25 Jahre Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi

Kadiatou N. Diallo: „Die Kunst des unüberwindbaren Miteinanders“ & SCHWABINGGRAD/ARRIVATI über die BAUSTELLE GELD

Am Rande der Demo gegen die erzwungenen Sparmaßnahmen Athen 2012 (Copyright: Alexander Verlag Berlin)

Unglaublich, aber wahr: Das Schwabinggrad Ballett feiert sein 25-jähriges Jubiläum. Gegründet um die Jahrtausendwende als interventionistisches Kollektiv von Musiker:innen und Politaktivist:innen im Umfeld des Hamburger Buttclubs und der ehemals besetzten Hafenstraßenhäuser, entstand es aus der Unzufriedenheit mit den ritualisierten Protestformen der Linken.

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Aus diesem Anlass erscheint im März das Buch „Don’t Fuck Up“ in der Reihe Postdramatisches Theater des Alexander Verlag Berlin. Es ist als Oral History angelegt und versammelt Stimmen von Petra Barz, Mariama Diallo, Nik Duric, Jeano Elong, Ted Gaier, Chara Ganotis, Bernadette La Hengst, Sylvi Kretzschmar, Oloruntoyin Manly-Spain, Heike Nöth, Peter Ott, Tina Petersen, Jesseline Preach, Liz Rech, Christine Schulz, Margarita Tsomou, Christoph Twickel, Asuquo Udo, ergänzt durch Essays von Brother Mwayemudza (Ndindah), Kadiatou N. Diallo und Kathrin Wildner.

Das Buch dokumentiert die Aktivitäten des Schwabinggrad Balletts sowie von ARRiVATi, einer Selbstorganisation, die 2015 von Sista Oloruntoyin und Aktivist:innen in Hamburg gegründet wurde. Ursprünglich nutzte sie Kunst und Performance als Instrument für Empowerment, Bewusstseinsbildung und Widerstand gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Schnell wurde jedoch klar, dass es nicht nur um Asyl- und Migrationsfragen gehen sollte, sondern auch um die psychosozialen Herausforderungen der betroffenen Menschen.

Begleitend erscheint eine Ausstellung im Hamburger Gängeviertel. Sie dokumentiert die Geschichte des Schwabinggrad Balletts im Kontext der außerparlamentarischen Linken in Hamburg, des „Recht auf Stadt“-Diskurses und des Versuchs, Kunst, Musik und Politik über Klassen- und Privilegiengrenzen hinweg zu verbinden.

Wir freuen uns sehr, einen Essay der Buchherausgeberin Kadiatou N. Diallo – freischaffende Kuratorin, Vermittlerin und Kulturschaffende in Basel – sowie eine Passage (Baustelle Geld) aus der Oral History-Aufbereitung vorab abdrucken zu dürfen.

 

Kadiatou N. Diallo (Photo: Erik Dettwiler)

Kadiatou N. Diallo: „Die Kunst des unüberwindbaren Miteinanders“

Als sich das Schwabinggrad Ballett Anfang der Nullerjahre in Hamburg gründete, fing bei mir gerade eine neue Lebensphase in Südafrika an. Ich habe damals weder die Gründung mitbekommen noch Aktionen der Gruppe erlebt. Als ich 2016 von Kapstadt nach Basel zog, waren die #FeesMustFall-Proteste an südafrikanischen Universitäten noch in vollem Gang, ebenso wie die »Migrationskrise« in Europa, aus der ARRiVATi hervorging.

