 2017 habe ich das Festival dann zusammen mit dem Künstlerinnen-Duo Muerbe und Droege unter dem Titel „Avantgarde is Happening“ neu organisiert und gefeiert. 2019 haben wir, also der Verein, den vielleicht radikalsten Schritt gewagt: Wir haben nur noch die Infrastruktur bereitgestellt – alles andere war eine kollektive Entwicklung, genau so, wie wir es uns immer erträumt hatten. Geben, Nehmen, gemeinsam etwas schaffen – das war unglaublich erfüllend. Und wir dachten: Das kann man nicht wiederholen. Also wollten wir aufhören, wenn’s am schönsten ist. Danach kamen große und kleine persönliche Verluste, die Pandemie und dieses wachsende Gefühl, dass Kulturorte verschwinden und Menschen sich immer weniger begegnen.

Eigentlich wollten wir letztes Jahr nur die Arbeit von Pawel Romanczuk zeigen. Daraus entstand ein kleines Festival – und plötzlich war die Energie wieder da. Alte Bekannte, neue Gesichter, Musik, Kunst, Freude. Da wurde uns klar: Aufgeben ist keine Option. Orte wie das Avantgarde Festival müssen erhalten bleiben – für uns alle.

Seit 2019 ist viel passiert. Wir haben eine Pandemie (mehr oder minder) gemeinsam durchlebt, die Welt ist voller neuer und alter geopolitischer Krisenherde und Aggressoren (um nur ein paar Stichworte zu nennen: Russland-Ukraine Krieg, Israel-Palästina Konflikt, Trump II…). Was bedeutet das für euch als Festivalmacher:innen? Wie stark wird eure kulturelle Arbeit von den sozio-politischen Entwicklungen beeinflusst?

Ein Stück weit habe ich das ja schon in der vorherigen Antwort angedeutet. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir als Menschen Orte brauchen, an denen wir gemeinsam sein können – um uns auszutauschen, zu reflektieren, auszuruhen, zu kreieren, zuzuhören, loszulassen, zu schmecken, zu riechen, uns zu wandeln. Orte, an denen Kunst stattfinden darf. Orte, an denen das Schöne eine Chance hat. Ich glaube an die gesellschaftliche und politische Kraft von Kunst – vielleicht mehr denn je.

Was es aber konkret heißt, ist oft bitter. Eine Musikerin, zum Beispiel, die wir eingeladen haben, traut sich nicht, die USA zu verlassen – aus Angst, nicht mehr einreisen zu können. Wir alle sind sensibilisiert durch die politischen und medialen Debatten. Wir diskutieren im Team lange darüber, wie wir mit bestimmten Symbolen, Aussagen oder Gesten umgehen. Was früher selbstverständlich schien, muss heute oft lange ausgehandelt werden – auch aus Sorge vor passiver Mittäter*innenschaft oder dem Verlust von Förderungen.

Aber NOCH ist es möglich, Künstler*innen aus Belarus, Venezuela, Großbritannien oder den USA hier willkommen zu heißen, denn viele leben inzwischen in Berlin. Aber wie lange wird das noch gehen? Wie lange noch wird Deutschland überhaupt als „sicherer Ort“ wahrgenommen? Ich habe das Gefühl, der Kipppunkt ist längst überschritten! Die letzte Wahl, die neuen Koalitionsverträge, die 20 % AfD, auch hier im Dorf – das alles schreit danach, dass wir als Kulturschaffende Haltung zeigen müssen.
Ach Scheiße! Manchmal drehe ich mich innerlich im Kreis, zwischen Weltschmerz, Wut und Hoffnung. Irgendwie bleibt doch gerade nur noch Kultur machen, Molotow-Cocktail oder Verzweiflung.

Avantgarde Festival 2017, Abschlussrunde (Photo: Sven-Julien Kanclerski)

 

Ihr sprecht vom „Geist des Festivals“, der sich nicht zähmen lässt. Wie würdet ihr diesen Geist in eigenen Worten beschreiben?

Es ist der Geist, der all den „Un-’s“ ein Zuhause gibt – den Unangepassten, Ungeliebten, Ungehörten, Unermüdlichen, Undenkbaren. Ein Ort, an dem man sein darf, wie man ist – jenseits von Normen, Erwartungen oder Verwertbarkeit.
Die Idee vom „Festivalgeist“ kam 2017 auf, als wir uns im Kollektiv gefragt haben, was dieses Festival eigentlich ausmacht. Und uns wurde klar: Es ist nicht der Ort, nicht das Line-Up, nicht die Bühne. Es ist eine Haltung. Eine Art, zusammenzukommen, zu organisieren, zu scheitern, zu staunen. Und genau deshalb kann dieser Geist auch wandern – er lässt sich einladen, weitertragen, weiterdenken. Es ist radikale Gastfreundschaft und nicht zu bändigen.

