Hans Joachim Irmler (&Carl Friedrich Oesterhelt) im Interview

Viva Experiments, „Die Gesänge des Maldoror”

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Die Stadtkapelle Scheer in glühender Erwartung der “Gesänge des Maldoror”


Sein Verleger, der nichtsnutzige Léon Genonceaux, behauptet, Lautréamont habe „nur des Nachts an seinem Klavier“ geschrieben, „wo er laut deklamierte, wild in die Tasten schlug und zu den Klängen immer neue Verse heraus hämmerte.“ Was hat es da zu hören gegeben? Rhythmen einer Fiebernacht, geträumt als kleines Kind in Montevideo? Die Trommeln für ferne, missverstandene Dreiachtelgötter, geschändete, entwurzelte, entführte Dämonen? Schreie und Flüstern in einer Stadt im permanenten Belagerungszustand, einer Stadt, die den Tod lebt? Ein Vorgriff auf die eigenen letzten Stunden? Ein Klang, für den man immer und immer wieder nur einen Näherungswert findet, aber keine Deckungsgleichheit?

Ein paar Jahre später nur werden sich die ersten Wörter einer Maschine entringen, „Mary had a little lamb“, ein Kinderreim, Worte der Unschuld. Die alten Götter werden neu geboren; es wird noch dauern, bis sie wieder brüllen und toben und schreien wie einst in Montevideo, in Paris. Mary had a little lamb. Doch das Lamm wird zur gegebenen Zeit vom Haifischweibchen zerfetzt. Und was erst wird Mary geschehen? Lautréamont versuchte, ein Lied davon singen und es fehlten ihm nicht die Worte, wohl aber die Musik. Diese Musik, eine Musik, stellen Carl Oesterhelt und Hans Joachim Irmler jetzt den „Gesängen des Maldoror“ bei, ein kühn behauptetes 19. Jahrhundert, verwüstet durch das Wissen um das 20. Jahrhundert. Schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch.”

Aus den wunderbaren Linernotes von Karl Bruckmaier zu den „Gesängen des Maldoror“.

Am kommenden Wochenende werden Carl Friedrich Oesterhelt und Hans Joachim Irmler die „Gesänge des Maldoror“ in Scheer mit dem Stadtorchester uraufführen. Kaput sprach im Vorfeld mit Irmler.  
Später in 2017 wird es eine Veröffentlich auf Klangbad geben.

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Foto linke Seite: Hans Joachim Irmler, Foto rechte Seite: Carl Friedrich Oesterhelt mit Stringquartett

Jochen, wie kam es bei Carl Oesterhelt und dir zu der Idee, “Die Gesänge des Maldoror“ von Lauremont musikalisch weiterzudenken und was reizte euch an dem Werk besonders?
Hans Joachim Irmler: Nach der sehr gelungenen gemeinsamen Produktion „Formen“ lag es nahe, sich an etwas neuem zu versuchen. Da ich jeden Tag mit meinem Lenni spazieren gehe, komme ich desöfteren am Probelokal der Stadtkapelle Scheer vorbei. Erstaunt hat mich, nicht die erwarteten Märsche zu hören, also bin ich bei der nächsten Gelegenheit auf dem Rückweg direkt ins Probelokal gegangen und fand es bestätigt: die Stadtkapelle spielt moderne Stücke! Carl Oesterhelt und ich fanden daraufhin, es könnte spannend sein, solche vorhandenen scheinbaren Gegensätze zu manifestieren. Carl machte den Vorschlag “Die Gesänge des Maldoror” zu vertonen.

Von der „Apokalyse“, die Andre Breton in den Gesängen sah, ist bei euch nichts zu hören, stattdessen umkreist ihr den Text nach aufwühlendem Beginn mit einer so ungehörten Begegnung von leichten Noisewallungen, dramatischen Gesten wie wir sie aus der Klassik kennen aber auch vielen zärtlichen und dennoch leicht verstörten Teilen. Wie kam es zu dieser Interpretation?
Es lag nahe, das beginnende 19. Jahrhundert, egal wie aufregend und aufwühlend es zum damaligen Zeitpunkt für die Zeitzeugen gewesen sein mag, in einen zeitlichen Kontext zu heute zu setzen.Wir  haben natürlich „Bauch“-Interpretationen des damaligen Alltags nachempfunden und in die Musik einfließen lassen, zum Beispiel schön gesetzte Streicher, im Sinne der Klassik – wobei sie zusammen mit anderen Klängen irritierend zu Gehör gebracht werden. Wir wollten, ohne groß zu verstören, die damalige Aufbruchstimmung darstellen. In kürzester Zeit fanden damals, wie man heute weiß, große Umwälzungen statt.

Gesänge_CoverWie hat sich die Zusammenarbeit mit der Stadtkapelle deines Wohn- und Arbeitsortes Scheer gestaltet. Wussten sie von Anfang an sich in dem Projekt zu positionieren oder bedarf es einer sensiblen Hinführung?
Nein, die Stadtkapelle und ihr Leiter Viktor Schill waren von Anbeginn an sehr aufgeschlossen, was natürlich auch an meinem Anteil am Stadtgeschehen liegen mag, das Klangbadfestival findet ja beispielsweise seit acht Jahren hier statt und hat natürlich auch ein übriges beigetragen, die Denkweise und Gefühle ungewohnten Dingen gegenüber zu ändern.

Was dürfen die Besucher von den beiden Uraufführungen am Wochenende erwarten? Und wie wird DJ Paukner musikalisch eingebunden?
Na, Besucher und Mitwirkende sind wohl gleichermaßen gespannt und neugierig, wie die Konstellation der drei Elemente Stadtkapelle Scheer, moderne Stringquartett, Salewski, Oesterhelt und Irmler sich ausleben in diesem Kontext. Ich freue mich total, so aufregend es gleichermaßen auch ist. Michael Paukner legt intuitiv und stilsicher auf, daher freue ich mich ihn jetzt schon zum dritten Mal bei unseren Studiokonzerten erleben zu können. Viva Experimenta!

 

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