Die erste Zusammenarbeit zwischen Schwabinggrad Ballett und ARRiVATi lag damals bereits zwei Jahre zurück. Ich hatte also einiges verpasst. Aber so wie die Menschen, die sich über die Jahre bei den beiden hier präsentierten Kollektiven nicht selten über mehrere Ecken zusammengefunden haben, so kam es auch bei mir irgendwann über die Bekanntschaft mit der Schweizer Künstlerin Ariane Andereggen zu einem ersten Kontakt mit Ted Gaier und dem Ballett. (Ariane ist mit Ted liiert und selbst beim Schwabinggrad Ballett aktiv.) Aus vielen anregenden Gesprächen über Rassismus, Hegemonie, Aktivismus und die Rolle der Kunst darin ging eine Einladung zur Zusammenarbeit hervor, und im Oktober 2022 fuhr ich nach Hamburg, um die aktuell Mitwirkenden der beiden Gruppen kennenzulernen und für dieses Buch zu interviewen. Die Idee war, (m)eine Außenperspektive einzubringen. Nach zehn aufgezeichneten Interviews, unzähligen nicht dokumentierten, aber nachhallenden Gesprächen, einem Crashkurs in aktivistischer Stadtgeschichte, Sightseeings zu Aktionsstätten, etlichen Zeitreisen und Dokus, gemeinsamen Kaffeepausen und Spaghetti-Essen – nach diesen etwa72 Stunden »Achterbahnfahren mit Aussicht« war mein Kopf voller Eindrücke …

Zu den stärksten und bleibendsten gehört, dass in allen Gesprächen praktisch ausnahmslos hinterfragt wurde, wie lange das mit Schwabinggrad & ARRiVATi noch (gut) gehen kann, denn im Grunde würde es ja gar nicht wirklich funktionieren. »Eigentlich sind nur die Dinge, die nicht funktionieren, interessant«, sagte Ariane Andereggen mal in einem Interview mit Performer:innen vom collectif amifusion. Interessant sind Schwabinggrad & ARRiVATi in jedem Fall, und eben auch die Tatsache, dass es sie trotz angeblichem »Nicht-Funktionieren« immer noch gibt.

Bis auf einen kleinen harten Kern verändert sich die Zusammensetzung der Truppe ständig. Wir reden hier von mehreren Dutzenden Mitwirkenden über die Jahre. Je nach Anlass und Anliegen, je nach Kapazität und Lust zeigt das Kollektiv immer wieder neue Gesichter. Viele von ihnen kommen in den drei Hauptkapiteln dieses Buches – grob in drei Phasen unterteilt – zu Wort. Eine Art kollektive, aus subjektiven Soundbites kompilierte
und daher durchaus lückenhafte Geschichtsschreibung Die Chronik am Ende des Buches offeriert einen zeitlichen roten Faden durch ein Vierteljahrhundert Aktionsgeschichte. Zusätzlich gibt es drei Essays: Kathrin Wildner erinnert an die Anfänge und damaligen Gegebenheiten vom Schwabinggrad Ballett und wie sich performative Praktiken geformt haben; Brother Mwayemudza erklärt, wie die Community-Arbeit von ARRi-
VATi aussieht, die sich alltäglich und unabhängig von den gemeinsamen öffentlichen Aktionen mit Schwabinggrad Ballett abspielt, und dieser einführende Essay schaut von außen auf die (Zusammen)Arbeit der beiden Kollektive, aus der Perspektive einer schwarzen deutschsprachigen freischaffenden Kuratorin und Vermittlerin, die jahrelang Kunstprojekte auf dem afrikanischen Kontinent realisiert hat und sich damit befasst, wie künstlerische Praxis in der Gesellschaft zu Mobilisierung von Offenheit, Gerechtigkeit und Wissen beitragen kann.

Chöre der Angekommenen. Indiskrete Platzbefragung, Berlin, 2017  (Copyright: Alexander Verlag Berlin)

Mehr als das, was Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi in der Öffentlichkeit zeigen – zum einen die künstlerische aktivistische Arbeit, zum anderen aber auch, wie und mit welchen Erwartungen sie wahrgenommen werden – als durchmischtes und »kulturell vielfältiges «Kollektiv –, interessiert mich, was hinter den Kulissen stattfindet, wie und was verhandelt wird, wie unvermeidlich auch spannungsgeladene Dynamiken erlebt und gelebt werden, was diese auslösen und wie sie sich auswirken.