Wie entsteht bei euch das Line-up? Wird es ausschließlich von dir kuratiert, oder gibt es eine Kurationsgruppe, die zusammenarbeitet?

Die einfache Antwort wäre: Ich mache das alleine. Aber für mich fühlt es sich nicht so an.
Ich verfolge meine Ideen, meine Spuren – und auf dem Weg treffe ich auf Menschen, die mich begeistern und überraschen. So habe ich zum Beispiel Jessica Martin Maressco kontaktiert, ursprünglich wollte ich Pili Coït und ein Gesangstrio, in dem sie aktiv ist, einladen. Im Dialog entstand dann plötzlich etwas ganz anderes: Saddam Webcam und Witch’n’Monk sind nun Teil des Festivalprogramms.

Oder Amaury Cambuzat („I Feel Like a Bombed Cathedral)“ – er wollte sein Projekt zum ersten Mal mit Live-Visuals zeigen und bat mich, nach jemandem Ausschau zu halten. Ich musste irgendwann zugeben: Ich weiß nicht, wen du suchst und fragte ihn: „Wer wäre denn dein*e Wunschkandidat*in?“ – Seine Antwort: Daisy Dickinson. Ich habe sie kontaktiert – und jetzt präsentieren wir auch ihre neue Arbeit mit Simon Fisher Turner, als Preview und Premiere in Europa.

So entsteht das Line-up: wie ein Netz aus Ideen, Wendungen, Begegnungen. Ich sehe mich dabei weniger als Kuratorin im klassischen Sinn, sondern eher als Facilitator. Ich trage die Verantwortung für die Dynamik des Ganzen – aber diese Dynamik entsteht im besten Fall durch Vertrauen, Resonanz und gegenseitige Inspiration. Am Ende fühlt es sich an wie eine riesige, wilde, organische Masse.

Monica BouBou & Bobby Conn beim Avantgarde Festival 2017 (Photo: Sven-Julien Kanclerski)

Was war euch für die diesjährige Ausgabe besonders wichtig?

Für das Programm der diesjährigen Ausgabe waren mir zwei Dinge besonders wichtig: Erstens, neue Gesichter einzuladen – also Künstler*innen, die bisher noch nie in Schiphorst gespielt haben. Und zweitens, ganz bewusst FLINTA-Künstler*innen in den Fokus zu rücken. Ursprünglich hatte ich mir sogar selbst auferlegt: Keine Wiederholungen! Nur neue Acts auf die Bühne! Aber – haha – dann kam die Realität. Bobby Conn und Monica BouBou sind seit 2017 das erste Mal wieder in Europa… was soll ich denn tun? Amaury Cambuzats Solo-Projekt ist einfach zu stark, und wurde in Schiphorst noch nie gezeigt… was soll ich denn tun? VED gehen auf Abschlusstour, bevor sie sich auf unbestimmte Zeit auflösen… was soll ich denn tun? Manche selbst gesetzten Regeln dürfen eben auch wieder fallen, wenn es sich richtig anfühlt. Und jetzt bin ich sehr froh, dass neben vielen neuen Gesichtern auch einige vertraute wieder dabei sind.

Gleichzeitig war es mir wichtig, auf die Rückmeldungen der letzten Jahre einzugehen – besonders von Künstler*innen und Besucher*innen. Viele haben das Festival als Ort der Begegnung erlebt, aber auch gespürt, dass das Programm zu voll war, zu wenig Raum fürs Dazwischen, fürs Sein, für den Austausch. Deshalb haben wir in diesem Jahr bewusst eine Bühne gestrichen und stattdessen zwei Dauer-Installationen ins Programm genommen. Jetzt wechseln sich die kuratierte Bühne und unsere freie Bühne ANNEX ab – mit Raum zum Atmen dazwischen. Und natürlich gibt es auch wieder performative Interventionen, Spaziergänge, Arschbomben im Freibad, kulinarische Highlights und Lagerfeuer. Weil das auch alles Festival ist.