Doch zunächst braucht es Kontext: Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi sind in erster Linie ein Performancekollektiv (obwohl eigentlich zwei), das klassische aktivistische Praktiken wie Organisationsarbeit, Kampagnen, Gegenöffentlichkeit in verschiedene Bühnen diffundiert. »Bühne« bedeutet
dabei vor allem die Straße und Versammlungsräume, manchmal auch institutionelle Räume wie Theater und Konzertsäle. Performance ohne aktivistischen Zusammenhang gibt es bei Schwabinggrad & ARRiVATi nicht, oder umgekehrt zeigt sich ihr Aktivismus stets über Performance, je nachdem wie mensch draufschaut. Dass sich das Schwabinggrad Ballett zur Jahrtausendwende gegründet hat, kann kein Zufall sein. Damals entstanden sowohl im Theaterkontext als auch im politischen Aktivismus neue performative und kollektivistische Praktiken. Postdramatische Kollektive wie She She Pop, Geheimagentur, Showcase Beat Le Mot, LIGNA oder Rimini Protokoll ließen das Regietheater hinter sich, machten die Theater zu Versammlungsorten oder agierten gleich außerhalb der Theaterhäuser. Neue aktivistische Zusammenhänge wie Tute Bianche, Clowns Army, Pink Silver, Kanak Attak oder Euro-MayDay erfanden neue Formen von Militanz, Intervention und des Sich-Versammelns. Auch die Gründung von Schwabinggrad Ballett war Ausdruck dieser unruhigen Suche nach anderen Praktiken: Zum einen gab es die Performer:innen (vor
allem Musiker:innen), die runter wollten von der Bühne, zum anderen die Aktivist:innen, die die immergleichen Latschdemos
und die zahnlos gewordenen Militanzrituale überwinden wollten.

Vor gut zwei Jahrzehnten findet sich also in der Buttstraße eine Gruppe linksaktivistischer Menschen unterschiedlichster Hintergründe und Kompetenzen zusammen und fordert mit ihren öffentlichen Aktionen nicht nur die Politik und die Polizei heraus, sondern auch die festgefahrenen linken Demonstrationsmethoden selbst. Sie bedienen sich, damals wie heute, verschiedener performativer Mittel und Praktiken: Uniformierung, Maskeraden und Musikstile aller Art (Freejazz, Punk, Couper Décaler, Bikutsi, Krautrock u.v.m.), Radioplayproduktionen, Choreografien bzw. Synchronisation eines kollektiven Körpers, Raumeinnahme und -umdeutung durch das Theatralisieren ritualisierter Konfrontationssituationen,
Reenactments und Verweise auf historische Momente emanzipatorischer Kämpfe (Yippies, Black Panther, Bauernkriege), Reanimation des Straßentheaters der 1960er- und 1970er-Jahre, Dokumentartheater, Agitprop der 1920er-Jahre, Spoken Word, Tute Bianche, journalistische oder literarische Texte; das Ganze durchzogen von Ironie, Absurdität, Beschimpfung, mit dem Ziel, strategisch zu stören, Erwartungen zu brechen und Aufmerksamkeit auf soziale Missstände zu lenken. Oft mit dabei: die berühmt berüchtigte und auf dem Cover dieses Buches verewigte »Fuck-Fahne«.

Mir wurde erzählt, dass die Truppe sich damals schon für ziemlich divers hielt (»Ich dachte, wir wissen, was Diversität ist.«), aber dass, als die ersten Projekte zusammen mit Geflüchteten aus der Lampedusa-Gruppe und später mit ARRiVATi stattfanden, die Idee – oder vielmehr die Praxis – von Diversität einem drastischen Reality-Check unterzogen wurde oder werden musste. Vieles ging dann einfach nicht mehr oder nicht mehr so einfach wie vorher. Wenn Diversität so etwas wie Inklusivität, Vielstimmigkeit, Gleichstellung, Platz für alles und alle Möglichen (Menschen) suggeriert und dann in der Praxis in immer weitgreifenderen Kreisen getestet wird, stößt mensch auch mal an neue Grenzen. Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi testen ständig und, soweit ich das einschätzen kann, nicht vorrangig entlang streng kategorischer sogenannter kultureller, sozioökonomischer, linguistischer, ästhetischer, professioneller Unterschiede an sich (dafür sind sie intern wahrscheinlich mit zu viel komplexer Intersektionalität konfrontiert), auch nicht in Bezug auf spezifische politische Anliegen per se (diesbezüglich scheint grundsätzlich große Einigkeit zu herrschen). In erster Linie
wird augenscheinlich auf der Ebene von unterschiedlichen Bedürfnissen und Dringlichkeiten verhandelt – und die sind oft eng an Privilegien gebunden. Aber eins nach dem anderen …

Hierarchien gab es von Anfang an, weil es die immer gibt. Manche können abgebaut werden, andere sind scheinbar unüberwindbar. Hierarchien kommen mit ungleichen Ressourcen und uneinheitlichen Verletzlichkeiten. Für manche bedeutet Aktivismus effektiv untragbaren Lohnausfall. Manche
Körper sind, auch unter der Schutzhülle der Künstler:in, bei einer Konfrontation mit der Polizei viel größeren Risiken ausgesetzt. Manche stecken (zum Teil widerwillig) in ihren Rollen fest, zum Beispiel weil: »Wenn es die alten weißen Männer nicht machen, dann macht es keiner.« Inwieweit sich Leute (glauben) einbringen (zu) können und (das Gefühl haben) gehört (zu) werden, variiert. Die Gründe für das Kommen und Gehen sind vielfältig. Einzig auf ein strukturelles »Schwarz-Weiß«-Gefälle lässt sich das Ganze nicht einfach reduzieren (auch, wenn Schwarz-Weiß zweifelsfrei ein Riesenthema ist). Das macht ja übrigens auch den alleinigen Unterschied zwischen Schwabinggrad Ballett und ARRiVATi nicht aus (nach dem Motto: Alle Weißen beim Schwabinggrad Ballett, und alle Schwarzen bei ARRiVATi – die Grenzen sind viel verschwommener); Prekarität gibt es (unterschiedlich und manchmal kontraintuitiv) in beiden Kollektiven. Sie kommt mit Alter (verschiedenermaßen für älter und jünger), Herkunft, Gender, Elternschaft, Einkommen und Bildung, Sprache, Aufenthaltsstatus usw. – Themen, die hinter den öffentlichen Anliegen oftmals unbehandelt oder un-ausgehandelt auf der Strecke bleiben. Das wird auch von den Stimmen, vor allem im dritten Hauptkapitel, wiedergegeben. Die Verstrickungen sind komplex, und ihre Verhandlungen werden nicht zuletzt dadurch »verkompliziert«, dass die Begegnungsebene auf Freundschaften basiert und eben nicht strikt professionell oder rein politisch ist. Dieses Verkomplizieren ist meines Erachtens einer der größten Schätze von Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi.
Die Zusammenarbeit ist eben nicht abstrakt, theoretisch oder isoliert, sondern gelebt, praktisch, nah, real – mit einer Verbindlichkeit zueinander, die fordert, auf Augenhöhe miteinander zu verhandeln, zu arbeiten, zu sein.

Vieles funktioniert nach einer Art Trial-and-Error-Prinzip. Einfach mal ausprobieren und schauen, was passiert. Vor allem in der Musik scheint diese Methode als gemeinsame Sprache gut zu funktionieren. Auch kollektive Körper formen sich in diversen Choreografien im öffentlichen Raum scheinbar organisch. Die wirkliche Arbeit von Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi, ihr Alltagsaktivismus sozusagen, findet aus meiner Sicht hinter den Kulissen statt, nämlich in Form von »unverträglicher Beziehungsarbeit«. Hier muss irgendwie ausgehandelt werden – und zwar nicht prinzipiell, sondern ganz praktisch und alltäglich –, wie Gleichberechtigung und Gleichstellung aussehen; wie Solidarität und Allyship gelebt werden; was es heißt, in einer diversen Gruppe »nicht für andere zu sprechen«; wie mit Ausschluss umgegangen wird, ob der durch Professionalisierung oder »Kohle« o. ä. entsteht; wie gemeinsames Lernen funktioniert, wenn Expertisen neu verstanden und eingebracht werden; wie mensch eine gemeinsame Sprache findet für Dinge, über die nicht gesprochen werden kann. Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi haben darauf natürlich auch keine klaren Antworten. Aber vielleicht geht es eben gar nicht um ultimative Lösungen, sondern um das (Weiter)Machen miteinander als Praxis.