Das Festival trägt den Untertitel „Three Days of Utopia“. Kannst du das genauer ausführen? Was bedeutet dieser Begriff für euch in Bezug auf das Festival?

„Three Days of Utopia“ – das ist kein Slogan, den wir uns selbst gegeben haben, sondern ein Kompliment. Chris Cutler hat das Festival vor vielen Jahren so beschrieben, und dieser Satz ist uns geblieben. Für uns ist er ein Leitsatz geworden. Ein Miteinander, das auf Vertrauen, Neugier und gegenseitiger Inspiration beruht. Wir wünschen uns, dass die Menschen das Festival mit einem Gefühl im Bauch verlassen, mit einer Ahnung davon, wie ein anderes Leben, ein anderes Miteinander aussehen könnte. Und dass sie mit aufgeladenen Akkus zurück in ihre Welten gehen – bereit, auszuhalten oder gegenzuhalten.

Ist das Avantgarde Festival für dich / für euch mehr ein Ort oder ein Zustand?

Das XV. Avantgarde Festival ist ein Ort in einem Ort – like a heart shaped box. Aber dieser Ort ist gefüllt mit einem Geist und daraus entsteht ein kollektiver Zustand. Das Festival präsentiert nicht nur Konzerte, sondern auch Lesungen und Theateraufführungen. Wie wichtig sind diese Elemente für das Selbstverständnis des Festivals?

Das Festival steht in der Tradition von Happening, Fluxus, DADA, Surrealismus… Schon als Jean-Hervé Péron es 1996 als Sommersonnenwenden-Fete ins Leben rief, gehörten Aikido-Vorführungen und Sleeping-Performances eines Schäfers in seiner Herde genauso zum Programm wie Krautrock, Noise und Bratwurst. Alle Künste, das Dorfleben und die Spontanität gehören zusammen. Alles wird in einen Hexenkessel geworfen und gut durchgerührt. Das macht das Festival für mich aus: die Gleichzeitigkeit, und Gleichwertigkeit aller Ausdrucksformen.

 

Archaic Twitter Pipes von Lennart Kudla, Avantgarde Festival 2017 (photo credit: Sven-Julien Kanclerski)

Schiphorst ist ein spezieller Ort. Was bedeutet dieser ländliche Raum für euch und das Festival?Wie prägt er die Atmosphäre?

Man kann den ländlichen Raum natürlich romantisieren – und ja, atmosphärisch ist es in Schiphorst wirklich goldig: Manchmal kommen die Ponys vom Reiterhof vorbei und die Kinder drehen eine Runde. Der Feuerwehrwagen schaut auf einen Besuch vorbei, es gibt selbstgebackene Kuchen von den Nachbar*innen, Boule-Spiele, Spaziergänge durchs Moor. Konzerte auf der Tenne, Zelte im Garten. Das alles prägt die Stimmung des Festivals enorm. Aber ich will auch ehrlich sein: Es ist nicht alles einfacher auf dem Land. Die Anbindung ist schlecht, viele reisen nur mit dem Auto an – was nicht gerade nachhaltig ist. Und auch die Förderstrukturen in Schleswig-Holstein sind eher begrenzt. Wir probieren einiges, um das Avantgarde Festival und seine Teilnehmenden nicht wie ein U.F.O. wirken zu lassen – nicht wie eine Schar Aliens, die für drei Tage im scheinbar idyllischen Dörfchen notlanden. Es ist eine Annäherung. Schritt für Schritt.

Welche Rolle spielen Community, Kollektivität und Austausch bei euch – sowohl auf als auch neben der Bühne?

Ich habe das Gefühl, alles ist dazu gesagt – oder zwischen den Zeilen zu spüren. Wer’s nicht glauben oder fassen kann, sollte einfach vorbeikommen.

Letzte Frage: Welcher Song hat sich in diesem Jahr besonders bei dir festgesetzt?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Momentan bin ich in einer Phase wo ich so viele Sachen entdecke, dass ich mich eher treiben lasse und jeden Tag von neuem überrasche. Oft habe ich Hits die sich festsetzen – natürlich hatte auch ich dieses Jahr einen Ohrwurm von Kendrick Lamar’s „Not Like Us“, wer nicht – nun gerade akut bin ich jedoch total verzaubert von den Lyrics von Abbey Romeo‘s „Boyfriend Forever“!
Wenn du innerhalb des Line Ups meintest: Keine Favorit*innen! Alle Künstler*innen haben absolute Banger!

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