Chöre der Kommenden Geflüchtetenunterkunft Schnackenburgallee Hamburg, 2015 (Copyright: Alexander Verlag Berlin)

Während der Interviews habe ich mir immer wieder den Begriff »aushalten« notiert. Es geht dabei um den Frust des scheinbar Unüberwindbaren, um all das, was, wie oben erwähnt, »eigentlich gar nicht wirklich funktioniert«. Immer diese Widersprüche war mal als ein möglicher Titel für dieses
Buch im Gespräch. Er hätte auch gut gepasst. Mir scheint, dass Diversität, Gesellschaft, Zusammenleben nicht ohne Widersprüche geht und schon gar nicht ohne die Bereitschaft, sie auszuhalten. Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi setzen sich beidem aus und das auf eine ehrliche Art und Weise – mit all dem Unschönen, Ungelösten, Unproportionierten und Unmöglichen, das dazugehört. Das ist mit Sicherheit kein »Safe Space« (wie immer der in einer vielstimmigen Gesellschaft aussehen mag), aber vielleicht ein »Real Space«, der sich nicht als etwas ausgibt, das er nicht ist (»Schaut mal, so funktioniert Diversität …«).

Der Titel des Buches, „Don’t Fuck Up“, liest sich auf den ersten Blick vielleicht als ein Appell nach außen, zum Beispiel an Politiker:innen, Kapitalist:innen, Faschist:innen, Spießer:innen. Ich verstehe ihn vor allem als Aufruf, sich weiterhin – mit anderen – mit den zahlreichen gesellschaftlichen Gegensätzen und Ungleichheiten und ihren strukturellen Verkalkungen auseinanderzusetzen, sie auszuhalten, auch wenn’s schiefgeht, sprich, auch wenn (noch) keine guten Lösungen gefunden werden können, Dinge weiter zu verhandeln. Etwas akademischer ausgedrückt und nochmals mit den Worten von Ariane Andereggen, sehe ich in Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi potenziell auch den Versuch von »dekolonisierter Zusammenarbeit« – gemeinsam Unrecht aufdecken, verlernen (unlearning), einbeziehen, was ausgeschlossen wurde, neue Bezüge schaffen, Wissen verkörpern. Ich will das gar nicht romantisieren, aber in einer zunehmend polarisierten Welt macht mir vor allem der Gedanke Angst, dass Räume für verflochtene und schwierige Begegnungen verschwinden, wo es noch um etwas geht. »Eigentlich funktioniert es gar nicht wirklich«, aber Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi machen trotzdem gemeinsam weiter, und vielleicht ist das die Kunst des unüberwindbaren
Miteinanders.

Demo gegen Asem-Gipfel Hamburg 2007 (Copyright: Alexander Verlag Berlin)

SCHWABINGGRAD/ARRIVATI über die Baustelle Geld

Heike: Das war damals für mich die anstrengendste Aktion. Den ersten Probentag haben wir im Sitzkreis viele Stunden streitend verbracht – es ging um Geld.

Sista Oloruntoyin: Am Anfang hieß es: Oh ja, wir sind alle gleich. Und ich musste dann diejenige sein, die sagt: Nein, ihr seid nicht gleich. Er kann nirgendwo bleiben. Er ist von euch abhängig, weil ihr ihm eine Unterkunft bietet. Ihr gebt ihm Arbeit, und er braucht dieses Geld, weil er für die Import-
Export-Läden in der Billstraße oder auf der Baustelle arbeitet und seine hundert Euro Tageslohn an seine Frau und Kinder nach Hause schickt. Und wenn man dann sagt, es gibt einen Gig für fünfzig Euro, dann ist das für ihn ein Verlust.

Christoph: Mit den Lampedusa-Leuten war die Sorglosigkeit in Sachen Geld vorbei. Davor hatten wir gesagt: Wir haben 3000 Euro, okay, lass uns mal nach Griechenland fliegen, das reicht ja für die Flüge. Jetzt mussten wir zumindest den Lohnverlust kompensieren, damit die Lampedusen mitmachen
konnten. Unbezahlte Kunstproduktion konnten die sich nicht leisten.

Heike: Es ging auch um Arbeitszeiten; wir mussten aushandeln, für wen wann Feierabend ist.

Nik: Schwabinggrad lässt sich historisch in zwei Abschnitte teilen, nämlich vor dem Geld und nach dem Geld. Das eine ist aktivistisch-politische Support-Arbeit oder Alliance-Building, das andere so Zeug mit Kultur-Subventionen.

Liz: Der Kulturbereich ist halt in Deutschland leider unterfinanziert. Und das verschärft sozusagen unsere Schizophrenie,
dass wir auf der einen Seite sagen, wir wollen spontane aktivistische Aktionen machen, die nicht an Kulturinstitutionen angedockt sind, die also außerinstitutionell funktionieren, und auf der anderen Seite haben wir aber ganz klar Leute am Start, die wirklich Kohle verdienen müssen.

Jesseline Preach: Cool dieses »Jeder bekommt das Gleiche«. Wenn es aber wirklich so ein faires Ding sein soll, dann gibt’s da noch andere Kriterien. Wenn du alleinerziehend bist, kostet dich alles viel mehr Planung, Organisation. Außerdem sehe ich auch gar nicht ein, dass wir das gleiche Geld verdienen, wenn es Leute gibt, die jeden Monat schon ein dickes Gehalt bekommen, dann möchte ich mehr haben. Für manche ist es ja nur ein Hobby, die sind auf das Geld nicht mal angewiesen.

Ted: Da gibt es kein Entrinnen vor dem Privilegien-Gap. Das fängt ja schon bei der Frage an: Was ist ein förderungswürdiges Kunstprojekt? Da ist der institutionelle Rassismus schon eingeschrieben. Wer nicht in Deutschland sozialisiert ist, ist da definitiv ausgeschlossen. Also werden die Anträge von den Whities im gewünschten Antragsjargon und den Projektlogiken geschrieben – so wie die Institutionen das erwarten. Und das zwingt dann die, die diese Arbeit machen, weil sie halt jemand machen muss, in eine ganz beschissene Rolle.

Nik: Wenn Geld rüberrutscht, wird erstmal tagelang in ermüdenden Zoom-Sitzungen über die Verteilung gesprochen. Die Europäer sagen »Sozialismus«, jede:r kriegt das Gleiche. ARRiVATi sagt: »Nein, es geht um Bedürfnisse!«; dann sagen die Alleinerziehenden auch »Nein«, und die Diskussion geht von vorne los.

Brother Mwayemudza: Diese Fragen, wie die Gelder fair aufgeteilt werden und auf welcher Grundlage, gehören zu den Dingen, die man immer wieder neu verhandeln und auch checken muss, – inwieweit dabei Privilegien reflektiert werden oder ob das in so einem Wunschdenken nach Egalität einfach untergeht.

 

Cover „Don’t Fuck Up“ (Copyright: Alexander Verlag Berlin)

Ausstellung:
„Don`t fuck up  – 25 Jahre Schwabinggrad Ballett & Arrivati“
Performative MOM art space, Fabrique im Gängeviertel,  Valentinskamp 34A (Eingang über die Speckstrasse) / 20355 Hamburg
14. – 16.3.2025
Mehr Informationen: https://momartspace.com
· Fr, 14.03.25 / 19h Vernissage; um 20h performative Lesung mit Mitgliedern der Kollektive Schwabinggrad Ballett & Arrivati
· Sa, 15.03.25 / 12-20h Ausstellung; 18h Diskussion zum Thema Zukunft der intervenierenden Künste
· So, 16.03.25 / 19h Finissage

Buch:
Kadiatou N. Diallo (Hrsg.): „Don’t Fuck Up – Schwabinggrad Ballett & ARRiVATi“ (Alexander Verlag Berlin)

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